Manchmal
geht es in der Wirklichkeit zu wie in einem mittelmäßigen
Holloywoodfilm. Durch einen unterirdischen Tunnel von 25 Metern
Länge, den sie von den Toiletten ihrer Zelle aus gegraben
hatten, sollen neun islamistische Aktivisten – von denen zum
Tode, die anderen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden
waren - am 7. April dieses Jahres aus dem Zentralgefängnis im
nordmarokkanischen Kénitra ausgebrochen sein.
Die
Erdmassen, die sie dabei ausgehoben hatten, sollen sie bei
Hofgängen unauffällig im Innenhof der Haftanstalt aus den
Taschen geschüttelt haben. Ferner sollen sie meterweise
Plastiksäcke mit Erdreich hinter einem Leintuch am
Toiletteneingang verborgen haben. Der Tunnel, so hört man
ferner, habe direkt in den Garten des Gefängnisdirektors
geführt. Und von dort aus hätten die neun nur über eine Mauer zu
hüpfen brauchen, während draußen eine schwarze Limousine auf sie
wartete. Drinnen hinterließen sie eine Wandinschrift, in der
sie versprachen, „niemandem etwas zu leide zu tun“. Zuvor waren
einige von ihnen lediglich aufgrund von Organisationsdelikten –
also Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung oder
Teilnahme an einer Versammlung -, andere jedoch aufgrund von
Blutverbrechen wie dem Mord an einer 60jährigen französischen
Touristin verurteilt worden.
Legende oder
Wirklichkeit? So jedenfalls schildert das seriöse Wochenmagazin
Maroc Hebdo International in einer Ausgabe, die wenige
Tage später erschien, in nüchternem Tonfall die jüngsten
Ereignisse. Diese erregten nicht nur Aufmerksamkeit weit über
die Grenzen des Königreichs hinaus, sondern sorgten auch dafür,
dass in der marokkanischen Öffentlichkeit zahllose Gerüchte in
Umlauf kamen. Wie war das nur möglich? Waren übermenschliche
Kräfte am Werk?
Die
Erklärungen der Wochenzeitschrift sind unterdessen erheblich
banaler. Kénitra, wo einst unter König Hassan II. (1961 bis
1999) einige von dessen prominentesten Gegnern einsaßen, ist
längst nicht mehr die Hochsicherheitsfestung, die sie einmal
war. Vielmehr ist das einstige Vorzeigegefängnis eine relativ
banale Haftanstalt geworden, in die man – etwa beim
Familienbesuch oder auch über Anwälte – schon mal kleinere
Geräte einschmuggeln kann. Zudem ist das Aufsichtspersonal sehr
schlecht bezahlt, und folglich reichlich unmotiviert. Von einer
ideologischen „Sache“ hoch motivierte Gefangene, die eine
gewisse kollektive Disziplin besitzen und ihren Handlungen oder
ihrem Leiden hinter Gittern einen vermeintlichen „Sinn“
verleihen können, über deswegen eine gewisse Anziehungskraft, ja
Faszination auf ihre Wärter aus. Zumal beide oft aus denselben
Armutsvierteln stammen, so jedenfalls das Wochenmagazin. Daraus
resultieren mitunter Komplizenschaft. Ferner hätten radikale
Islamistengruppen sich daran gemacht, durch Gefängnisprediger
gezielte Agitation unter Häftlingen wie unter ihren Wärtern zu
betreiben – die sozusagen einen „strategischen Sektor“
darstellen wie weiland die Arbeiterklasse aus der Sicht
marxistisch-leninistischer Parteien.
Am 1. Mai
gaben die marokkanischen staatlichen Sicherheitskräfte bekannt,
dass sie einen der neun Ausgebrochenen - Mohammed Chebti, der zu
einer 20jährigen Haftstrafe verurteilt worden war - inzwischen
wieder geschnappt haben.
Länderübergreifendes Spektakel
Durch
spektakuläre Ausbrüche oder Aktionen haben djihadistische
Aktivisten in den letzten Wochen in mehreren Ländern der Region
von sich reden gemacht. Zur selben Zeit wie der
Gefängnisausbruch in Marokko waren auch in der mauretanischen
Hauptstadt Nouakchott prominenten islamistische Häftlinge am 2.
