Die Gründung der 43 Group
Antifaschistischer Kampf  in Großbritannien 1946-1950

von Morris Beckman

08/2018

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Makkabi Haus. Eine große viktorianische Villa mit vielen Räumen in West Hampstead, Heimat des Londoner Zweiges des ersten und bedeu­tendsten jüdischen Sportvereins. Das Haus erlebte die Rückkehr von Mitgliedern, die Jahre vorher in den Krieg gegangen waren. Unter diesen Rückkehrern waren frühere Kriegsgefangene der Nazis und der Japaner, RAF-Crews, die ihr Glück genossen, überlebt zu haben, Angehörige der Kriegs- und Handelsmarine, wie ich selbst, und Veteranen fast aller Truppengattungen. Es gab Juden, die zusammen mit den Alliierten gekämpft hatten, ein Dutzend Polen bildete die größte Gruppe unter ihnen, und da niemand aus ihren Familien überlebt hatte, wollten sie nicht nach Polen zurückkehren. Mit zweien von ihnen, sie waren an der Erstürmung und Eroberung der Nazi-Festung Monte Cassino beteiligt gewesen, freundete ich mich an. Sie hatten bei ihren früheren Waffenka­meraden einen solch starken Antisemitismus erfahren, daß Polen ihnen verhaßt war. Zwölf Makkabäer kerirten nie zurück.

Die überschwengliche Freundlichkeit, die in der Vorkriegszeit im Makkabi Haus geherrscht hatte, war verschwunden. An ihre Stelle war eine gedämpfte Atmosphäre getreten, die die Ermüdung und Unsicherheit der Nachkriegszeit widerspiegelte. Die Toleranzschwelle der Ex-Sol­daten war niedrig, und zwischen ihnen und den jüngeren Mitgliedern, die nicht gekämpft hatten, bestand eine unangenehme Spannung. Die ehe­maligen Soldaten in ihren schlechtsitzenden Entlassungsklamotten, die sich unbeholfen dem Vakuum der Friedenssituation anzupassen versuch­ten, hatten wenig gemeinsam mit den extrovertierten, lauten Jugendlichen in >Zoot-Suits<, einer damaligen häßlichen Mode: Schenkellange Jackets, verschönert durch verschlungene Silberketten, die von der Brusttasche bis in Kniehöhe herunterbaumelten. Die Hosen, sackförmig von der Taille bis zum Knie, verengten sich an den Knöcheln zu 35 cm breiten Säumen. In stillschweigendem Einverständnis hielten sich die ehemaligen Soldaten in den zwei Klubräumen vor der Kantine auf, während sich die Zoot-Suit-Träger anderswo trafen.

Die jüdischen Ex-Soldaten begannen über die faschistischen Ver­sammlungen, die plötzlich in jüdischen Wohnbezirken wie Hackney, Edgware und Stamford Hill abgehalten wurden und über antisemitische Plakate, die dort aufgetaucht waren, zu reden. Sie betrachteten das neue Anwachsen des Faschismus mit einem müden Dejävu-Gefühl. Befangen im Zivilleben und sensibel gegenüber dem Konflikt zwischen ihren früheren Mitkämpfern bei den britischen Truppen, und den Juden in Palästina, fragten sie sich, ob sich überhaupt irgendwas zum Besseren gewendet hatte.(1) Aus dem Kino zu kommen, wo in der Wochenschau die Leichen jüdischer Männer, Frauen und Kinder in den Konzentrations­lagern gezeigt wurden, die von Bulldozern in Kalkgruben geschoben wurden, und dann draußen an Faschistenversammlungen vorbeizukom­men oder Hakenkreuze an jüdische Häuser oder Synagogen geschmiert zu sehen, führte bei den ehemaligen Soldaten zu Gefühlen, die von cholerischer Wut bis zu einem kalten, übermächtigen Wunsch reichten, diese Verbrecher zu töten. Diese Wut wuchs und verbreitete sich unter ihnen.

