Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

WM-Taumel statt Sozialproteste?
Eine Kurzbilanz zur politischen Sommerpause..

08/2018

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Zu Hunderttausenden gingen die Menschen auf die Straße. Der Anteil der jungen Generationen dabei war hoch, auch der Migrantenanteil schien beträchtlich. Anweisungen der Sicherheitskräfte wurden des Öfteren ignoriert. Es kam zu Ausschreitungen, bei denen im Land insgesamt 292 Menschen festgenommen wurden. In den Pariser banlieues war der Verkehr auf den Bus- sowie Straßenbahnlinien am Spätnachmittag eingestellt worden, so dass viele Einwohner/innen in ihrer Mobilität eingeschränkt wurden.

Nein, die Rede ist an dieser Stelle nicht von den Sozialprotesten in Frankreich im Laufe der vergangenen Monate, sondern vom vorigen Sonntag Abend, den 15. Juli d.J. Nach einem angespannten Endspiel - und trotz anfänglich mehrheitlich kroatischen Ballbesitzes - war die französische Nationalmannschaft, zum zweiten Mal seit 1998, Fußballweltmeister geworden. Auf den Straßen feierte daraufhin eine bunt gemischte Menge mehr oder minder ausgelassen. Unter die zahlreichen blau-weiß-roten mischten sich dabei am frühen Abend laut Beobachtungen des Verf. dieser Zeilen auf den Champs-Elysées auch algerische, brasilianische und andere Fahnen. Neben Vive la France ertönte mitunter auch Vive l’Afrique, was der familiären Herkunft eines guten Drittels der Bleus entspricht.

Auch wenn die französische Bevölkerung – welcher Abstammung auch immer – als relativ protestfreudig gilt, blieb die Mobilisierung zu den sozialen Protesten im Frühjahr und Frühsommer 2018 dahinter weit zurück. Die seit dem 03. April 18 in einem vorab festgelegten Rhythmus, an zwei Tagen im je fünftägigen Zyklus, streikenden Eisenbahner konnten sich anders als bei vielen früheren Arbeitskämpfen nicht durchsetzen: Am 27. Juni dieses Jahres unterzeichnete Staatspräsident Emmanuel Macron das Gesetz zur künftigen Bahnreform. Es beinhaltet die Einführung privatrechtlicher Arbeitsverträge und läuft de facto, auch wenn die Regierung es hartnäckig leugnet, auf eine Privatisierung hinaus. Einschlägige Dokumente aus Regierungs- und Bahnvorstandskreisen, die im Mai 2018 durch die Boulevardzeitung Le Parisien publiziert wurden, belegen es und widersprechen den offiziellen Beteuerungen. Auch der studentische Protest scheiterte in diesem Frühjahr 18: Er konnte die Einführung eines Auswahlverfahrens in Gestalt des Dispositivs Parcoursups nicht verhindern. Letzteres stellt die allgemeine Hochschulreife mit dem Abitur in Frage und lässt, neben Noten, auch etwa subjektive Bewertungen „durch Schuldirektor und Klassenlehrer“ im Rahmen einer als undurchsichtig geltenden Prozedur einfließen.

Während die Oberschüler/innen den dagegen streikenden Teilen der Studierenden im Protest überwiegend nicht folgten, sondern sich ab Juni dieses Jahres auf das Abitur konzentrierten, lief sich der Protest tot. Zu einer letzten Demonstration im Rahmen der Sozialproteste der letzten Monate, zu welcher am 28. Juni d.J. die Gewerkschaftszusammenschlüsse CGT, FO und Solidaires – erstmals seit zwei Jahren – wieder gemeinsam aufrief, kam in Paris nur eine dreistellige Teilnehmer/innen/zahl.

Das klingt erstaunlich; denn die Kombination aus Arbeitskämpfen insbesondere bei der Eisenbahn und Studierendenprotesten galt noch in jüngerer Vergangenheit als explosiv und wurde durch die Regierungen gefürchtet. Eine ähnliche Kombination verhinderte etwa im Herbst 1986 den bisher letzten Versuch, unter dem damaligen Premierminister Jacques Chirac und während der PrÄsidentschaft François Mitterrands, den Universitätszugang einzuschränken. Millionen gingen damals im Kontext unterschiedlich motivierter, doch zeitgleicher Protestbewegungen auf die Straße.

