Ein anderer Blick auf den "8. Mai"
Antifaschistischer Widerstand während der letzten Kriegstage in Berlin

von Gerhard Keiderling

05/05

trend onlinezeitung

In diesen Tagen der letzten Zuckungen des Dritten Reiches mehrten sich die Aktionen derer, die unter Einsatz ihres Lebens versuchten, das sinnlose Morden abzukürzen und die Stadt vor totaler Vernichtung zu bewahren. In erster Linie waren es kommunistische Widerstandsgruppen, Sozialdemokraten und parteilose Arbeiter, aber auch Hitlergegner aus anderen Volks schichten, die den Kampf führten. Sie schrieben nachts antifaschistische Losungen an Mauerwände. Berliner Kommunisten druckten heimlich in Wohnlauben der Kleingartenanlagen vor Köpenick und Heinersdorf Flugblätter, Handzettel und »Feldpostbriefe«, in denen dazu aufgerufen wurde, dem Naziterror Widerstand entgegenzusetzen, den Volkssturm zu verlassen, weiße Fahnen zu hissen und der Roten Armee entgegenzugehen.

Einer der illegalen Kämpfer, der Kommunist BERNHARD KARL aus Pankow, berichtete:

»Da es größere Mengen Papier für den privaten Verbrauch damals in Berlin längst nicht mehr gab, kauften wir in verschiedenen Stadtbezirken ganze Stapel Feldpostbriefe auf. Die Rückseiten bedruckten wir mit unserem Flugblatt-Text an die Berliner. >Die Rote Armee steht vor den Toren Berlins!<, hieß es darin. >Die Soldaten kommen nicht als unsere Feinde, sie kommen als Feinde unserer Unterdrücker und Ausbeuter, als Feinde des Hitlerfaschismus ...< Außerdem druckten wir noch in ungezählten Stunden Handzettel ..., die für die Häuser, Litfaßsäulen und Trümmermauern bestimmt waren.« Die Widerstandsgruppen verteilten diese Materialien am 16. April gleichzeitig, so daß es der Gestapo schwerfiel, eine Spur zu finden. Als der Krieg schon in den Straßen Berlins tobte, rief ein anderes Flugblatt zum Handeln auf: »Organisiert die Weiße Aktion. Haltet weiße Fahnen bereit. Den Zeitpunkt bestimmt Ihr selbst! Ihr werdet so behandelt werden, wie Ihr gehandelt habt!«

Die Faschisten hatten geglaubt, mit der großen Verhaftungswelle vom Sommer 1944, der auch die Mitglieder der Landesleitung der KPD BERNHARD BÄSTLEIN, FRANZ JACOB, THEODOR NEUBAUER, ANTON SAEFKOW und MARTIN SCHWANTES zum Opfer gefallen waren, der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung endgültig das Rückgrat gebrochen zu haben. Doch in mühseliger, lebensgefährlicher Kleinarbeit hatten die Kommunisten und andere Antifaschisten neue Verbindungen geknüpft und erneut Widerstandsorganisationen aufgebaut. Jetzt, als die Stunde der Befreiung nahte, traten die Widerstandskämpfer überall in Aktion.

Beauftragte des Nationalkomitees »Freies Deutschland«, die mit dem Fallschirm hinter den deutschen Linien abgesprungen waren, erhielten die Aufgabe, in der Reichshauptstadt wichtige militärische Objekte zu erkunden und Kontakte zur deutschen Widerstandsbewegung herzustellen. Eine Gruppe, darunter der Sozialdemokrat HEINZ NAWROT, geriet am l I.April 1945 in Lichtenberg in eine SS-Kontrolle und wurde in einem Feuergefecht am Weißenseer Weg völlig aufgerieben. PAUL LAMPE und HEINZ MÜLLER, Ende Februar 1945 mit einer Einsatzgruppe des Nationalkomitees »Freies Deutschland« illegal nach Berlin gekommen, organisierten im Stadtbezirk Friedrichshain die bewaffnete Kampfgruppe Osthafen, der rund 50 kommunistische und sozialdemokratische Genossen sowie parteilose Antifaschisten angehörten. Von ihrem Stützpunkt in der Stralauer Allee 26 aus unternahmen die Mitglieder dieser Kampfgruppe mutige Aktionen. Sie entwaffneten fanatische Nazis, überredeten deutsche Soldaten und Flakhelfer dazu, die Waffen niederzulegen, sie sprengten faschistische Munitionslager und verhinderten im letzten Augenblick die Zerstörung der großen Lebensmittelmagazine am Osthafen. Bei einer solchen Aktion ließen die Antifaschisten FRITZ FIEBER und PAUL SCHILLER am 23. April 1945 ihr Leben.

