Rojava
Universitäts-Symposium abgeschlossen

Nach dem Symposium zur Weiterentwicklung demokratischer und freier Universitäten in Nordsyrien ist eine Abschlusserklärung zu den Ergebnissen der Versammlung veröffentlicht worden.

08/2018

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Vergangenen Freitag und Samstag (20./21.7.) fand im nordsyrischen Qamişlo ein Arbeitstreffen statt, auf dem die Grundlagen einer demokratischen und freien Universität im System der Demokratischen Nation diskutiert wurden. Auf der Versammlung wurde über die Akademien im Mittleren Osten und der Welt, die Geschichte der Universitäten, die Veränderungen in diesem Modell bis heute gesprochen und sich mit dem Bildungssystem an den Hochschulen, der ökonomischen Situation und dem Prüfungssystem auseinandergesetzt.

Die Ergebnisse des zweitägigen Arbeitstreffens wurden in einer Erklärung mit 16 Paragraphen veröffentlicht:

„Am 20. und 21. Juli 2018 fand an der Universität von Rojava der Workshop „Demokratische und Freie Universität statt.“ Das Symposium war von der Universität Rojava, der Universität Kobanê und der Universität Efrîn gemeinsam vorbereitet worden. Es ging um die Fragen: Was ist die Rolle der Universitäten und Akademien in der Demokratischen Nation; auf welchen Grundsätzen bauen wir eine Wissenschaft mit einem demokratischen Paradigma und Universitäten auf? Was sind die historischen Entwicklungen der Universitäten des Mittleren Ostens und der Welt? Wie muss die Leitung einer autonomen, freien und sich ökonomisch selbstversorgenden Universität aussehen?

Auf dem Symposium ging es auch um Lehrmethoden, um ein Bewertungssystem anstelle des Prüfungssystems und um eine demokratische Leitung. Die Ergebnisse unseres Workshops sind folgende:

1. Der Mittlere Osten ist eine Region, die für die Menschheit viele Errungenschaften des Wissens hervorgebracht hat. Die Bildungsmethoden dieses Erbes müssen untersucht werden. Die wissenschaftlichen Errungenschaften des Westens, der die Wissenschaft der Welt für sich beansprucht, dürfen nicht als ausreichend angesehen werden, falsche Methoden und Wege der Bildung müssen vermieden werden.

2. Die wissenschaftlichen Aufgaben einer freien Universität:

a) Der Schutz der Gesellschaftlichkeit, die von Vernichtung durch das kapitalistische System bedroht ist. Um die Gesellschaftlichkeit zu schützen, müssen die Werte, über die sich eine Gesellschaft definiert, richtig herausgearbeitet werden. Die moralisch-politische Gesellschaft wird massiv angegriffen. Die erste Aufgabe muss sein, sich der unethischen Kollaboration zwischen Wissenschaft und Macht zu verweigern und diese zu kritisieren.

b) Die Gesellschaftswissenschaften sind die Basis aller Wissenschaften. Wissen und Wissenschaft beziehen ihre Quellen aus der Gesellschaft. „Weder die Wissenschaften der ersten Natur; die Physik, die Astronomie, Chemie und Biologie noch die der zweiten Natur; der Literatur, der Philosophie, der Kunst und Ökonomie können jemals die Führung übernehmen. Sie können die Wahrheit nicht abbilden. Diese Wissenschaften können nur in Verbindung mit den Gesellschaftswissenschaften Wahrheit erreichen.“

c) Wenn wir die Gesellschaftswissenschaften als Grundlage aller Wissenschaften nehmen, müssen wir uns auch mit den Kritiken an diesen auseinandersetzen. Einer der Hauptkritikpunkte an den Sozialwissenschaften ist die Perspektive auf die Frauenfrage. In der Politik, der Ökonomie, der Geschichte, der Medizin und vielen anderen Bereichen muss die Realität von Frauen untersucht und ans Licht gebracht werden. Die Sozialwissenschaften werden durch diese Revolution eine bedeutende Wirkung entfalten. Die Jineologie [Frauenwissenschaft] kann sich mit dem Wissen und der Erfahrung der kurdischen Frauenfreiheitsbewegung zu einer Sozialwissenschaft aus Frauenperspektive entwickeln. Wenn die Gesellschaftswissenschaften die Beziehungen zwischen Männern und Frauen auf der Grundlage der freien Partnerschaft richtig untersuchen, dann kann dies einen großen Schritt bedeuten.

d) Mit der freien Universität und Akademie können wir eine Revolution der Institutionalisierung der Wissenschaft vollziehen. Die erste Revolution des Denkens der Menschheit wurde nach Gordon Childe im Neolithikum vollzogen. Abdullah Öcalan bezeichnet diese Revolution als Revolution der Frauen. Die zweite Revolution des Denkens fand im ionischen Griechenland statt. Sie wurde von unabhängigen philosophischen Akademien angeführt. Die dritte Revolution fand in manchen islamischen Medressen und in manchen Klöstern statt. Die vierte Revolution war die Revolution der Aufklärung und der Renaissance. Auch jetzt ist eine Wissens-Revolution notwendig. Im Rahmen des Paradigmas der Demokratischen Moderne können die Ideen der Positivismuskritik gesammelt werden.

