Aus den Augen, aus dem
Sinn: Wieder einmal hat die französische Innenpolitik bewiesen,
dass sie in der Lage ist, die Ärmelkanalküste rund um Calais von
das Bild störenden Migranten zu „säubern“ – ohne das geringste
Problem zu lösen.
Am Mittwoch, den 02. Juli 14 räumten ein Großaufgebot
von Polizisten und Gendarmen um sechs Uhr die
Essenausgabestelle, die Ehrenamtliche und Aktivisten mehrerer
Initiativen für Flüchtlinge eingerichtet hatten. 610 Personen
wurden vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen, drei
vorläufig festgenommene Initiativenmitglieder nicht
mitgerechnet, und auf Polizeiwachen in der gesamten Region
verteilt. In ihrer Mehrheit handelt es sich um Eritreer und
Sudanesen, die zwei der übelsten Diktaturen in Afrika entflohen
sind, sowie um Menschen aus den Bürgerkriegsländern Syrien und
Afghanistan.
An der Ärmelkanalküste hoffen sie inständig
auf eine Gelegenheit, nach Großbritannien
übersetzen zu können, um sich dort ein neues Leben aufzubauen.
Mehrheitlich streben sie nach danach, einen Flüchtlings- oder
sonstigen Aufenthaltsstatus in Kontinentaleuropa zu erlangen,
sondern es zieht sie nach England. Aus sprachlichen Gründen –
Englisch ist bei ihnen verbreiteter als andere europäischen
Sprachen, zumal im Sudan und in Afghanistan oder auch im Irak,
die alle drei dereinst durch die Briten kolonisiert wurden -,
weil sie dort bereits Familie oder Bekannte haben. Und auch,
weil im seit einem Vierteljahrhundert neoliberal
durchstrukturierten Großbritannien
der Arbeitsmarkt durchlässiger ist. Das bedeutet zwar mehr
Ausbeutung, oft überlange Arbeitszeiten und wenig Sicherheit für
die Beschäftigten. Aber eben auch vielfach Möglichkeiten für
Migranten mit oder ohne Aufenthaltsdokumenten, irgendwo einen
Platz im sozialen Gefüge zu finden.
Die britischen Behörden tolerierten dies
anfänglich einmal. Doch unter dem Druck einer öffentlichen
Meinung im eigenen Land, der die Politik irgendwelche „Erfolge“
ihres Handelns präsentieren muss, verschrieben auch sie sich dem
Kampf gegen „illegale Migration“ – ist deren demonstrative
Bekämpfung doch einfacher, als zu versuchen, etwa die
Finanzfirmen in der City of London unter Kontrolle zu bekommen.
Im Jahr 2002 vereinbarten die damaligen Innenminister auf
britischer und französischer Seite, Jack Straw und Nicolas
Sarkozy, ostensiv die Schließung
des Lagers in Sangatte, zwölf Kilometer von Calais entfernt.
Dort hatte das Rote Kreuz eine Notunterkunft eingerichtet, die
für 800 Personen geplant, jedoch in jenem Jahr real von 1.800
Personen belegt war. Durch das Dichtmachen des Lagers wurden sie
vertrieben, aber ohne ihnen eine Perspektive zu geben. Deswegen
bildeten sich neue, dieses Mal nicht von Hilfsorganisationen
betreute und mit sanitären Lagern ausgestattete „wilde“ Lager.
Das wohl bekannteste von ihnen war der „Jungle“ in einem Außenviertel
von Calais, der seinerseits 2009 geräumt und abgerissen wurde.
In jüngster Zeit hatten sich zunächst zwei
Zeltlager mitten in der Stadt Calais gebildet, das eine umfasste
85 und das andere 120 Zelte, am Rande eines Kanals. Das Gebiet
wurde immer stärker zum Brennpunkt, seitdem vor allem im
vergangenen Frühjahr eine rechtsextreme Bürgermiliz immer wieder
versuchte, die Gemüter vor Ort zum Kochen zu bringen. Das
Kollektiv Sauvons Calais!
(„Retten wir Calais“!) bedrohte die Lager, sammelte
Unterschriften dagegen und rief die Bürger zur so genannten
„Selbsthilfe“ auf. Anführer der Gruppierung ist Kévin Rèche, der
unverhohlen ein auf seine Haut eintätowiertes Hakenkreuz
spazieren trägt.
Am 13. April rief seine Gruppe zusammen mit
der Jeunesse identitaire („Identitäre Jugend“), der
Jugendorganisation des Bloc identitaire – eine außerparlamentarisch
und stark auf Agitprop setzende faschistische Organisation – zu
einer Demonstration in Calais auf. Allerdings gab es einen
Gegenaufruf aus antirassistischen Gruppen sowie der
Hausbesetzerszene, an jenem Sonntag zu einer Gegendemonstration
zu mobilisieren sowie das ganze Wochenende über Gegenaktivitäten
zu organisieren. Die rechtsextreme Demonstration wurde daraufhin
„aufgrund von Sicherheitsbedenken“ verboten. Sauvons Calais
wird zudem verdächtigt, mit den Schüssen in Verbindung zu
stehen, mit denen ein Beschäftigter im Sicherheitsgewerbe in der
Nacht vom 12. zum 13. Juni aus einem Schrotgewehr abfeuerte.
Zwei Sudanesen wurden dabei im Abstand von zwei Stunden
gefährlich verletzt, der Prozess des Schützen begann am Montag
dieser Woche (07. Juli).