Das Hauptthema der Gespräche war Palästina, die Flut der jüdischen Überlebenden, die versuchten, dort hinzugelangen und die Anstrengun­gen der britischen Streitkräfte, diese Flut einzudämmen. Es gab unauf­hörlich hitzige Diskussionen zwischen denen, die sich mehr britisch als jüdisch fühlten und denen, deren Solidarität völlig auf der Seite der jüdischen Überlebenden lag. Es war eine schmerzhafte doppelte Loyali­tät. Aber alle, egal welcher Ansicht sie waren, waren sich voller Schmerz der Tatsache bewußt, daß in den letzten sechs Jahren zu viele Juden umgekommen waren. Als der Labour-Außenminister Ernest Bevin erklärte »Die Juden sollten nicht versuchen, sich an die Spitze der Schlange zu drängen«, konnten die Juden selbst nur an die Schlangen vor den Gaskammern denken.(2) Bevin traf einen bloßliegenden Nerv und verursachte einen zweitägigen Aufstand in Tel Aviv, bei dem sechs jüdische Zivilisten von britischen Soldaten erschossen wurden. Im Mak-kabiklub brachte dieser Vorfall einige Ex-Soldaten aus der >mehr britisch als jüdisch<-Fraktion auf die andere Seite. Es erreichten uns auch Berichte über die ersten Juden in der britischen Armee in Palästina, die sich weigerten, gegen ihre Glaubensgenossen vorzugehen. Die Armee verhängte nur leichte Strafen und versetzte die Beschuldigten. Diese Vorfälle zeigten, woher bei den Juden auf der ganzen Welt der neue Wind wehte, und wir alle wurden davon beeinflußt.

Was uns aber vor allem verrückt machte, war das Ausmaß der Greuel in den Konzentrationslagern, das jetzt enthüllt wurde. Es erfüllte jeden der Ex-Soldaten mit einem verzehrenden Gefühl der Scham, daß niemals Versuche unternommen worden waren, die Gefangenen in den Lagern zu retten. Luftwaffenangehörige hatten keinen Zweifel, daß es möglich gewesen wäre, durch gezielte Angriffe Gaskammern, Verbrennungsöfen und SS-Baracken zu zerstören. Frühere Fallschirmjäger und Angehörige der Special Forces machten geltend, daß durch den Einsatz von Luftlan­detruppen gegen die Lager viele Menschen hätten gerettet werden kön­nen, aber das war nie versucht worden. Kampferprobte Männer verließen das Kino, weil sie diese Wochenschauen nicht ertragen konnten. Mit ansehen zu müssen, wie die Royal Navy schrottreife Kähne aus Grie­chenland und der Türkei, vollgestopft mit den kranken und gebrochenen Überlebenden der Lager, aufbrachte, und diese hilflosen Menschen dann in den Wochenschauen von Pathe Gazette und Movietone auf Zypern eingesperrt hinter Stacheldraht wiederzusehen, schien Abgründe der Inhumanität aufzutun. Und während all das passierte, saßen wir kaffee­trinkend im Makkabi Haus und überlegten, ob wir uns einen schönen Abend im West End machen sollten. Wir fühlten uns nutzlos.

Es war fast eine Erleichterung, als Ernest Bevin, ungeachtet der Op­position aus beiden Seiten des Parlaments und eines Teils der britischen Presse, die Internierung jüdischer Führer in Palästina anordnete. Das führte zu einem fast hundert Meter langen Protestzug, der in der Com-mercial Road begann, über Gardiners Corner ging und am Trafalgar Square mit Reden endete. In den vorderen Reihen gingen Sam Klampf, Sergeant bei den Fallschirmjägern, der in Arnheim(3) gekämpft hatte, Gerry Flamberg, ebenfalls Fallschirmjäger, der bei Arnheim verwundet und später ausgezeichnet worden war, Professor Brodetsky, der frühere U-Bootmatrose Tommy Gould, Träger des Viktoria-Kreuzes, und ein amerikanischer Infanteriesoldat, der auf seine Entlassung und den Trans­port nach Hause wartete. Auf dem ganzen Weg schlossen sich immer mehr Menschen der Demonstration an: Männer und Frauen, Jugendliche in Zoot-Suits und Arbeiter, Juden und Nichtjuden, und zahllose Soldaten und Soldatinnen der Alliierten, der Briten und des Commonwealth. Gelegentlich hörte man einen höhnischen Pfiff, aber im großen und ganzen war das Schweigen der zuschauenden Menge weit davon entfernt, feindselig zu sein.

