In diesen Tagen der letzten Zuckungen
des Dritten Reiches mehrten sich die Aktionen derer, die unter
Einsatz ihres Lebens versuchten, das sinnlose Morden abzukürzen und
die Stadt vor totaler Vernichtung zu bewahren. In erster Linie waren
es kommunistische Widerstandsgruppen, Sozialdemokraten und
parteilose Arbeiter, aber auch Hitlergegner aus anderen Volks
schichten, die den Kampf führten. Sie schrieben nachts
antifaschistische Losungen an Mauerwände. Berliner Kommunisten
druckten heimlich in Wohnlauben der Kleingartenanlagen vor Köpenick
und Heinersdorf Flugblätter, Handzettel und »Feldpostbriefe«, in
denen dazu aufgerufen wurde, dem Naziterror
Widerstand entgegenzusetzen, den Volkssturm zu verlassen, weiße
Fahnen zu hissen und der Roten Armee entgegenzugehen.
Einer der illegalen Kämpfer, der
Kommunist BERNHARD KARL aus Pankow, berichtete:
»Da es größere Mengen Papier für den
privaten Verbrauch damals in Berlin längst nicht mehr gab, kauften
wir in verschiedenen Stadtbezirken ganze Stapel Feldpostbriefe auf.
Die Rückseiten bedruckten wir mit unserem Flugblatt-Text an die
Berliner. >Die Rote Armee steht vor den Toren Berlins!<, hieß es
darin. >Die Soldaten kommen nicht als unsere Feinde, sie kommen als
Feinde unserer Unterdrücker und Ausbeuter, als Feinde des
Hitlerfaschismus ...< Außerdem druckten wir noch in ungezählten
Stunden Handzettel ..., die für die Häuser, Litfaßsäulen und
Trümmermauern bestimmt waren.« Die Widerstandsgruppen verteilten
diese Materialien am 16. April gleichzeitig, so daß es der Gestapo
schwerfiel, eine Spur zu finden. Als der Krieg schon in den Straßen
Berlins tobte, rief ein anderes Flugblatt zum Handeln auf:
»Organisiert die Weiße Aktion. Haltet weiße Fahnen bereit. Den
Zeitpunkt bestimmt Ihr selbst! Ihr werdet so behandelt werden, wie
Ihr gehandelt habt!«
Die Faschisten hatten geglaubt, mit
der großen Verhaftungswelle vom Sommer 1944, der auch die Mitglieder
der Landesleitung der KPD BERNHARD BÄSTLEIN, FRANZ JACOB, THEODOR
NEUBAUER, ANTON SAEFKOW und MARTIN SCHWANTES zum Opfer gefallen
waren, der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung endgültig das
Rückgrat gebrochen zu haben. Doch in mühseliger, lebensgefährlicher
Kleinarbeit hatten die Kommunisten und andere Antifaschisten neue
Verbindungen geknüpft und erneut Widerstandsorganisationen
aufgebaut. Jetzt, als die Stunde der Befreiung nahte, traten die
Widerstandskämpfer überall in Aktion.
Beauftragte des Nationalkomitees
»Freies Deutschland«, die mit dem Fallschirm hinter den deutschen
Linien abgesprungen waren, erhielten die Aufgabe, in der
Reichshauptstadt wichtige militärische Objekte zu erkunden und
Kontakte zur deutschen Widerstandsbewegung herzustellen. Eine
Gruppe, darunter der Sozialdemokrat HEINZ NAWROT, geriet am l
I.April 1945 in Lichtenberg in eine SS-Kontrolle und wurde in einem
Feuergefecht am Weißenseer Weg völlig aufgerieben. PAUL LAMPE und
HEINZ MÜLLER, Ende Februar 1945 mit einer Einsatzgruppe des
Nationalkomitees »Freies Deutschland« illegal nach Berlin gekommen,
organisierten im Stadtbezirk Friedrichshain die bewaffnete
Kampfgruppe Osthafen, der rund 50 kommunistische und
sozialdemokratische Genossen sowie parteilose Antifaschisten
angehörten. Von ihrem Stützpunkt in der Stralauer Allee 26 aus
unternahmen die Mitglieder dieser Kampfgruppe mutige Aktionen. Sie
entwaffneten fanatische Nazis, überredeten deutsche Soldaten und
Flakhelfer dazu, die Waffen niederzulegen, sie sprengten
faschistische Munitionslager und verhinderten im letzten Augenblick
die Zerstörung der großen Lebensmittelmagazine am Osthafen. Bei
einer solchen Aktion ließen die Antifaschisten FRITZ FIEBER und PAUL
SCHILLER am 23. April 1945 ihr Leben.