3. Die ökonomische und wissenschaftliche Unabhängigkeit der Universitäten ist ein universeller Grundsatz. Wenn er nicht erfüllt wird, können die Universitäten nicht der Gesellschaft dienen, sondern werden im Gegenteil zum Werkzeug der Herrschenden. Die Selbstorganisierung der Universitäten insbesondere im ökonomischen Bereich und ihre Selbstgenügsamkeit sind ihr Erfolg. Das wichtigste ist, dass sich die Universitäten auf akademische Forschung, Spezialisierung und freies Denken stützen. 

4. Die autonome Universität basiert auf der Grundlage des Schutzes des ökologischen Lebens, der Verteidigung der Frauenfreiheit und der demokratischen Beteiligung. Sie leistet Widerstand gegen Rückständigkeit und das kapitalistische System.

5. Freie Bildung muss in der Lage sein, bei den Studierenden eine praktische Lösungskraft zu schaffen, um sich auf der Basis moralischer Grundsätze zu bewegen. Die Lehrenden müssen eine richtige Beziehung zu den Studierenden aufbauen und für die Entwicklung einer Liebe zur Bildung bei den Studierenden und eigener Stärke, Selbstdisziplin, Selbstorganisierung, Selbstverwaltung, Verantwortlichkeit und kommunale Arbeit sorgen.

6. Bildung bedeutet nicht, leere Geister mit Informationen zu füllen. Eine Person muss lernen, wie sie Informationen bewertet, wie sie für ihre Produktion arbeitet und wie sie Forschungen anstellt. Es muss ein Bildungssystem aufgebaut werden, dass nicht das Auswendiglernen, sondern die Analyse- und Lösungsfähigkeit stärkt.

7. Die durch Macht geformte Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden muss in eine demokratische, freie Beziehung transformiert werden.

8. Vor allen Dingen müssen die Türen der Universitäten für die gesamte Vielfalt der Gesellschaft offen sein. Darüber hinaus müssen die demokratischen Werte im Mittelpunkt stehen.

9. Die Universitätsleitung darf keine straffe hierarchische Struktur sein. Ohne Zweifel ist Autorität notwendig, aber die Autorität muss demokratisch sein. Demokratische Autorität bedeutet Kraft und Wissen ohne Herrschaft. Um eine demokratische Basis zu schaffen und den Willen von Frauen zu stärken, gibt es ein System der Ko-Vorsitzenden und der Frauenautonomie.

10. Wissen und Ideen kann nur an Orten fern von der Herrschaft unter freien Bedingungen erfolgreich sein. So wie ein trockener und harter Boden keine Pflanzen wachsen lässt, kann sich unter den Bedingungen von Herrschaft kein Wissen und keine Wissenschaft entwickeln. Unter den strengen Bedingungen der Geschichte der Herrschaft haben wir unzählige Situationen bezeugen können, die von Dogmen und anderen gesellschaftlichen Krankheiten infiziert waren.

11. Damit alle Wissenschaftler*innen und Wissensinstitutionen an der Universität eine eigene Position vertreten und an Forschungsmöglichkeiten, Prozessen und Entscheidungen teilhaben können, wird eine entsprechende Diskussionsgrundlage geschaffen. Die Tür für Kreativität und Initiative muss offenstehen. Autonomie und Demokratie können an der Universität auf diese Weise verwirklicht werden.

12. Ohne Zweifel sind die Studierenden die entscheidendsten Elemente einer Universität.  Es werden alle Bedingungen und Möglichkeiten vorbereitet, damit die Studierenden vom Unterricht und der Professionalität auf beste Weise profitieren können. Sie stellen die lebendige Zukunft unserer Gesellschaft dar.

13. Es werden die Bedingungen geschaffen, damit die Studierenden ihr legitimes Recht wahrnehmen können, mit ihrem eigenen Willen und mit eigener Stimme an der Leitung der Universität teilzuhaben.  Es werden keine Mauern der Hierarchie zwischen Leitung und Studierenden oder zwischen Studierenden und Lehrenden aufgebaut. Insbesondere die Leitung soll offen dafür sein, die Forderungen und Bedürfnisse der Studierenden umzusetzen.

14. Die Studierenden werden die gleichen Möglichkeiten zur Teilnahme an gesellschaftlichen, kulturellen, akademischen und sportlichen Aktivitäten haben.

15. Alle Arbeiten der Universität werden unter dem Grundsatz „die Zeit und die Möglichkeiten auf beste Weise nutzen“ ohne komplizierte Bürokratie umgesetzt. Sie werden einfach, schnell und fließend sein. Dem Wesen der Aufgaben entsprechend soll eine Arbeitsteilung stattfinden. Das wichtigste ist die Verantwortlichkeit. Natürliche Verantwortlichkeit sollte ein Grundsatz des Lebens sein.

16. An der Universität und insbesondere für die Leitung sollten Expertise, Verdienste, Fähigkeit und Reife entscheidend sein.

Auf unserem Symposium wurde betont, dass für die freie Universität noch mehr Diskussion, Untersuchung und Bildung notwendig ist. Als ein unterdrücktes Volk, dass keine Möglichkeit hatte, Bildung in seiner eigenen Muttersprache zu erhalten, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir mit der freien und demokratischen Universität ein Beispiel aufbauen können.“

Quelle: ANFNEWS vom 23.7.2018