Obwohl die Ereignisse im Ausland uns bereits genügend erregten, be­schäftigten uns die untrüglichen Zeichen eines wiederauflebenden Fa­schismus in unserem eigenen Land mehr. Eine Sammlung faschistischer Literatur war ins Makkabi Haus gebracht worden. Wir alle waren Zeugen der öffentlichen Faschistenversammlungen gewesen, auf denen die Redner >Weg mit den Juden< und >Brennt die Synagogen nieder!< brüllten und wir alle hatten die Hakenkreuze und die Buchstaben >PJ< (Perish Judah) mit dem Blitzsymbol dazwischen an den Mauern von Synagogen und anderen jüdischen Einrichtungen gesehen. Jetzt kam es zu den ersten Zwischenfällen.

Anfang Januar 1946, nachdem Dame Sybil Thorndyke das New Yid-dish Theatre in der Adler Street, in Ostlondon, besucht hatte, waren die Mauern mit antijüdischen Parolen und den Blitzsymbolen der Faschisten beschmiert. Wir reichten die Ausgabe der The Truth vom 4. Januar herum, die von Colin Brooks, dem ehemaligen Sekretär Lord Rotherme-res, herausgegeben wurde. Darin forderte Brooks die Juden auf, das Land zu verlassen und ihre Wohnungen den zurückkehrenden britischen Sol­daten zu überlassen. Der stellvertretende Chefredakteur von The Truth war A. K. Chesterton, der vor dem Krieg Action, das offizielle Organ der BUF, geleitet hatte.

Ich erinnere mich, daß ich an einem kalten, nassen Januarabend 1946 mit meinem Cousin Harry Rose, der gerade aus der Armee entlassen worden war, an der Ecke der Star Street in Kilburn stand. Harry war Sergeant in General Wingates Kommandotruppe gewesen, die hinter den japanischen Linien in Burma operiert hatte. Sein Krieg war hart gewe­sen. Harry blieb der Mund offen stehen, als er dem faschistischen Red­ner auf der Tribüne zuhörte, dann rief er:

»Dem Arschloch stopf ich das Maul!«

»Tu das nicht!«, ich hielt ihn am Arm fest, »die Polizisten da drüben können dich festnehmen, wenn du die öffentliche Ruhe< störst, Zwi­schenrufe, Schlägereien, die Plattform umstoßen, alles kann dich in den Knast bringen.«

»Das ist es verdammt nochmal wert«, knurrte Harry und setzte hinzu: »Tut denn niemand was dagegen?«

»Das fragen wir uns alle«, antwortete ich. »Was man tun kann, und wie man es am besten anfängt.«

In diesen frühen Tagen lebten die Faschisten in einem Hochgefühl. Sie wußten, daß sie vor gerichtlicher Verfolgung sicher waren und daß die Polizei sie schützte. Opposition gab es kaum. Aber, ohne es zu ahnen, waren sie dabei, einen Orkan zu entfesseln. Die britischen Juden des Jahres 1946, besonders die Ex-Soldaten unter ihnen, waren von einem anderen Kaliber als die jüdische Gemeinde der Vorkriegszeit. Die Men­talität des >duck-dich-und-geh-schnell-nach-Hause< war verschwun­den. Das Gefühl, das sich in der Losung >Niemals wieder!< ausdrückte, verbreitete sich in jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt und erfaßte genau die neue Stimmung. Mitglieder von Makkabi berichteten über faschistische Kundgebungen an neuen Plätzen: Brockwell Park, Clapham Common, Church Hill, Walthamstow und Chapel Market in Islington. Die Frustration stieg, und eine unbehagliche nervöse Unruhe lag in der Luft. Dann, am letzten Februarsamstag 1946, abends, passierte das Unvermeidliche.