In Biesdorf eilte eine Gruppe
Kommunisten und Sozialdemokraten den Rotarmisten entgegen und
rettete den Ortsteil vor der Zerstörung. In Bohnsdorf wies WALTER
MÜLLER, vor 1933 im Arbeiter-Samariter-Bund tätig, den Sowjettruppen
den Weg. In Tegel ging der Kommunist KURT BEHR den Befreiern
entgegen. In Köpenick-Nord empfingen am 23. April KPD-Genossen die
sowjetischen Einheiten mit weißen und roten Fahnen. In Weißensee
stand die Kommunistin ELSE JAHN als Lotse auf dem ersten Panzer vom
Typ T-34, der sich seinen Weg durch den Stadtbezirk bahnte; sie
wurde von einer S S-Kugel getötet. In
Rahnsdorf verhinderte der Arzt Dr. STÖSSEL durch sein beherztes
Eingreifen, daß ein mit Frauen, Kindern und Kranken vollbesetzter
Bunker unter Beschüß genommen wurde. In Friedrichshaffen ging eine
Krankenschwester den sowjetischen Panzern mit einer weißen Fahne
entgegen. In den Luftschutzkellern sprachen Kommunisten und andere
Antifaschisten den durch die Goebbels-Propaganda verängstigten
Menschen Mut zu, als die Rote Armee ihre Wohnviertel befreite.
In der Nacht vom 1. zum 2. Mai
unternahmen die Faschisten beiderseits der Schönhauser Allee einen
verzweifelten Ausbruchversuch. Eine Gruppe mit Panzern war bereits
zwischen S-Bahnhof und Berliner Straße in schweren Kämpfen
aufgerieben worden. Da erschien ein sowjetischer Offizier in einem
Luftschutzkeller der Stolpischen Straße und fragte, ob jemand bereit
wäre, als Parlamentär zu den Faschisten zu gehen, damit weiteres
Blutvergießen verhindert werde. Ohne zu zögern, meldete sich der
Kommunist OTTO LEMPKE; mit drei weiteren Männern erreichte er, daß
andere ausbrechende Gruppen die Waffen streckten. Durch Mut und
Beherztheit gelang es vielerorts, Wohnviertel und Ortsteile kampflos
zu übergeben und Menschenleben zu retten.
Besondere Verdienste erwarben sich
Berliner Antifaschisten, die unter Einsatz ihres Lebens sinnlose
Vernichtungsakte fanatischer Nazis verhinderten. In Kaulsdorf und
Johannisthal bewahrten Arbeiter die dortigen Wasserwerke vor der
Sprengung durch die SS. An der Langen Brücke in Köpenick
durchschnitt der Antifaschist KARL HENKNER die Zündschnüre für die
Sprengladungen; Gleiches gelang dem Kommunisten ZOELISCH im
Spreetunnel von Friedrichshagen. In vielen Betrieben harrten
klassenbewußte Arbeiter während der Kampfhandlungen aus; sie dämmten
Brände ein, verhinderten oft in letzter Minute faschistische
Zerstörungsakte und bereiteten die Arbeitsaufnahme vor. Oft wurden
sie dabei von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in
Rüstungsbetrieben unterstützt, die seit langem mit deutschen
Widerstandsgruppen zusammenarbeiteten.
Dramatisch verlief die Rettung des Kraftwerkes Klingenberg. Einer
antifaschistischen Widerstandsgruppe im Betrieb gelang es,
Verbindung zu sowjetischen Aufklärern herzustellen und sie davon zu
unterrichten, daß die SS die Sprengung der Anlagen plante. Der
Kommandeur der 230. Schützendivision, Oberst D. I. SCHISCHKOW,
erhielt den Befehl, das Kraftwerk nach Möglichkeit sofort
unbeschädigt einzunehmen. Erbitterter Widerstand der Faschisten
mußte überwunden werden, bevor eine Sturmtruppe zu den
Turbinenräumen und zur Schaltzentrale vordringen konnte. Gemeinsam
mit deutschen Arbeitern, die ihnen den Weg wiesen, zertrennten die
Rotarmisten die Sprengkabel in letzter Minute. Berlins größtes
Kraftwerk war gerettet!
Im Luftschutzkeller der
Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität in der Hannoverschen
Straße hatten Prof. Dr. JOHANNES DOBBERSTEIN und andere Mitarbeiter
Zuflucht gesucht; sie veranlaßten deutsche Soldaten, die hier
kämpfen sollten, zur Kapitulation, nahmen Verbindung zur
vorrückenden Sowjetarmee auf und retteten damit Menschenleben und
wissenschaftliches Material.