Auch ansonsten steht
die Stimmung in Calais unter Druck. Seit 2002 verzeichnet auch
der Front National überdurchschnittliche Wahlergebnisse in der
Gegend, bei den diesjährigen Europaparlamentswahlen etwa erhielt
er in Calais 31 Prozent.
Unterdessen wollen die Migranten lediglich
die Möglichkeit erhalten, auf Zeit menschenwürdig unterzukommen,
bevor sie das Übersetzen nach England versuchen. Eine Minderheit
von ihnen wagt die Überfahrt es auf Floßen
treibend oder durchschwimmt sogar den Ärmelkanal mit
Schwimmflossen, während die Mehrzahl versucht, an den
Einladestellen zu den Fähren oder an der Einfahrt zum Eurotunnel
auf die Verladeflächen von LKWs zu gelangen. Nur einer kleinen
Minderheit gelingt dies, und viele Fahrer sind inzwischen mit
Stöcken ausgestattet. Aber aufgrund der großen
Zahl von gleichzeitig Anstürmenden an den Warteschlangen für
LKWs entgehen mitunter einige eingestiegene blinde Passagiere
der Aufmerksamkeit von Polizei oder Fernfahrern.
Viele geben es aber
mit der Zeit auch einfach auf und resignieren, zumal die oft
mafiösen Schleuser- der „Schlepper“organisationen – deren
Geschäftsgrundlage die Prohibitionspolitik gegen Grenzübertritte
darstellt – ihr Territorium brutal behaupten und es auszudehnen
versuchten. Konnten früher Migranten oft noch wählen, ob es sie
auf eigene Faust versuchten oder aber ihre Chancen zu verbessern
trachteten, indem sie Schleuser bezahlten, schlage Letztere
heute oft diejenigen zusammen, die nicht zahlen und auf ihre
Dienste zurückgreifen wollen. Ihr Zugriff hat die
Lebensverhältnisse in den Durchgangslagern noch verschlechtert
und viele zusätzlich entmutigt. Aber jene, die es immer wieder
versuchen, brauchen angeblich im Durchschnitt zwischen einem und
fünf Monaten, um den Durchschlupf nach England zu finden.
Am 27. Mai 14 wurden die beiden Zeltlager in
Calais geräumt, unter dem Vorwand, eine dort grassierende
Krätzeepidemie zu bekämpfen. Da die Migranten aber keine
sonstige Perspektive hatten, überquerten sie einfach die Straße
und ließen
sich in der Essenausgabestelle der Initiative „Salam“ zum
Schlafen nieder.
Rund 300 Personen
übernachteten dort. Die neuerliche Räumung am vorigen Mittwoch
geht nun allerdings mit dem Versuch einher, die Personen für
längere Zeit aus dem Raum Calais zu entfernen – jedenfalls in
den Augen der lokalen Öffentlichkeit, der dies vorgespiegelt
wird. Zwei Drittel der Festgenommenen wurden nach kurzer Zeit
wieder freigelassen, jedoch 210 Personen auf Abschiebezentren in
mehreren Teilen Frankreichs verteilt. Niemand wurde jedoch in
das Abschiebegefängnis Coquelles gesteckt, das nur sechs
Kilometer von Calais entfernt liegt. Stattdessen wurden die
Menschen nach Lille, aber auch ins westfranzösische Rennes, ins
lothringische Metz, nach Rouen in der Normandie sowie in den
Raum Paris entsandt und auf mehrere Abschiebzentren verteilt.
Dort blieb aber nur
eine kleine Minderheit. Eine kleine Gruppe von Afghanen wurde
nach Italien zurückgeschoben, wo sie in die EU eingereist waren
und einen Asylantrag gestellt hatten, um sie nicht sofort beim
Grenzübertritt abgelehnt zu werden. Die Eritreer in den
Abschiebehaftanstalten rund um Paris wurden am Montag früh (07.
Juli) wieder freigelassen, was die Behörden den
Solidaritätsinitiativen bereits am Wochenende angekündigt
hatten. Ebenso kamen zehn Afghanen aus Palaiseau in der Nähe von
Paris bis zum selben Tag frei, und im Laufe des Montag weitere
44 Afghanen im Raum Paris.
Sie werden bald wieder
auf den Migrantenrouten unterwegs sein, und aller
Wahrscheinlichkeit nach in Kürze auch wieder im Raum Calais
auftauchen. Die Räumung und Zwangsverschickung in andere Teile
Frankreichs sollte sie davon abschrecken. Aber wer etwa vor dem
Terrorregime Eritreas fliehen konnte und zwei Dutzend Länder
durchquert hat, wird sich davon kaum abhalten lassen.
Am Samstag, den 12.
Juli demonstrierten rund 400 Personen in Calais gegen
Polizeigewalt, Behördenwillkür und für das Bleiberecht. Am
Vortag hatte das UMP-geführte Rathaus von Calais eine kommunale
Verordnung erlassen, die sowohl das Übernachten in Zelten als
auch Menschenansammlungen verbieten werden soll. Heuchlerisch
erklärte ein Rathaussprecher am Freitag, den 11. Juli in einem
Radiointerview bei ,France Inter’, die Verordnung der
Bürgermeisterin betreffe „aber nicht allein Migranten, sondern
alle Personen“ in vergleichbarer Situation. Weil ja sonst so
furchtbar viele Menschen in Calais in Zelten leben...
Editorische
Hinweise
Den Artikel erhielten wir vom Autor für
diese Ausgabe.
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