Die Ursache des Klimawandels ist unser
"mangelnder Glaube an Gott". Sagt Kardinal Meisner. Die Theorie
ist originell; eine andere besagt, dass die Menschen sich in
Krisenzeiten gern in Irrationalismen flüchten. Und so haben denn
Astrologen, Kristallschamanen, Wahrsager und Gurus Konjunktur.
Ebenso wie der Feuilleton-Katholizismus:
Der Spiegel attackierte jüngst Wissenschaftler und
Philosophen, die gegen die Restauration der Religion auf dem
ungeschmälerten Welterklärungsmonopol der Wissenschaft bestehen.
Gehirnforscher zerstörten den "Raum des Geheimnisses, als wäre
unsere Zeit nicht schon an sich ausgenüchtert genug", Biologen
wie Richard Dawkins "machen etwas kaputt", raubten uns die
metaphysische Verankerung des Menschen, ohne die, so der Papst
und Bischof Huber, die Menschheit fatal enden werde.
Das metaphysische Gestammele liegt schräg
neben einer anspruchsvollen Wahrheit: Will die Weltgesellschaft
die Probleme des Lebens und Überlebens lösen, kann dies mit
Wissen und Wollen der Menschen geschehen - und mit einer
gefühlten Gewissheit, dass wir Teil eines Ganzen sind, das lange
vor uns angefangen hat und mit uns nicht enden soll. Wir
brauchen "so etwas wie eine neue Metaphysik", schreibt der
englische Schriftsteller Ian McEwan nach einer Expedition zu
abbrechenden Eisbergen und degenerierenden Eisbären. Die
Religionen könnten das nicht sein. "Sie mögen dem einzelnen
Menschen Seelenfrieden geben. Aber sie können uns nicht die Welt
erklären." Und gegen die Restaurationstheologie, die dem
wissenschaftlichen Denken die Kraft zur Begründung eines Ethos
abspricht, setzt er das Credo der Neuzeit: "Es gehört zu den
Faszinosa unserer Zeit, intellektuell wie emotional, dass wir in
unserer Wissenschaft so etwas wie eine neue Metaphysik haben.
Freude, Ehrfurcht, Mitleid, ozeanische Gefühle, all das gibt es
auch ohne Religion … Wir haben eine Schöpfungsgeschichte, die
unendlich viel komplexer ist als die christliche, die
islamische, und die überdies noch den Vorzug hat, wahr zu sein."
Wenn die postaufklärerischen Alt- und
Neureligiösen politisieren, garnieren sie ihre demütigen Übungen
gern mit fortschrittsskeptischen, theologie- wie
wissenschaftsarmen Paraphrasen der "Dialektik der Aufklärung",
raunen von Einschränkung, Wende zum Weniger. Das macht nicht
froh. Und ein "Fortschritt" der alten Kultur - dieses liberalen
Automaten aus Kapital, fossiler Energie, Technik und Konsumismus
- ist allerdings nicht einmal mehr denkbar. Der Fortschritt in
eine neue schon.
"Die Menschen", so schon Nietzsches
schöne Parole - "können mit Bewußtsein beschließen, sich zu
einer neuen Kultur fortzuentwickeln: … sie können bessere
Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung,
Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes
ökonomisch verwalten." Dazu müsse zunächst einmal ein "alle
bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der
Kultur, als wissenschaftlicher Maßstab für ökumenische Ziele,
gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der großen
Geister des nächsten Jahrhunderts."
Folgten wir diesem Programm, ginge es
zunächst um die Befreiung der Wissenschaft. Denn frei ist sie
immer noch nicht. In langen Untersuchungsreihen haben
Klimaforscher die von der globalen Wachstumskultur erzeugten
Bedrohungen nachgewiesen, nur um zu erleben, dass ihre
Erkenntnisse in den Verhandlungen des Weltklimarats (IPCC) von
Politikern rundgeschliffen werden. "Eigentlich sollte man sich
nicht mit Politikern darüber streiten, was eine
wissenschaftliche Aussage ist", sagt Hans-Jürgen Schellnhuber,
der Chef des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung. Er
und andere denken über neue Institutionen nach, die der
wissenschaftlichen Vernunft eine stärkere Stimme im Klimadiskurs
geben.