In Biesdorf eilte eine Gruppe Kommunisten und Sozialdemokraten den Rotarmisten entgegen und rettete den Ortsteil vor der Zerstörung. In Bohnsdorf wies WALTER MÜLLER, vor 1933 im Arbeiter-Samariter-Bund tätig, den Sowjettruppen den Weg. In Tegel ging der Kommunist KURT BEHR den Befreiern entgegen. In Köpenick-Nord empfingen am 23. April KPD-Genossen die sowjetischen Einheiten mit weißen und roten Fahnen. In Weißensee stand die Kommunistin ELSE JAHN als Lotse auf dem ersten Panzer vom Typ T-34, der sich seinen Weg durch den Stadtbezirk bahnte; sie wurde von einer S S-Kugel getötet. In
Rahnsdorf verhinderte der Arzt Dr. STÖSSEL durch sein beherztes Eingreifen, daß ein mit Frauen, Kindern und Kranken vollbesetzter Bunker unter Beschüß genommen wurde. In Friedrichshaffen ging eine Krankenschwester den sowjetischen Panzern mit einer weißen Fahne entgegen. In den Luftschutzkellern sprachen Kommunisten und andere Antifaschisten den durch die Goebbels-Propaganda verängstigten Menschen Mut zu, als die Rote Armee ihre Wohnviertel befreite.

In der Nacht vom 1. zum 2. Mai unternahmen die Faschisten beiderseits der Schönhauser Allee einen verzweifelten Ausbruchversuch. Eine Gruppe mit Panzern war bereits zwischen S-Bahnhof und Berliner Straße in schweren Kämpfen aufgerieben worden. Da erschien ein sowjetischer Offizier in einem Luftschutzkeller der Stolpischen Straße und fragte, ob jemand bereit wäre, als Parlamentär zu den Faschisten zu gehen, damit weiteres Blutvergießen verhindert werde. Ohne zu zögern, meldete sich der Kommunist OTTO LEMPKE; mit drei weiteren Männern erreichte er, daß andere ausbrechende Gruppen die Waffen streckten. Durch Mut und Beherztheit gelang es vielerorts, Wohnviertel und Ortsteile kampflos zu übergeben und Menschenleben zu retten.

Besondere Verdienste erwarben sich Berliner Antifaschisten, die unter Einsatz ihres Lebens sinnlose Vernichtungsakte fanatischer Nazis verhinderten. In Kaulsdorf und Johannisthal bewahrten Arbeiter die dortigen Wasserwerke vor der Sprengung durch die SS. An der Langen Brücke in Köpenick durchschnitt der Antifaschist KARL HENKNER die Zündschnüre für die Sprengladungen; Gleiches gelang dem Kommunisten ZOELISCH im Spreetunnel von Friedrichshagen. In vielen Betrieben harrten klassenbewußte Arbeiter während der Kampfhandlungen aus; sie dämmten Brände ein, verhinderten oft in letzter Minute faschistische Zerstörungsakte und bereiteten die Arbeitsaufnahme vor. Oft wurden sie dabei von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in Rüstungsbetrieben unterstützt, die seit langem mit deutschen Widerstandsgruppen zusammenarbeiteten.

Dramatisch verlief die Rettung des Kraftwerkes Klingenberg. Einer antifaschistischen Widerstandsgruppe im Betrieb gelang es, Verbindung zu sowjetischen Aufklärern herzustellen und sie davon zu unterrichten, daß die SS die Sprengung der Anlagen plante. Der Kommandeur der 230. Schützendivision, Oberst D. I. SCHISCHKOW, erhielt den Befehl, das Kraftwerk nach Möglichkeit sofort unbeschädigt einzunehmen. Erbitterter Widerstand der Faschisten mußte überwunden werden, bevor eine Sturmtruppe zu den Turbinenräumen und zur Schaltzentrale vordringen konnte. Gemeinsam mit deutschen Arbeitern, die ihnen den Weg wiesen, zertrennten die Rotarmisten die Sprengkabel in letzter Minute. Berlins größtes Kraftwerk war gerettet!

Im Luftschutzkeller der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität in der Hannoverschen Straße hatten Prof. Dr. JOHANNES DOBBERSTEIN und andere Mitarbeiter Zuflucht gesucht; sie veranlaßten deutsche Soldaten, die hier kämpfen sollten, zur Kapitulation, nahmen Verbindung zur vorrückenden Sowjetarmee auf und retteten damit Menschenleben und wissenschaftliches Material.

