Spricht man mit seinen mehr oder
weniger geschätzten Kolleginnen und Kollegen über die Absurdiäten
des Welt-Kapitalismus, über die wahnwitzige soziale Polarisierung
zwischen Armen und Reichen, die Rücksichtslosigkeit und
Kurzsichtigkeit mit der das Kapital die natürlichen Grundlagen
menschlichen Lebens auf diesem Planten plündert, die Brutalität,
mit der gesellschaftliche Lebensformen zerstört werden (aktuell
etwa der Völkermord an den afrikanischen Buschmänner, die kecker
Weise Landstriche besiedeln, unter denen man Diamanten vermutet),
die nicht mit Kapitalverwertung kompatibel sind, so gelangt man
hin und wieder schon an einen Punkt, wo es um die Möglichkeit und
Notwendigkeit radikaler Gesellschaftsveränderung geht.
Doch ach, spätestens jetzt wird es
heikel, plötzlich ist sie da, „die Natur des Menschen“ und erhebt
sich drohend als übermächtiges Bollwerk gegen jede Form sozialer
Emanzipation. Man weiß nicht so genau, worin diese ominöse „Natur
des Menschen“ eigentlich besteht, dafür ist mensch sich aber ganz
sicher, das alle Formen bürgerlicher Subjektivät, die sie
kennzeichnenden Bedürfnisse wie die Art sie zu befriedigen,
schnurstracks eben dieser „Natur des Menschen“ entspringen. Zu
dieser „Natur des Menschen“ gehört vor allem, das die Individuen
von Natur aus ungleich sein. Damit dementiert sich die angerufene
Natur des Menschen schon mal ein Stück weit selbst, denn wenn alle
Menschen von Natur aus ungleich sind, dann kann es eine „Natur des
Menschen“ nicht geben, oder diese reduziert sich auf die
Feststellung von Unterschieden. Die natürlich Ungleichheit ist
aber nur ein ziemlich plattes gedankliches Werkzeug, um die
moderne Form der sozialen Ungleichheit zu erklären. Ausbeutung,
Herrschaft und Unterdrückung , ungleiche Verteilung des Reichtums
etc. alles ergibt sich auf wunderbare Weise aus der naturhaften
Ungleichheit der Individuen.
Die „Tüchtigen“ sitzen eben oben
auf!
Selbstverständlich haben die
Menschen ein „natürliches“ Bedürfnis nach Mobilität, nach Reisen
aber auch nach Sesshaftigkeit. Man weiß nichts mehr von
menschlicher Gesellschaft, für die Sesshaftigkeit den Untergang
bedeutet hätte (Nomaden), weshalb ihnen das Bedürfnis danach eher
„spanisch“-fremd (das „spanisch“ ist auch wörtlich zu nehmen)
vorgekommen ist. Zum Beweis der Widernatürlichkeit des
Nomadenlebens wurde und wird den Nomaden ihre Existengrundlage
genommen. Das Streben nach privatem Besitz an Grund- und Boden
entspricht „der wahren Natur des Menschen“ und setzt sich
„natürlich“ durch.
Anders herum machte und macht man
den Bauern Beine. An der „Scholle“ kleben, sich durch Bearbeitung
dieser Scholle selbst versorgen? Is nich! Diese Bauern waren
einfach zu sesshaft. Es kam ihnen Jahrhunderte lang nicht in den
Sinn, das Land zu verlassen, auf der Suche nach neuen
attraktiveren Existenzmöglichkeiten (etwa in dunklen, lauten,
dreckigen Fabrikhallen) durchs Land zu vagabundieren, sich dabei
womöglich noch aufhängen lassen, wie in England, um schließlich in
den Slums von Großstädten zu stranden, wo sie wieder ein bisschen
sesshaft werden durften und dürfen. Selbstverständlich immer nur
auf Abruf, den sie müssen dem „natürlichen“ Strom des
Kapitalflusses folgen.
Der moderne Kapitalismus, die
bürgerliche Demokratie beruhen auch ganz wesentlich auf
Völkermord. Ihrem „natürlichen“ Trieb folgend, machten sich
europäische Menschen – sozusagen die Fleischwerdung der „Natur des
Menschen“ – auf, um Lebensraum damals im Westen zu gewinnen. Sie
stießen dabei auf die nord- und südamerikanischen Indianer,
Spezies, die zwar dem Menschen ähnelten, die aber den Teufel als
Taufpaten gehabt haben mussten. Sie entsprachen ganz und gar nicht
der „Natur des Menschen“ besiedelten aber Land, das gebraucht
wurde, damit „die Entdecker“ das schöne Amerika schaffen konnten,
wie wir es heute kennen, mit all seinen Offenbarungen „der Natur
des Menschen“ (Mord und Todschlag, bis zur restlosen Verblödung
gereifte Religiosität, ausgedehnter Konsum weiterer Drogen). Dass
diese menschenähnlichen Wesen im Süden des amerikanischen
Kontinents an Gold gekommen waren, bedeutete eine ungeheure
Vergeudung, Zweckentfremdung und Provokation. Die europäischen
Menschen allein wussten, das Gold „von Natur aus“ Geld ist und
seinem natürlichen Zweck zugeführt werden muss. Dies wiederum
konnte nur ihnen vorbehalten sein, denn die „wahre Natur des
Menschen“ kann sich erst dann frei entfalten, wenn die „wahre
Natur des Goldes“ entdeckt ist und als Geld das Räderwerk der
kapitalistische Akkumulation anstoßen und schmieren kann.