Gelangweilt vom Kaffeetrinken und von ziellosen Gesprächen quetschten sich vier von uns in meinen Ford Prefect und fuhren auf einen Drink und einen Szenenwechsel zum Jack Straw's Castle in Hampstead Heath. Es waren Gerry Flamberg, Alec Carson, ein Ex-RAF-Lieutenant, der mit einem hohen Luftwaffenorden ausgezeichnet worden war, Len Sherman, ehemaliger Soldat bei den Welsh Guards, trainierter Ringer und Judoexperte, und ich. Ich hatte auf See gedient. Als wir zum Whitestone Pond hochstiegen, sahen wir, daß dort, auf der Wiese neben dem Teich, eine Kundgebung im Gange war. Ein großer Union Jack, der über der Tribüne flatterte, zeigte uns, daß die Faschisten bis hierher gekommen waren.

»Zu Befehl«, sagte Alec, »die 18b Regulation Füsiliere sind da!« Das Podium trug die Aufschrift >The British League of Ex-Servicemen and Women< und davor verkauften vier muskulöse junge Männer Exem­plare von Britain Awake. Ungefähr 60 Leute hatten sich versammelt. Wir parkten den Wagen und schlenderten zum Rand der Menge.

Der Sprecher war Jeffrey Hamm, ein Vorkriegsmitglied der BUF und 18b-Internierter. Er war ein großer, magerer, haßerfüllter Mann, mit dünnen, zurückgekämmten blonden Haaren und angespanntem Gesicht. Seine einzige Zielscheibe waren >die Fremden in unserer Mitte<, diejeni­gen, die >auf dem Schwarzmarkt fett geworden waren<, während >unsere Jungs< in fremden Ländern im Kampf gestorben waren. Ein älterer deutscher Jude neben mir griff nach meinem Arm.

»Hat sich denn nichts geändert, nach all dem was passiert ist?«

»Vergeßt die Drinks«, murmelte Gerry, »jetzt geht's los!« Plötzlich drängte er sich durch die Menge und auch wir drängelten uns Seite an Seite nach vorne. Wir erreichten die vorderste Reihe des Publi­kums — Juden und NichtJuden, jung und alt — alle wirkten eher ver­wirrt als sonstwas. Wir traten den Ordnern entgegen.

»Die Plattform gehört mir«, wisperte Gerry.

»Ich nehme die zwei links«, antwortete Len. Alec und ich suchten uns jeder ein Ziel aus. Len ging zu seinem Paar und tat so, als ob er in seiner Tasche nach Kleingeld suchte, er sagte:

»Ich nehme zwei von diesen Britain Awake.« Dann, mit der blitzartigen Geschwindigkeit des Trainierten, packte er die Köpfe der beiden und knallte sie zusammen. Ich hörte den dumpfen Ton und sah sie zu Boden gehen. Gerry stürzte die Rednerplattform um und ich sah, wie Hamm rückwärts ins Gras fiel. Eine Frau kreischte. Ich trat meinen Gegner zwischen die Beine und er krümmte sich vor Schmerzen. Alec kämpfte mit seinem Widersacher, der sich losriß und zwischen Bäumen und Büschen hindurch in Richtung der West Heath Road den Berg hinunterrannte.

Die Menge zerstreute sich schreiend in alle Himmelsrichtungen, ein gebeugter Hamm schleppte seine Plattform und die Fahne zu einem grauen Lieferwagen. Der Ordner, den ich getreten hatte, verdrückte sich bis zu den Bäumen, wo er stehenblieb und uns zuschrie: »Judenschwei­ne! Wir kriegen euch, wartet bloß ab!« Gerry stieß ein triumphierendes Gebrüll aus und rannte auf ihn zu. Der Ordner verschwand in der Pflan­zenwelt. Wir riefen Gerry zurück. Nur der ältere deutsche Jude war geblieben und bestand darauf, jedem von uns die Hand zu schütteln. Dann drängte er: »Haut ab, Jungs, los, bevor die Polizei hier ist. Haut ab!« Er schubste uns buchstäblich zum Auto. Die Fahrt zurück zum Makkabi Haus war fast ausgelassen, in unserem Hochgefühl redeten wir alle durcheinander.

»Einfachste Sache der Welt, oder?«, sagte Len. »Wie war's bei dir, Alec?«

»Das ist ja alles schön und gut, wenn man so fit ist wie ihr Saukerle, aber Flugzeuge fliegen war eher eine sitzende Beschäftigung«, antwortete Alec.