April „verschwunden“, unter ihnen die mutmaßlichen Mörder von
vier französischen Touristen, die am 24. Dezember 2007 in einer
Provinzstadt im Nordosten Mauretaniens getötet wurden. Die
Ausgebrochenen fielen jedoch auf, weil sie sich als Frauen
verkleidet bewegten, dabei jedoch unter ihrer Kopfbedeckung
Männerbärte verbargen. Am Montag, den 7. April wurden sie durch
eine Schar fröhliche Kinderschar aufgedeckt, denen ihre
„männlichen“ Bewegungsweisen aufgefallen waren. Die lieben
Kleinen riefen neugierig „Mann – Frau, Mann – Frau“ und lockten
dadurch am Ende die Polizei herbei. Die Hälfte der Gruppe flog
auf und wurde nach einem Schusswechsel festgenommen, fünf ihrer
Mitglieder liefen hingegen nach wie vor frei herum.
Am 29. April
dann konnte die mauretanische Polizei einen neuen Coup landen
und verhaftete am Morgengrauen jenes Tages u.a. den 21jährigen
früheren Soldaten und Dijhad-Aktivisten Sidi Ould Sina - der
beschuldigt wird, die vier französischen Touristen selbst
getötet zu haben - in einem ärmeren Viertel der Hauptstadt
Nouakchott. Seit seiner Flucht 22 Tage zuvor war es ihm
zwischendurch mehrfach gelungen, den staatlichen
Sicherheitskräften durch die Lippen zu gehen. Nun kann er sich
ihrem Zugriff nicht länger entziehen, und mit ihm sitzen erneut
alle drei mutmaßlichen Urheber des Attentats vom Weihnachtstag
in Haft. Zusammen mit Sidi Ould Sina wurden vier weitere
dijhadistische „Kämpfer“ festgenommen, unter ihnen Khadim Ould
Semane, der als der Kopf jenes Kommandos gilt, das am 1. Februar
2008 die israelische Botschaft in Nouakchott angriff.
Zur selben
Zeit dauert die Affäre um zwei österreichische Geiseln an, die
Urlauber Wolfgang Ebner und Andrea Kloibner, die am 22. Februar
dieses Jahres im algerisch-tunesischen Grenzgebiet mitten in der
Sahara entfüihrtr worden sind - mutmaßlich durch Terroristen,
die sich zum Netzwerk Al-Qaïda im Maghreb zählen. Seit Wochen
laufen die Geheimverhandlungen, mehrere Ultimaten der Entführer
sind ausgesprochen und immer wieder hinausgeschoben worden.
Letztere fordern Geldzahlungen sowie die Freilassung von zehn
islamistischen Häftlingen in Tunesien und Algerien. Die beiden
Geiseln werden unterdessen im Nordosten von Mali vermutet, und
sind mutmaßlich in der Region von Kidal geortet worden.
Unterdessen
hat sich die libysche „Muammar Gaddafi-Stiftung“, vertreten
durch den Sohn des Staatsoberhaupts Saif el-Islam Gaddafi, in
den Vordergrund gedrängt: Sie erklärte aus eigenem Antrieb, dass
sie mit den Entführern über die Zahlung eines Lösegelds
verhandele. Ihr Korrespondent und Sprachrohr in Österreich ist
dabei – am Außenministerium vorbei – der Kärnter Gouverneur Jörg
Haider (BZÖ), der ihre Verlautbarungen an die heimische Presse
gibt. Die beiden sind seit den Studienzeiten des
Gadaffi-Sprösslings in Wien miteinander bekannt und gelten als
befreundet.
Die
Gaddafi-Stiftung hatte bereits im Jahr 2003 das Lösegeld- die
Rede ist inoffiziell von fünf Millionen Euro - an die damaligen
Entführer von fünfzehn deutschen, schweizerischen und
österreichischen Geiseln bezahlt. Allerdings hat sie es sich
kurz darauf mutmaßlich vom deutschen Staat wiedergeholt. Die
damaligen Entführer gehörten zum GSPC (Salafistische Gruppe für
Predigt und Kampf), der Vorläuferorganisation von „Al-Qaida im
Land des islamischen Maghreb“, die ihren jetzigen Namen 2006
angenommen hat. Der libysche Staat wiederum befindet sich zwar
zweifellos nicht auf einer ideologischen Wellenlänge mit den
Entführern, im Gegenteil bekämpft er ihre innenpolitischen
Pendants – vor allem in der östlichen Landeshälfte um Benghazi –
erbittert. Allerdings wittert er hier eine Chance, seinen
Ambitionen auf Anerkennung als Regionalmacht zusätzliche Geltung
zu verschaffen, wie etwa die algerische Tageszeitung
La Tribune
(Ausgabe vom 18. März 08, Thema auf ihrer Titelseite) argwöhnt.