Das wäre zu wünschen, aber es ist nicht
mehr so einfach wie in den Fünfzigerjahren, als die
internationale Crème de la Crème der Physiker vor den
apokalyptischen Gefahren eines Atomkriegs warnte. Der
Klimawandel hat nicht die bedrohliche Plötzlichkeit der Bombe.
Und die Verschrottung nuklearer Arsenale ist ein geradezu
lächerlich einfaches Projekt gegenüber der zivilen Umrüstung von
fossil auf solar - der "Neuerfindung der Weltgesellschaft" (Schellnhuber)
in einem Zeitfenster von wenigen Jahrzehnten.
Für die Industrienationen des Westens
heißt das: radikaler Umbau der Städte, Aufbau regionaler
Energieversorgung, neue Ausdifferenzierung der Landwirtschaft.
Dazu eine Kulturrevolution unserer Ernährungs-, Mobilitäts-,
Wohn- und Arbeitsgewohnheiten. Alles in allem: ein gigantisches
"ökumenisches Ziel", eine faszinierende Aufgabe für die
Weltgesellschaft und ihre Wissenschaftler. Aber Derartiges laut
zu denken - knurrt grimmig der Altkantianer Helmut Schmidt -,
wagt kein parlamentarischer Politiker: "Das ist einer der
eingeborenen Fehler der Demokratie."
Nicht Wissenschaft und Technik also
bedrohen den Fortschritt, sondern die unterkomplexen und
verharzten politischen und wirtschaftlichen Institutionen
unserer Gesellschaften. Die technischen und intellektuellen
Werkzeuge - früher hätte man gesagt: die objektiven Bedingungen
- sind vorhanden: Klimaforschung und Biologie sind auf dem Weg
zu einer "Oikonomie" der globalen Biosphäre. Die Gaia-Hypothese,
vor ein paar Jahrzehnten noch von ein paar Esoterikern
gekidnappt, wird zur herrschenden wissenschaftlichen Meinung:
Die Erde hat ein Bewusstsein. In uns. Im Klima erkennen wir
nicht die Natur als Rohstoff, sondern uns als Akteur.
Wir haben die Erde mit einem technischen
und kulturellen Nervensystem überzogen, wir sehen die
Rauchschwaden, die Wärmeströme der Ozeane, die Wanderungen der
Bienenvölker. Wir sehen, wie wir mit der Erde umgehen.
Aufklärung heißt: sichtbar machen. In der Renaissance warfen
Forscher mit Navigationsinstrumenten und Fernrohren unser
Weltbild um, mit Mikroskopen und Skalpellen unser Menschenbild.
Die Computer der Biosphärenforscher sind die ersten Boten einer
"zweiten Renaissance", aber die Wissenschaftler agieren noch in
den alten politischen und ökonomischen Strukturen.
Die Politik und die alten
Bewusstseinsverwaltungsmächte sind nicht auf der Höhe der Zeit -
das ist die Bedrohung, hier wird das Potenzial der Gattung
verspielt. Und das jedes einzelnen Menschen auf Erden. Denn auch
über das "Wesen" des Menschen wird in unserer Epoche etwas
unabweisbar, das wir vor Kurzem noch nicht sehen konnten. Mit
den Aufnahmen aus dem Inneren unserer Schädel versprechen uns
die Gehirnforscher neue Mittel gegen Alzheimer, Parkinson,
Schizophrenie und allerlei andere Beschwernisse. Revolutionär
aber ist die "reine Erkenntnis", die sich mit den Bildern der
Kernspintomografen aufdrängt: Unser Charakter, unsere
Intelligenz, unsere Eigenarten und Absonderlichkeiten, unsere
Stärken und unsere Liebesfähigkeit sind fast ausschließlich
durch Erfahrungen bedingt, die uns auf einer unspezifischen
Neuronengrundlage zu Menschen mit unterschiedlichen Gehirnen,
Emotionen, Charakteren formt. Was wir sind, das ist eine
"absolut untrennbare" Mischung aus unserer Natur, unseren
kulturellen Prägungen, unseren individuellen Erfahrungen. Und
die Folgerung daraus lautet: Jedes Individuum auf Erden hat mehr
Potenzial, als er oder sie ausschöpfen kann. Meine Grenze - das
sind die anderen und die Art, wie ich mit ihnen zusammenlebe.