»Dafür hätten wir einfahren können.« »Dann wird es Zeit, daß die Gesetze geändert werden!« »Ich habe gehört, daß sie in der ganzen Stadt Versammlungen abhal­ten.«

»Dann haben wir eine Menge zu tun!«

Die pure Bösartigkeit des Redners hatte uns dazu gebracht, zu handeln. Dies war die erste Nachkriegskundgebung der Mosley-Anhänger, die durch physische Gewalt beendet wurde. Zurück im Makkabi Haus er­götzten wir die anderen, die sich voller Neid wünschten, sie wären dabeigewesen, mit unseren Erlebnissen. Bis jetzt waren mutige Einzelne, die bei Faschistentreffen energisch protestiert hatten, zusammengeschla­gen und gelegentlich auch noch festgenommen worden, aber an diesem Abend im Makkabi Haus breitete sich eine neue erregte Stimmung aus. Ohne es zu wissen, hatten wir den Weg vorgezeichnet: Die Faschisten konnten und mußten angegriffen werden, aber auf organisierte und disziplinierte Weise.

Wir beriefen an einem Wochentag in der ersten Märzwoche im Mak­kabi Haus eine Versammlung ein und suchten uns dafür einen wenig genutzten Raum. Wir unterrichteten die Verwaltung nicht davon und kündigten das Treffen nicht öffentlich an. Die von uns Informierten sollten einfach Gleichgesinnte mitbringen. 38 Ex-Soldaten und 5 Frauen tauchten auf. Unter ihnen war Joe Zilliacus, ein Freund von Gerry, der Offizier bei der Marineinfanterie gewesen war und dessen Vater La­bourabgeordneter für einen Glasgower Wahlbezirk war. Joe war kein Jude. Aber er leitete später viele Angriffe auf faschistische Straßen- und Saalveranstaltungen.

Dieses erste Treffen war gedämpft und erwartungsvoll, alle Anwe­senden wußten, daß diese Organisation sie in sehr stürmische Gewässer führen konnte. Gerry gab einen mitreißenden Bericht über den Vorfall am Whitestone Pond und darauf folgte die allgemeine Diskussion. Ein Jurastudent stellte klar, daß die vier, die die Kundgebung gesprengt hatten, wegen Landfriedensbruch, Verstoß gegen den Public Order Act, schwerer Körperverletzung und Gott weiß was noch hätten verhaftet und angeklagt werden können. Sie hätten zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden können und als vorbestraft gegolten. Wären alle hier bereit, dieses Risiko einzugehen?

»Wärst du?«, brüllte jemand.

»Nach drei Jahren mit der 8. Armee in Afrika, Sizilien und Italien ist die Antwort ja — ich bin nicht besonders glücklich darüber, aber, ja, ich wäre verdammt nochmal dazu bereit!«

Er bekam Beifall. Sein Beitrag bestimmte den Stil der weiteren Diskus­sion. Einige betonten, daß das Jewish Defence Committee (JDC) des Board of Deputies sich des Wiederauflebens des Faschismus genau bewußt sei und von ihnen sicher Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Außerdem veranstaltete AJEX eigene Straßenkundgebungen, um den jüdischen Standpunkt zu vertreten.

»Verteidigen, verteidigen, immer nur Verteidigung«, protestierte Jackie Graham, ein stämmiger Ex-Soldat mit der härtesten Faust außerhalb eines Boxrings. »Dieses ewige Verteidigen macht mich krank, wenn man mit denen fertigwerden will, dann muß man sie angreifen!«

Alec Black, ein Infanterieoffizier, der am D-Day in Frankreich gelan­det war und die schweren Kämpfe von La Falaise und Caen überlebt hatte, ergriff das Wort. Ruhig und deutlich stellte er fest, daß die Juden immer eine integrierte und gesetzestreue Gemeinschaft gewesen waren, und daß daher das jüdische Establishment keine Aktivitäten gutheißen könne, die möglicherweise gegen das Recht verstießen.