Insbesondere möchte er demonstrativ den Beweis dafür führen, als
einziger Machtfaktor stabilisierend auf die Sahelregion
einwirken zu können. Möglicherweise profitiert die
Gaddafi-Stiftung nebenbei auch finanziell, was allerdings auch
ein verzichtbarer Luxus für sie sein könnte.
Machtpolitische Interessen unterschiedlicher Staaten mischen mit
Der libysche
Staat ist nicht der einzige, der aus den Umtrieben des
nordafrikanischen Al Qaida-Ablegers (geo)politischen Nutzen zu
ziehen versucht. Denn zahllose Akteure machen sich das so
symbolträchtige wie prominente Label von „Al Qaida“ zunutze, um
ihrem eigenen geostrategischen Spiel neue Rechtfertigungen und
neue Bedeutung zu verleihen. Das gilt für viele der im Namen von
Al-Qaïda handelnden Akteure selbst, denn die genauen Konturen
ihres nordafrikanischen Netzwerks bleiben bislang absolut
rätselhaft. Aller Wahrscheinlichkeit aber operieren neben einem
harten Kern ideologisch motivierter Jihad-Aktivisten eine ganze
Reihe von puren Banden, vor allem aus den in den Sahara
nomadisch lebenden Bevölkerungsgruppen, unter diesem Etikett. Im
Gegensatz zu den „echten“, ideologisch gestählten Jihadisten,
die in aller Regel aus den Städten kommen, können sie als
Einzige in der Wüste leben. Die von Schmuggel und manchmal eben
auch von Kidnapping lebenden Nomadengruppen benutzen dabei eine
Art von „Joint-Venture“ mit den Gruppen oder Grüppchen von
Jihad-Aktivisten – die ohne sie in der Wüste aufgeschmissen
wären- , um sich eine weltweit wahrnehmbare Aura zu verleihen.
Ihre Ziele sind aber äußerst begrenzt, und meistens rein
finanzieller Natur.
Aber auch
westliche Großmächte nutzen das Auftauchen des globalen
‚Public Ennemi Number One’, Al-Qaida, als bequeme
Rechtfertigung, um – aus Sicherheitsgründen - neue Militärbasen
und eine verstärkte Präsenz in der ganzen Großregion rund um die
westafrikanischen Sahelzone zu forcieren. So suchen die USA noch
immer, einen regionalen Generalstab – AFRICOM – mitsamt
erforderlicher Infrastruktur in einem afrikanischen Land
einzupflanzen. Bislang hatte Afrika in den strategischen Plänen
des US-Militärs eher „eine Art Anhängsel Europas gebildet“, wie
das Wochenmagazin ‚Jeune Afrique’ in seiner Ausgabe vom
5. Mai 2008 schreibt. Und der Kontinent war innerhalb des
US-Militärs zum Teil dem in Stuttgart ansässigen EUCOM, zum Teil
dem für den Mittelost und Asien zuständigen CENTCOM mit Sitz in
Florida, zum Teil (den im Indischen Ozean liegenden Teil
Afrikas, darunter Madagaskar und die Komoren, betreffend) aber
auch dem Pazifikkommando PACOM in Hawaii unterstellt gewesen.
Kurz, Afrika bildete wenn nicht einen blinden Fleck, dann doch
zumindest eine (lange Zeit) vernachlässigbare Größe in den
strategischen Planungen des Pentagon. Dies soll nun vollständig
anders werden. Als Rechtfertigung für eine neue strategische
Offensive - die parallel zur ökonomischen Großoffensive von
US-Amerikanern und Chinesen zur Neuaufteilung der Einflusszonen
in Afrika, und zum Einbrechen in den bisherigen französischen
„Hinterhof“ auf dem Kontinent, verläuft - dient den US-Eliten
„das Einsickern und die zunehmende Präsenz von Al-Qaida in der
Sahara und der Sahel-Zone“. Nunmehr soll, schöne Demagogie!, ein
schwarzer US-General die militärische Präsenz der Nordamerikaner
auf dem afrikanischen Kontinent verkörpern: Der bislang in
Stuttgart residierende General William Ward soll künftig das
AFRICOM befehligen.
