Über
Das gleiche Interesse zwischen Lohnarbeit und Kapital
schwindet auch da, wo es sich angeblich am deutlichsten äußert
Neulich
sah ich die SWR-Sendung „Lohnsklaven – Was ist die Arbeit heute
noch wert.“ Richtig hätte die Frage lauten müssen „Was ist die
Ware Arbeitskraft heute noch Wert.“ Doch zunächst einmal egal.
Die Redakteure der Sendung zeigten nicht nur deutlich, dass
heute der Preis für die Ware Arbeitskraft unter ihren Wert
gedrückt wird, sondern auch wie das passiert ... durch die viel
gelobte Freiheit der Unternehmertätigkeit und die daraus
entspringende Konkurrenz.
Man
schätzt, dass heute bereits zwischen 1 und 2 Mill.
„Erwerbstätige“ sich mit Löhnen begnügen müssen, die unterhalb
der Reproduktionskosten für die Ware Arbeitskraft liegen.
Tendenz steigend. Es sind Armutslöhne von 3, 4 oder 5 Euro die
Stunde, von denen man unter aktuellen gesellschaftlichen
Bedingungen nicht oder kaum leben kann. Teilweise werden diese
Löhne sogar in Tariflöhnen von den Gewerkschaften abgesegnet. Es
soll mittlerweile ca. 200 solcher Tarifvereinbarungen geben.
Wenn
Gewerkschaften so etwas mitmachen, dann zeigt das, dass sie
nicht die viel beschworene „soziale Gegenmacht“ sind, sondern
ganz dreist dem Kapital dabei behilflich werden, extreme
Ausbeutungsverhältnisse durchzusetzen. Der entschuldigende
Hinweis, man sei halt zu schwach, um das zu verhindern
(niedriger Organisationsgrad) macht die Sache nicht besser,
steht aber in der Tradition sozialdemokratischen
Selbstverständnisses. Würden die bestimmenden Organe der
Gewerkschaften es ernst meinen mit der „sozialen Gegenmacht“,
dann würden sie solchen Tariflöhnen, einem solchen elenden
„Klassenkompromiss“, niemals ihre Zustimmung geben. „Nicht mit
unseren Unterschriften! Nicht in unserem Namen!“ würde es dann
heißen und zu breitem Widerstand aufgerufen. Es geht ihnen aber
mehr um die Bewahrung ihres Einflusses, als um die „soziale
Gegenmacht“. Um auch weiterhin als „Sozialpartner“ der
Unternehmerverbände akzeptiert zu werden, den unvermeidlichen
Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital zu vermeiden, wird nahezu
jede Schweinerei mit gemacht.
Die
Gewerkschaften fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50
Euro die Stunde. Wenn man sich schon zu schwach fühlt,
Tariflöhne gegen Branchenkapitalisten durchzusetzen, von denen
mensch leben kann, wie kann man sich dann stark genug fühlen,
eine gesetzliche Regelung gegen die ganze Kapitalistenklasse
durchzusetzen? Oder geht es vielleicht doch nur darum, sich
nicht für zuständig zu erklären und die Massage rüber zu
bringen: „Da kann man halt nichts machen!“
Abgesehen
davon, dass dieser Lohn zu gering ist, handelt es sich dabei um
eine politische Forderung, die unter den aktuellen politischen
Voraussetzungen nur von der Klasse der Lohnabhängigen
durchgesetzt werden könnte. Dazu wäre eine entsprechende
politische Mobilisierung durch die Organisationen des DGB bis
hin zu politischen Streiks nötig. Nichts in dieser Richtung
passiert, weil die Gewerkschaften jeden politischen Kampf
ablehnen. Auch das gute alte Tradition der deutschen
Sozialdemokratie! Sie beugen sich jeder Entscheidung des
Parlamentes und der Regierung. Das letzte politische Wort soll
immer die Stimmabgabe alle 4 Jahre bleiben, damit politisch ja
nichts anbrennen kann in dieser feinen bürgerlichen Demokratie.
Aus diesem Grunde wird es nicht einmal einen gesetzlichen
Mindestlohn von 7,50 Euro die Stunde geben, geschweige denn
einen von 10 Euro, wie er von Linken gefordert wird.
Die
Hartzgesetze, von Sozialdemokraten geplant und durchgesetzt,
sind ein entscheidendes Instrument, um Hungerlöhne
durchzusetzen. Wer dagegen Entscheidendes nichts tun will, wird
auch keinen gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen. Die
Gewerkschaften als Organisation waren in der Bewegung gegen
Hartz IV eine Marginalie, sie sind es auch im Kampf um einen
gesetzlichen Mindestlohn.
Der
gesetzliche Mindestlohn, so tönt es von Funktionären der
Arbeitgeberverbände, von CDU und FDP im Chor, bedrohe und
vernichte Arbeitsplätze. Da haben sie zweifellos Recht! Ja,
manche Klitsche und manches „gesunde“ Unternehmen würde in Folge
des allgemeinen, durch das Kapital selbst erzeugten Drucks auf
die Profirate wohl dicht machen, wenn sie keine menschliche
Arbeitskraft zu Hungerlöhnen ausbeuten könnten. Also fielen auch
die durch dieses Kapital „betriebenen“ Lohnarbeitsplätze weg.