»Kurz gesagt«, sagte Alec nüchtern, »das Verteidigungskomitee kann nur verteidigen, es muß die Gesetze einhalten und kann daher noch nicht mal stillschweigend dulden, daß die Faschisten angegriffen werden, wenn das bedeutet, Gesetze zu brechen. Also müssen wir das tun, was ihnen nicht möglich ist.«

Alle Anwesenden waren in ihren Zwanzigern, unverheiratet und noch nicht beruflich etabliert. Ein Taxifahrer bot für jeden, der es benötigte, sein Taxi an, egal ob tagsüber oder nachts, und fügte hinzu, daß einige seiner Kollegen dasselbe tun würden. Ein Drucker bot an, zum Selbst­kostenpreis zu drucken, ein Arzt, ein Baugutachter, Elektriker, ein Funk­techniker und zwei Besitzer von Autowerkstätten, alle stellten ihr be­rufliches Wissen und ihre Dienste zur Verfügung. Wir machten eine Liste der Ressourcen und Fähigkeiten der Mitglieder, die sie umsonst und auch zu den unmöglichsten Zeiten anboten. Nach eineinhalb Stunden wurde die Diskussion beendet und Alec Black faßte die Ergebnisse zusammen.

»Wir sind uns darüber einig, daß wir eine Organisation gründen, um die Faschisten zu bekämpfen. Diese Organisation ist nicht politisch festgelegt. Alle, die Faschismus und Antisemitismus bekämpfen wollen, egal welcher politischen Anschauung, sind willkommen. Außerdem ist allen klar, daß die Mitglieder das Risiko eingehen, bei den möglicher­weise gewalttätigen Konfrontationen verletzt, vielleicht sogar schwer verletzt, oder festgenommen zu werden. Wenn also irgend jemand hier nicht mitmachen will, soll er oder sie freundlicherweise den Raum verlassen und niemand wird es ihnen übelnehmen.« Niemand rührte sich. Er wiederholte den Vorschlag, aber immer noch stand keiner auf.

»Also«, fuhr er fort, »alle Anwesenden wollen mitarbeiten?«

»Verdammt nochmal, klar wollen wir!«, brüllte ein stämmiger junger Mann, »deswegen sind wir doch verdammt nochmal hier, oder was?« Gelächter löste die Spannung, und dann legte der provisorische Grün­dungsausschuß die beiden Ziele fest, die vorher umrissen worden waren.

  • Den Kampf gegen die emporkommenden Faschisten aufzunehmen, mit dem Ziel, sie zu vernichten.
  • Das Parlament dahingehend zu beeinflussen, rassistische Hetze unter Strafe zu stellen und als Verbrechen zu behandeln, das mit einer Freiheitsstrafe geahndet wird.

Beides wurde begeistert angenommen. Jetzt kam die Suche nach einem Namen, eine ausgelassene Diskussion, in der die Vorliebe der Faschisten für großspurige Namen imitiert wurde. Endlich rief eine erschöpfte Stimme:

»Um Himmelswillen! Es ist doch nicht wichtig, wie wir uns nennen sondern was wir tun! Wir sind 43 Leute hier, also nennen wir uns >The 43 Group<! Ich muß auch mal nach Hause!«

»Und ich könnte einen Kaffee vertragen«, rief jemand anders, »ich unterstütze >The 43 Group<!«

Dieser Vorschlag fand einmütige Zustimmung. Die Faschisten hatten die Arena nun nicht mehr für sich allein.

Anmerkungen

1) Die jüdischen Ex-Soldaten fühlten sich zwei Seiten gegenüber loyal: gegenüber den britisch-Truppen, mit denen sie gekämpft hatten und gegenüber denjenigen Überlebenden des Holocaust, denen jetzt verwehrt wurde, sich ein neues Leben aufzubauen.
2) Pressekonferenz zu Palästina, 1. März 1946
3) Eine in GB bekannte Militärkatastrophe: September 1944 versuchten britische Fallschirmjäger die Rheinbriicke bei Arnheim (NL) zu erobern, um ein schnelleres Vorankommen der Alliierten nach Deutschland zu ermöglichen. Das britische 2. Armeekorps schaffte es jedoch nicht, nach Arnheim durchzubrechen, und die Truppen dort wurden von Einheiten der Waffen-SS belagert und nach 4 Tagen äußerst erbitterter Kämpfe besiegt.

Editorische Hinweise

Morris Beckman, The 43 Group, Antifaschistischer Kampf in Großbritannien 1946-1950, Berlin 1995, S. 22-30

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