Die irdische Metaphysik, deren
Botschaften aus den Satellitenfotos und den Tomografen kommen,
kann ehrfürchtig machen. Sie ist ungleich fordernder als eine
transzendente: Wir können das Klima beeinflussen, und wir machen
einander. Wir gestalten die Zukunft, durch Handlungen und
Unterlassungen. Die "Kirche" dieser Metaphysik sind die
Institutionen der Wissenschaft. Sie befreit uns von allem
Fatalismus. Und von allen Ausreden - darin ist sie von geradezu
alttestamentarischer Härte. Sie nennt die Verursacher (die
Tätigkeiten, die Substanzen und ihre Anwender) unserer Probleme.
Sie protokolliert die Mechanismen unserer Verdummung, sie
durchstößt den perlmuttenen Schimmer unserer frommen Ausflüchte,
sie kann uns die Folgen unseres Handelns abschätzen lassen.
Die Erkenntnisse der Geoökonomie, wenn
sie frei von partikularen Interessen betrieben wird, stellen uns
an den Gabelungen der Pfade in die Zukunft immer wieder vor die
Wahl: schrankenloses Wachstum, denaturierte Erde, rationiertes
Wasser, bewehrte Wohlstandsgrenzen, Hunger ohne Ende - oder eine
Beschränkung unserer Zahl, eine nachhaltige Lebensweise, ein
Ausbau der Bildungseinrichtungen, ein verändertes Verhältnis zur
Welt der Tiere und Pflanzen. Und die Erkenntnisse der
Menschenwissenschaft geben uns die Wahl zwischen der Optimierung
von Individuen durch Leistungs- und Stimmungsdrogen,
Organzüchtung und biochemische Anpassung oder einer Veränderung
der Verhältnisse, in denen sie leben und arbeiten.
In einer "Wissensgesellschaft", die mehr
ist als ein Euphemismus für intelligentere Rationalisierung,
dynamischere Produktentwicklung und schnelleren Umschlag von
Kapital sind Universitäten die Orte, an denen solche Optionen
untersucht und diskutiert werden. Orte, an denen - wie in
Galileis Laboratorium - alle Hypothesen überprüft werden.
Demokratische Wissensgesellschaften geben der Wissenschaft die
Autonomie zurück, die sie durch ihre Koppelung an militärische
oder ökonomische Interessen, durch schleichende, von
Unterfinanzierung beförderte Privatisierung, durch die
reflexionsfrei gewordenen Modul-Studiengänge weitgehend verloren
hat. Nur eine autonome Wissenschaft kann die Grundlagen für
wirkliche politische Entscheidungen liefern. Zur
Wissensgesellschaft müssen wir also erst noch werden, ihre
sozialen und politischen Strukturen erst noch erkämpft werden.
Unter diesem Postulat lohnt es sich immer noch, Brechts
"Galileo" in die Machtstrukturen unserer Tage zu übersetzen -
und, nebenbei gesagt: Vielleicht ist der Kampf um solche
Strukturen sinnvoller, nachhaltiger und erfolgbringender als das
Demonstrieren vor Zäunen.
Zukunftsverliebte Universitäten waren die
Brutstätten der Renaissance und der Aufklärung. Heute wären sie
die Partner von Parlamenten, die nicht die Folgen eines blinden
Fortschritts verwalten, sondern in denen Fortschritt
reflektiert, geplant - und flexibel korrigiert wird. Es hat
Ansätze zu einer solchen Kooperation von Wissenschaft und
Politik gegeben, in einigen der Enquetekommissionen des
Bundestags, in den Diskussionen der Siebzigerjahre über
Technikfolgenabschätzung, die von den Freihändlern der Märkte
und des Wissens als Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft
beiseitegefegt wurde, zugunsten der großen Freiheit, die da
heißt: Alternativlosigkeit.
Parlamente der Wissensgesellschaft
dürften keinen Gesetzentwurf diskutieren, unter dem steht:
Alternativen: keine. Und das europäische Credo heißt nicht, wie
der Papst meint, "im Christentum ist Aufklärung Religion
geworden", sondern: Aufklärung ist das wirklich gewordene,
irdische, legitime Erbe der Religionen.
Editorische Anmerkungen
Der Artikel erschien in:
Le Monde diplomatique Nr. 8294 vom 8.6.2007.
Er wurde gescannt und uns von einem Leser mit der Bitte um
Dokumentierung zugesandt.