Es ist heute soweit gekommen,. dass das Kapital selbst zur
eigentlichen „Natur des Menschen“ geworden zu sein scheint. Die
Menschen sind (nicht nur freundlich) aufgefordert, sich dieser
Natur anzupassen. Will sagen: das gesamte menschliche
Zusammenleben muss so organisiert werden, dass es der
Kapitalverwertung förderlich ist. Wer störrisch sich dagegen
verwahrt, wird platt gemacht, weil er „naturwidrig“ handelt. Dem
Tüchtigen („Leistungsträger“) die Vorfahrt. Die vom
Markfundamentalismus besoffenen Profiteure der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse treiben die Menschwerdung des Affen weiter
bis zur Umwandlung der Menschen in Ökonomen. Das Streben nach
Bereicherung, die „Privatisierung“ des gesellschaftlichen Lebens
in der Form der schrankenloser Öffnung für renditegeile
Geldanleger, die unablässige Produktion neuer Bedürfnisse durch
die Produktion von Waren, die im Zweifelsfall so überflüssig sind
wie ein Kropf, die ausschließliche Anerkennung menschlicher
Bedürfnisse in der Gestalt zahlungsfähiger Nachfrage, die
„Versorgung“, „Bereicherung“ und Sättigung auch der intimsten
menschlichen Beziehungen und Erlebnisfelder mit Waren
(Durchstylung der Individuen bis hinein ins Bett, im Extremfall:
man kann sich nicht mehr riechen ohne Parfum, man kann sich nicht
mehr anschauen ohne Verkleidung und Maske; Vermarktung von Sex in
Prostitution und Pornographie) usw. das alles liefert uns die
beste aller denkbaren Welten und entspringt flux aus der „Natur
des Menschen“. Man muss den Menschen nur die „Freiheit“ geben,
dann schaffen sie das alles (angeblich) von selbst. Auch ohne die
Suche nach profitabler Anlage für private Geldmassen, die „von
Natur aus“ dafür bestimmt sind, sich selbst zu vermehren? Auch
ohne „Geschäftssinn“ (was für ein Wort! Als ob Geschäft irgend
etwas mit Sinnlichkeit zu tun hätte!)? Schaffen die Menschen das
nicht, dann müssen die „Tüchtigen“ eben ein bisschen nachhelfen,
muss ein Markt auch schon mal gewaltsam „geöffnet“ werden. An der
„Naturwüchsigkeit“ des Militärs kann nun wirklich niemand
zweifeln. Bomber und Bombe gehörten schließlich von Anfang an zu
den liebsten Spielzeugen der Pygmäen. Schon die Jäger und Sammler
träumten vom VW Touareg.
Was heißt schon Geschichte, wo
wir doch deren Ende in „Natürlichkeit“ erreicht haben?
Ja, wenn die „Natur des Menschen“
soziale Befreiung ausschließen würde, dann könnte es mehr oder
weniger schnell zu Ende gehen mit der Geschichte der Menschheit.
Es gehörte immer zu den vornehmsten Aufgaben der Mächtigen jedes
Streben nach sozialer Emanzipation von scheinbar „gottgewollten“
oder „natürlichen“ (was von besondern Koriphäen des bürgerlichen
Geistes auch schon mal gleichgesetzt wurde und wird)
Gesellschaftszuständen als Vergehen wider die „Natur des Menschen“
zu denunzieren. Je elender diese Zustände, je offenkundiger ihre
Unerträglichkeit, je stärker der Wunsch nach sozialer
Emanzipation, desto heftiger das ideologische Trommelfeuer.
Vor dem Hintergrund des Scheiterns
eines „Kommunismus“ dessen gesellschaftliche Praxis einer blanken
Verhöhnung sozialer Befreiung von den bedrückenden „Sachzwängen“
der Kapitalverwertung gleichkam, fällt es den Ideologen der
kapitalistischen Marktwirtschaft leicht, sich „ideologiekritisch“,
„pragmatisch“ zu geben. Aber dieser angebliche „Pragmatismus“
bedarf der Heraufbeschwörung der „Natur des Menschen“ wider alle
Bestrebungen nach sozialer Emanzipation, um seine Wirksamkeit
entfalten zu können.
Editorische
Anmerkungen
Peter
Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine
Kommentare zum Zeitgeschehen.
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