Während die Schlacht noch tobte,
begannen sowjetische Offiziere in den schon befreiten Gebieten von
Berlin wieder normale Lebensbedingungen für die Bevölkerung zu
schaffen. Grundlage dafür war der Befehl Nr. 5 des Kriegsrates der
1. Belorussischen Front vom 23. April 1945, der die Bildung von
Militärkommandanturen unmittelbar nach dem Durchzug der Kampftruppen
vorsah. Den Kommandanten oblag es zunächst, die Sicherheit der
Sowjettruppen im frontnahen Gebiet zu gewährleisten und versprengte
faschistische Truppen und Banden des sogenannten Werwolfs
unschädlich zu machen. Gleichzeitig kümmerten sie sich um die
elementaren Lebensinteressen der Bevölkerung in ihrem Bereich.
Herumliegende Munition mußte eingesammelt, Brände mußten gelöscht
werden. Es galt, eine erste medizinische Fürsorge zu organisieren,
Lebensmittel für die nächsten fünf Tage auszugeben und die
Obdachlosen unterzubringen. Die Militärkommandanten nahmen umgehend
Verbindung zur Bevölkerung auf. Ein sowjetischer Offizier erläuterte
später gegenüber einem britischen Journalisten: »Wenn wir auf einen
Mann stießen, der den Faschismus schon in Spanien bekämpft hat oder
der wegen seiner Standhaftigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus
jahrelang Gefangenschaft erdulden mußte, dann sahen wir in ihm einen
Menschen, der uns helfen würde, die Reste der Naziherrschaft
auszurotten.«
Zumeist stellten sich deutsche Antifaschisten — aus der Illegalität
heraustretende Kommunisten und Sozialdemokraten sowie andere
aufrechte Hitlergegner — sofort den Kommandanten zur Verfügung. Ihr
erster Auftrag lautete, aus den aufbaubereiten Kräften einen
Bürgermeister und Mitglieder für neue Orts- und Bezirksverwaltungen
vorzuschlagen.
So wurde am 22. April in
Wilhelmshagen der Kommunist JAKOB WEBER zum Ortsbürgermeister
ernannt. Einen Tag später setzte der Militärkommandant den
Kommunisten ERWIN HÜBENTHAL als Ortsbürgermeister von
Friedrichsfelde ein. In Weißensee forderte der Kommandant
Oberstleutnant JAKOWLEW eine Gruppe Antifaschisten auf: »Holen Sie
alles zusammen. Kommunisten, Sozialisten, Doktoren, Professoren.« Er
benannte am 25. April den Kommunisten JAKOB KASZEWSKI zum ersten
Bezirksbürgermeister von Weißensee. Am gleichen Tag meldete sich in
Johannisthal eine Gruppe von KPD-Genossen in der Kommandantur, die
GEORG NEUMANN zum Ortsbürgermeister berief. So geschah es überall:
in Müggelheim, Rauchfangswerder, Bohnsdorf und anderen Randgebieten
ebenso wie in dichtbesiedelten Bezirken, die bereits befreit waren.
In Steglitz wurde der Kommunist FRITZ STARKE mit der Bildung einer
Bezirksverwaltung beauftragt, in Spandau der Sozialdemokrat Dr.
MÜNCH. In Stadtbezirken mit einem geringeren Anteil von Arbeitern an
der Wohnbevölkerung beteiligten sich viele bürgerliche Hitlergegner
an den ersten Schritten zum Wiederaufbau. Über die Bildung der
Bezirksverwaltung Wilmersdorf am 1.Mai liegt
folgender Bericht vor:
»Es war eine denkwürdige Sitzung. Es
galt, sterbende Menschen zu retten, Brände zu löschen, Krankenhäuser
mit Lebensmitteln zu versorgen. Nachdem in formlosester Weise einige
Aufgaben verteilt worden waren, begab sich dieses Gremium zum
sowjetischen Kommandanten, der sein Quartier in einem Wohnhaus der
Berliner Straße aufgeschlagen hatte. Auch diese Vorstellung bei dem
sowjetischen Major wird den Beteiligten unvergeßlich bleiben. Fast
alle waren von der Herzlichkeit der Begrüßung überrascht. Nachdem
der Kommandant seiner Freude Ausdruck gegeben hatte, Vertreter eines
antifaschistischen Deutschlands vor sich zu sehen, entwickelte er
ein Programm des Wiederaufbaus in Wilmersdorf, daß den Anwesenden
angesichts der rauchenden Trümmer draußen ganz schwindlig wurde.
Allen wurde dabei klar: Hier sprach ein Freund zu Freunden, der
Vertreter einer Macht, die mit allen Kräften am Aufbau eines
demokratischen Deutschlands zu helfen gewillt war. Diese Besprechung
fand statt, während zwei Kilometer weiter am Fehrbelliner Platz noch
geschossen wurde.«
Editorische
Anmerkungen
Der Text wurde entnommen aus:
Keiderling, Gerhard, Berlin 1945-1986,Berlin 1987, S. 19ff
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