Während die Schlacht noch tobte, begannen sowjetische Offiziere in den schon befreiten Gebieten von Berlin wieder normale Lebensbedingungen für die Bevölkerung zu schaffen. Grundlage dafür war der Befehl Nr. 5 des Kriegsrates der 1. Belorussischen Front vom 23. April 1945, der die Bildung von Militärkommandanturen unmittelbar nach dem Durchzug der Kampftruppen vorsah. Den Kommandanten oblag es zunächst, die Sicherheit der Sowjettruppen im frontnahen Gebiet zu gewährleisten und versprengte faschistische Truppen und Banden des sogenannten Werwolfs unschädlich zu machen. Gleichzeitig kümmerten sie sich um die elementaren Lebensinteressen der Bevölkerung in ihrem Bereich. Herumliegende Munition mußte eingesammelt, Brände mußten gelöscht werden. Es galt, eine erste medizinische Fürsorge zu organisieren, Lebensmittel für die nächsten fünf Tage auszugeben und die Obdachlosen unterzubringen. Die Militärkommandanten nahmen umgehend Verbindung zur Bevölkerung auf. Ein sowjetischer Offizier erläuterte später gegenüber einem britischen Journalisten: »Wenn wir auf einen Mann stießen, der den Faschismus schon in Spanien bekämpft hat oder der wegen seiner Standhaftigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus jahrelang Gefangenschaft erdulden mußte, dann sahen wir in ihm einen Menschen, der uns helfen würde, die Reste der Naziherrschaft auszurotten.«
Zumeist stellten sich deutsche Antifaschisten — aus der Illegalität heraustretende Kommunisten und Sozialdemokraten sowie andere aufrechte Hitlergegner — sofort den Kommandanten zur Verfügung. Ihr erster Auftrag lautete, aus den aufbaubereiten Kräften einen Bürgermeister und Mitglieder für neue Orts- und Bezirksverwaltungen vorzuschlagen.

So wurde am 22. April in Wilhelmshagen der Kommunist JAKOB WEBER zum Ortsbürgermeister ernannt. Einen Tag später setzte der Militärkommandant den Kommunisten ERWIN HÜBENTHAL als Ortsbürgermeister von Friedrichsfelde ein. In Weißensee forderte der Kommandant Oberstleutnant JAKOWLEW eine Gruppe Antifaschisten auf: »Holen Sie alles zusammen. Kommunisten, Sozialisten, Doktoren, Professoren.« Er benannte am 25. April den Kommunisten JAKOB KASZEWSKI zum ersten Bezirksbürgermeister von Weißensee. Am gleichen Tag meldete sich in Johannisthal eine Gruppe von KPD-Genossen in der Kommandantur, die GEORG NEUMANN zum Ortsbürgermeister berief. So geschah es überall: in Müggelheim, Rauchfangswerder, Bohnsdorf und anderen Randgebieten ebenso wie in dichtbesiedelten Bezirken, die bereits befreit waren. In Steglitz wurde der Kommunist FRITZ STARKE mit der Bildung einer Bezirksverwaltung beauftragt, in Spandau der Sozialdemokrat Dr. MÜNCH. In Stadtbezirken mit einem geringeren Anteil von Arbeitern an der Wohnbevölkerung beteiligten sich viele bürgerliche Hitlergegner an den ersten Schritten zum Wiederaufbau. Über die Bildung der Bezirksverwaltung Wilmersdorf am 1.Mai liegt folgender Bericht vor:
 

»Es war eine denkwürdige Sitzung. Es galt, sterbende Menschen zu retten, Brände zu löschen, Krankenhäuser mit Lebensmitteln zu versorgen. Nachdem in formlosester Weise einige Aufgaben verteilt worden waren, begab sich dieses Gremium zum sowjetischen Kommandanten, der sein Quartier in einem Wohnhaus der Berliner Straße aufgeschlagen hatte. Auch diese Vorstellung bei dem sowjetischen Major wird den Beteiligten unvergeßlich bleiben. Fast alle waren von der Herzlichkeit der Begrüßung überrascht. Nachdem der Kommandant seiner Freude Ausdruck gegeben hatte, Vertreter eines antifaschistischen Deutschlands vor sich zu sehen, entwickelte er ein Programm des Wiederaufbaus in Wilmersdorf, daß den Anwesenden angesichts der rauchenden Trümmer draußen ganz schwindlig wurde. Allen wurde dabei klar: Hier sprach ein Freund zu Freunden, der Vertreter einer Macht, die mit allen Kräften am Aufbau eines demokratischen Deutschlands zu helfen gewillt war. Diese Besprechung fand statt, während zwei Kilometer weiter am Fehrbelliner Platz noch geschossen wurde.«

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus: Keiderling, Gerhard, Berlin 1945-1986,Berlin 1987, S. 19ff OCR-Scan by red. trend