Eine Katastrophe für die Geldanlage in den erwähnten Betrieben
wäre das zweifellos. Der gesetzliche Mindestlohn bedroht die
Renditen von Geldanlagen, die nur dann hoch genug sind, wenn das
Geld Arbeitskräfte zu Hungerlöhnen „beschäftigt“.
Das
Kapital vernichtet aber Lohnarbeitsplätze auch ganz ohne
gesetzlichen Mindestlohn. Es vernichtet diese Lohnarbeitsplätze
mit jeder ausgedehnten Neuanlage von Kapital, die menschliche
Arbeitskraft durch angewandte Technologie überflüssig macht. Es
vernichtet sie mit jedem erneuten Versuch, die Kosten weiter zu
senken und dem durch Rationalisierungsinvestitionen erzeugten
Fall der Profitrate entgegen zu wirken. Alles jubelt über
niedrige, „konsumentenfreundliche“ Preise und niemanden
interessiert es, welchen sozialen Preis, die unmittelbaren
ProduzentInnen dafür zu zahlen haben. Den
„konsumentenfreundlichen Preisen“ entsprechen
„produzentenfeindliche Preise“. Beides resultiert aus dem
Fortschritt menschlicher Arbeitsproduktivität in seiner
kapitalistischen Form (Erhöhung der organischen Zusammensetzung
des Kapitals, progressive Produktion von Arbeitslosigkeit und
letztlich Hungerlöhne). Der ökonomische Zusammenhang zwischen
allgemein niedrigen Preisen und niedrigen Preisen für die Ware
Arbeitskraft wird verdunkelt. (Kapital verlangt seine
„Schnäppchen“ auch auf dem „Arbeitsmarkt“!) Die Spur der
sozialen Verwüstung, die das Kapital erzeugt, verweist auf sein
eigenes „Schuhwerk“. Die Spur soll verwischt werden, und
derjenige der sie erzeugt hat, unsichtbar bleiben.
Die
Apostel der Kapitalverwertung wenden sich gegen einen
gesetzlichen Mindestlohn, von dem Mensch leben kann und
propagieren gleichzeitig den Kombilohn, damit unter veränderten
Bedingungen beides möglich bleibt: die profitable Verwertung von
Kapital und Geldeinkommen auf Seiten der Lohnabhängigen, von
denen sie leben und damit auch (lohn)arbeiten können. Der Staat
soll aus Steuereinnahmen, die mehr und mehr nur von
Lohneinkommen bezogen werden, die Subventionierung des unter
schwacher Profitrate leidenden Kapitals betreiben. So wird der
nicht selten in Betrieben ausgesprochene Satz wahr, wonach die
Lohnabhängigen ihre Geld gleich selbst mitbringen sollen, damit
sie arbeiten dürfen. Kombilohn, egal in welcher Form, bedeutet,
dass der Verteilungskampf zwischen Lohnarbeit und Kapital
ersetzt werden soll durch den Kampf der Lohnabhängigen unter
einander. Der Kampf soll entbrennen zwischen jenen, die
Lohnarbeitsplätze zu einem Reproduktionslohn „bestizen“ und
jenen, die solche Lohnarbeitsplätze nicht haben. Eine saubere
Strategie von teile und herrsche!
Die
erfolgreiche Sozialpartnerschaft zwischen Lohnarbeit und Kapital
funktionierte in der Rekonstruktionsphase des Kapitals nach dem
2. Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise 1974/75. Seit dieser
Zeit wird sie Stück für Stück demontiert, nicht durch die
aufbegehrenden Lohnabhängigen, sondern durch die Sachwalter des
Kapitals. Nicht nur der Bedeutungsgehalt des Wortes „Reform“ hat
sich seit dieser Zeit geändert und ist zu einer Drohung
geworden. Auch die sonstigen ebenso ökonomisch-frommen wie
sozialen Phrasen werden mit neuen Inhalten „angereichert“.
Das
gemeinsame Interesse von Lohnarbeit und Kapital an der Schaffung
und Erhaltung von Arbeitsplätzen erweist sich allmählich als
grundlegendes „Missverständnis“ zwischen den beiden
Kontrahenten. Formulieren Lohnabhängige ihr Interesse an
Lohnarbeitsplätzen, dann verbinden sie damit Löhne, von denen
mensch leben kann. Formulieren die Sachwalter das Kapitals ihr
Interesse an Lohnarbeitsplätzen, dann meinten sie schon immer
Lohnarbeitsplätze, die ihnen Profit produzieren. Solange ihnen
auch Lohnarbeitsplätze ausreichend Profit produzierten, deren
Löhne zugleich den Lohnabhängigen ihre Reproduktion ermöglichte,
konnte die Sozialpartnerschaft funktionieren. Jetzt aber
verlangen „ökonomisches Wachstum“, Wachstum des Profits, immer
stärker Löhne, die unter dem Wert der Ware Arbeitskraft, spricht
unter ihren Reproduktionskosten, liegen.
Massenarbeitslosigkeit und Hungerlöhne sind jene beiden Elemente
gesellschaftlicher Erfahrung, die den Glauben an
Existenzsicherung durch Lohnarbeit untergraben werden. Sie sind
zugleich ein Erfahrungshintergrund, der der radikalen Kritik am
System der Lohnarbeit empirische Plausibilität verleiht und
damit die Suche nach Möglichkeiten einer Überwindung des
Kapitalverhältnisses befördert.
Für
einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde!
Editorische Anmerkungen
Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen
Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.