Ähnliches wiederholte sich im Herbst 1995. Damals präsentierte Premierminister Alain Juppé unter dem nunmehrigen Präsidenten Chirac ein Maßnahmenpaket, das unter anderem einen - ungefähr mit der jetzt auf dem Tisch liegenden „Reform“ der SNCF zu vergleichenden – Angriff auf die französische Eisenbahn enthielt. Damals sollten 11.000 Streckenkilometer Bahnlinien als nicht ausreichend lukrativ verschwinden. In diesem Jahr sind es „nur“ 9.000 Kilometer, allerdings verschwanden einige Strecken auch bereits im Rahmen kleinerer Einsparungsmaßnahmen in den 2000er Jahren. Auch war die Deckelung der staatlichen Gesundheitsausgaben ein Bestandteil des „Reform“pakets, eine Hochschulreform zählte ebenfalls dazu.

Nach einem dreiwöchigen Streik nicht allein der Bahnbeschäftigten, sondern aller öffentlichen Dienste (Post, Energiesektor, Nahverkehr) sowie der Studierenden musste die damalige Bahnreform ersatzlos zurückgenommen werden. Alles, was die Regierung Juppé in den kommenden anderthalb Jahren anfasste, misslang ihr: Bei jeder neuen Ankündigung einer größeren „Reform“ folgte ein Aufschrei, und binnen einer Woche war sie vom Tisch. In jener Phase 1996/97 bildete sich ferner eine Massenbewegung aus Solidarität mit den „illegalisierten“ Einwanderern oder Sans papiers, und die Gewerkschaften - vor allem ihr stärkster Dachverband, die CGT- vollzogen genau damals einen Positionswechsel: Hatte die CGT bis dahin und seit den 1970er Jahren „illegale Zuwanderung“ als Quelle einer Gefahr des Sozialdumpings abgelehnt und bekämpft, schrieb sie nun die allgemeine Solidarität und den Kampf für Rechtsgleichheit aller Lohnabhängigen als Gegenmittel gegen ein solches Dumping auf ihre Fahnen. Dies machte einen Unterschied ums Ganze in der gesamtgesellschaftlichen Debatte aus.

Bis zu 150.000 Menschen gleichzeitig demonstrierten allein in Paris im Februar 1997 gegen eine damalige Verschärfung im Ausländerrecht. Von solchen Zuständen lässt sich heute nur träumen – die ebenfalls von vielen Initiativen und NGOs getragene Mobilisierung gegen die drastische Verschärfung vor allem des Asylrechts, die seit April 2018 im französischen Parlament debattiert wird, zog in ihren Hochphasen bis zu 3.000 Menschen bei Kundgebungen an.

Damals, vor gut zwanzig Jahren, schien die gesamte französische Gesellschaft in Gärung zu geraten. Unterbrochen wurde diese immer breitere Kreise umfassende Mobilisierung durch den Regierungseintritt der Sozialdemokratie infolge der vorgezogenen Parlamentswahlen vom Mai und Juni 1997; Letztere hatte die Regierung Juppé anberaumt, weil sie nicht mehr ein noch aus wusste. Die Sozialdemokratie unter ihrem nunmehrigen Premierminister Lionel Jospin als Spitzenkandidat hatte viele der Forderungen der sozialen Protestbewegungen übernommen – so lange sie sich in der Opposition befand. An der Regierung führte sie die kapitalistischen „Tagesgeschäfte“ weitgehend ungebrochen fort.

Dennoch blieb Frankreich aus Sicht von Teilen der europäischen Bourgeoisie ein „Sorgenkind“, denn manche tiefgreifenden regressiven Umwälzungen im Sinne des Kapitals konnten hier nur in kleinen Schritten und mit Bedacht umgesetzt werden.