Doch Pech
nur, dass die Afrikaner nicht so wollen, wie Washington D.C.
gerne möchte. Zunächst hatte die Entwicklungsgemeinschaft der
Staaten des südlichen Afrika (SADC) im Jahr 2007 das Anliegen
abgeschmettert, den Generalstab samt Truppe und Logistik in
ihrem Raum stationiert zu sehen. Seitdem sondieren die USA
diesbezüglich eher in Nordwestafrika, Stichwort „Einsickern von
Al Qaida-Kräften in die Sahelzone“. Im Februar dieses Jahres
lehnte nun auch Ghana das Stationierungsprojekt auf seinem Boden
definitiv ab. Nun hat vor kurzem auch die Regierung Algeriens
definitiv Nein zu dem Projekt gesagt: Sie befürworte eine
Kooperation bei der Terrorismusbekämpfung, verlautbarte
anlässlich eines Seminars zu ebendiesem Thema in Algier, möge
aber keine dauerhaften Einschränkungen ihrer Souveränität durch
längerfristig angelegte Militärbasen hinnehmen.
Strategiedebatte im radikal-islamistischen Lager: Al-Qaida
verliert an Boden und Fans
Aber auch
innerhalb der radikal islamistischen Bewegung tauchen in
jüngster Zeit erhebliche Verwerfungen rund um die Aktionen von
Al Qaïda im Maghreb auf. Letztere hat begonnen, sich von ihren
eigenen ideologischen Glaubensbrüdern zu isolieren, insbesondere
indem sie die – in Algerien bis vor anderthalb Jahren quasi
unbekannte – „Technik“ des Selbstmordattentats vom
Kriegsschauplatz Irak nach Nordafrika importierte. Dem
widersprechen nun sowohl Religionsexperte, die selbst der
Strömung der Salafisten – welche eine Rückkehr zum
„ursprünglichen Islam“ des 7. Jahrhunderts christlicher
Zeitrechnung, jener der „Weggefährten des Propheten“ (al-salaf)
angehören, als auch andere islamistische Unterströmungen:
Aufgrund ihrer Vorgehensweisen, und aufgrund des rücksichtlosen
Aufopferns von Zivilisten etwa durch die Streuwirkung von
Autobombenanschläge, verlören die Al Qaïda-Fans auch die letzten
Reste von Rückhalt in der Bevölkerung. Gleichzeitig wird ihnen
auch die religiöse Autorität ihrer Begründungen abgesprochen.
Eine Reihe salafistischer Imame wie ‚Tartussi’ oder
‚Abu Bakr El-Djezairi’ haben in der jüngsten Zeit die
Selbstmordattentate, die Al-Qaida im Maghreb etwa im Laufe des
Jahres 2007 in Algerien beging, verurteilt.
Von der
Heftigkeit des Konflikts zeugt ein Mord, den Al Qaïda-Anhänger
am 16. März 2008 im algerischen Oued Souf an zwei Anhängern der
Salafisten verübten, die gegen ihre Kampfmethoden Einwände
erhoben. Sie wurden in eiçner Moschee während der Gebetszeit
ermordet, was nunmehr viele Gläubige umso schärfer abstößt. Eine
größere Anzahl radikal islamistischer Aktivisten hätten,
berichtet die Informations-Webpage Magharabia.com, daraufhin
vorläufig jegliche Tätigkeit eingestellt, um Instruktionen und
Anweisungen von ihren religiösen Autoritäten abzuwarten.
Der Konflikt
um die Kampfmethoden und Strategien des harten Kerns von Al
Qaida hat inzwischen das radikal islamistische Milieu im
gesamten Nordafrika erfasst. In Ägypten veröffentlichte der
inhaftierte ehemalige militante Islamistenführer „Doktor El-Fadl“,
mit bürgerlichem Namen Sayed Imam Al-Chérif, vom
Gefängnis aus eine kritische Abhandlung, in welcher er die
Einstellung sämtlicher bewaffneter Aktivitäten fordert, die
Anfang März 2008 bekannt wurde. Al-Qaida, deren Dunstkreis er
früher angehörte, hat äußerst empfindlich und heftig darauf
reagiert. Sie hätte dessen Schrift auch als Kapitulationsurkunde
eines, unter dem Druck von Haftbedingungen oder Folter
eingeknickten, Abtrünnigen abtun können. Stattdessen antwortete
die Nummer Zwei in der Hierarchie von Al-Qaïda, der Ägypter
Aylan al-Zawahari, darauf aber mit einer Kampfschrift von 380
Seiten Länge, die im Internet heruntergeladen werden kann und
die die Argumente von „Doktor El-Fadl“ Punkt für Punkt
widerlegen und den angeblichen Jihad rechtfertigen soll.
Offensichtlich sitzt der Spaltpilz tief in den Reihen der
Jihad-Anhänger.
Editorische
Anmerkungen
Den Text
erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung.
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