Ein weiteres Motiv kommt derzeit hinzu, gilt es zu erklären, warum Präsident Emmanuel Macron zu schaffen scheint, was seinen Vorgängern misslang. Anders als etwa der in vielen Vorhaben gescheiterte Präsident Chirac weist er nicht die Legitimationsschwäche auf, die daraus erwächst, vor und nach den Wahlen jeweils gegenteilige Dinge zu erzählen. Jacques Chirac war am Ende von vierzehn Jahren sozialdemokratischer Präsidentschaft François Mitterrands, die die etablierte Regierungslinke vorübergehend restlos diskreditiert hatte, als Kandidat um seine Nachfolge angetreten. Wählen ließ er sich jedoch faktisch mit einem weitgehend sozialdemokratischen Wahlkampfdiskurs, in dem Bemühen, die Lücke aufzufüllen, welche der damals bereits kriselnde Parti Socialiste (PS) hinterlassen hatte. Dies hatte auch zur Ursache, dass neben Chirac ein weiterer Kandidat aus seinem eigenen konservativ-wirtschaftsliberalen Lager antrat, der damalige Premierminister Edouard Balladur, von dem er sich profilmäßig absetzen musste. Vier Monate nach seiner Wahl, also kurz nach der Sommerpause, setzte er sich im September 1995 ins französische Fernsehen und verkündete folgende Botschaft: Tut mir leid, Leute, aber eine von mir angeordnete Bilanz der Staatsfinanzen zeigt, dass ich die Probleme unterschätzt hatte. Aus dem angekündigten Politikwechsel wird leider nichts werden – und tschüs dann, danke für Ihre Aufmerksamkeit. Solcherart Verschaukelung, wie sie in breiten Kreisen angesehen wurde, kam nicht gut an.

Emmanuel Macron kann sich zugute halten, bereits vor den Wahlen im Frühjahr 2017 das meiste von dem, was er heute tut, auch so oder ähnlich angekündigt zu haben. Dies gilt allerdings nicht für die SNCF-Reform, für die übrigen Maßnahmen hingegen schon.

Wie es geht es nun weiter, und wird Macron weiterhin mit dem Bulldozer die vom Kapital gewünschten „Reformen“ umsetzen können? Die nähere Zukunft steht nicht fest, doch Emmanuel Macron würde sich sicherlich täuschen, würde er davon ausgehen, dass er nun ohne Widerstände durchregieren kann.

Als nächste sind umfassende Umbaumaßnahmen bei Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenkasse geplant. In ihrem Rahmen plant Macron unter anderem, bei einer für demnächst geplanten Verfassungsreform – die insbesondere der Verkleinerung des Parlaments um ein Drittel, und der faktischen Einschränkung der Oppositionsrechte dienen soll – die Erwähnung des Sozialversicherungssystems Sécurité sociale im Verfassungstext zu streichen. Dies würde den Sozialkassen ihre bisherige höchstmögliche juristische Garantie nehmen. Seit einigen Wochen führten Ankündigungen, wonach die Witwenrenten, die vor allem in einer älteren Arbeitergeneration die oft einzige Einkommensquelle von (Hinterbliebenen-)Haushalten darstellen, abgeschafft werden sollen. Macron dementierte dies bei seiner Rede vor den beiden, zum „Kongress“ im Versailler Schloss versammelten Parlamentskammern , bei der er sich verbal für einen „Sozialstaat des 21. Jahrhunderts“ stark machte. Er sprach davon, die bisherigen Bezieherinnen und Bezieher sähen ihre Pensionen garantiert. Was allerdings auch bedeuten kann, wie der linksnationalistische Oppositionspolitiker Jean-Luc Mélenchon argwöhnt, dass sie für all diejenigen, die etwa ab dem kommenden Jahr eine Pension beziehen könnten, gestrichen werden.

Der Kampf um die Sozialkassen, die in ihrer heutigen Form direkt eine Errungenschaft der Résistance im Zweiten Weltkrieg und des aus ihr resultierenden „Programm des Nationalen Widerstands (CNR)“ darstellen, könnte u.U. mit großer Verbitterung geführt werden, falls die Regierung den Eindruck erweckt, hier nun wirklich historische Errungenschaften zu attackieren. Derzeit hält sie sich noch bedeckt und verweist auf ein- bis anderthalbjährige „Vorbereitungsgespräche mit den Sozialpartnern“, die zum Gutteil noch zu führen seien, bis zu einer Verabschiedung im Hochsommer 2019.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung eines Artikels, der in Kurzfassung in der Wochenzeitung Jungle World vom 19. Juli 18 erschienen ist.