Massenproteste in Algerien
Bernard Schmid berichtet


Teil 4: Der Rückzug von Altpräsident Abdelaziz Bouteflika löst die politische Krise nicht

04/2019

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Artikel vom 19. März 19

Zum ersten Mal habe ich keine Lust, mein Land zu verlassen“, schrieb jemand mit Sprühfarbe auf eine Wand. Erneut Millionen von Menschen gingen am vorigen Freitag, den 15. März 19 in Algerien auf die Straße. Dort hat der 82jährige und gesundheitlich schwer angeschlagene Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika (korrekte Transkription aus dem Arabischen in internationaler Lautschrift: ‘Abdel’aziz Butfliqa) unterdessen an diesem Montag, den 18. März d.J. offiziell bestätigt, er werde über das Ende seiner laufenden Mandats hinaus im Amt bleiben. Während seine Amtszeit auf unbestimmte Zeit hinaus verlängert wird, wurde die ursprünglich auf den 18. April dieses Jahres angesetzte Präsidentschaftswahl abgesagt. Und dies, ohne ein neues Datum festzulegen. Erst in rund einem Jahr, nach Abhaltung einer „Nationalkonferenz“ mit den wichtigsten Interessenverbänden, soll dann eine Wahl mit möglicherweise neuen Regeln stattfinden.

Studierende brachten es am vorigen Freitag, den 15.03.19 auf einem der zahllosen, meist mit viel Kreativität gebastelten und grundsätzlich ohne Organisationsbezeichnung ausgestatteten, Protestschilder in folgender Formulierung auf den Punkt: „Wir wollten Wahlen ohne Bouteflika. Nun bekommen wir Bouteflika ohne Wahlen“. Algerien zählt derzeit 1,7 Millionen Studierende, eine Zahl, die sich gegenüber dem Beginn von Bouteflikas erster Amtszeit vor zwanzig Jahren vervierfacht hat. In ihren Reihen befindet sich ein harter Kern des derzeitigen Protestpotenzials. Die Machthaber hatten sich ausgerechnet, durch die Anordnung, die ursprünglich für Mitte März d.J. angesetzten Hochschulferien um zehn Tage vorzuziehen und im Rahmen dieser Vorverlegung die Studierenden nach Hause zu schicken, Ruhe erzeugen zu können. Doch daraufhin wurden mehrere Universitäten kurzerhand besetzt.

Die stärkste Oppositionspartei bilden derzeit jedoch die Fußballstadien, in denen sich bereits seit Jahren ein Gutteil des gesellschaftlichen Protests konzentrierte und wo sich ein wachsender Teil jener jungen Generation trifft, der keine Lust auf allzu regelmäßige Moscheegänge hat. In Sprechgesängen verspotten sie derzeit Bouteflika und die übrigen Angehörigen der oligarchischen Führungsschichten, ob in Uniform – der Oberbefehlshaber der Armee, Ahmed Gaïd Salah, unterstützte bis vor kurzem die Präsidentschaftskandidatur Bouteflikas und forderte am Montag, den 18.03.19 „schnelle Lösungen“ für die politische Krise, in Gestalt einer kontrollierten Übergabe der politischen Macht – oder in Zivil. Gaïd Salah bleibt zwar im Konkreten stumm wie eine Sphinx, doch hat sich seine Rhetorik gewandelt. Anfänglich sah er hinter den Protesten eine Hand des Auslands und beschrieb drohende Szenarien eines Bürgerkriegs wie in Syrien und im ‘Iraq (eingedeutscht, doch unkorrekte Transkription aus dem Arabischen: Irak). Inzwischen drückt er seine „Bewunderung über die Gewaltlosigkeit und das Verantwortungsbewusstsein“ der Demonstrierenden aus. Offen bleibt bislang die Frage, ob er auch bereit sein wird, Bouteflika, dem er seinen Aufstieg an die Armeespitze mit verdankt, in Richtung Ausgang zu drängen.

Auch ein Teil der privaten Bourgeoisie des Landes, welcher mehrere Presseorgane wie die Tageszeitung Liberté – Eigentum des berbersprachigen Großunternehmers Ibrahim Rebrab (vgl. über ihn: https://www.jeuneafrique.com ) – im unmittelbaren Besitz gehören, unterstützen den Protest. Allerdings aufgrund ihr ureigener Anliegen, die, höflich ausgedrückt, nicht unbedingt mit den Interessen der Masse der übrigen Protestierenden konform gehen dürften. Erhofft dieser Teil der Bourgeoisie sich doch einen Abbau der Staatswirtschaft und mit ihr einhergehender mafiöser Seilschaften; damit zugleich aber auch beschleunigte Privatisierungen und mehr eigenen Zugriff auf die Filetstücke der verbliebenen einheimischen Ökonomie. In mehreren Fällen allerdings riefen solche Unternehmer in den vergangenen Wochen ihre Beschäftigten und darüber hinaus die Bevölkerung an einem Tag zum Streik auf, um dann jedoch am folgenden Tag ihre nicht zur Arbeit erschienenen Lohnabhängigen zu sanktionieren. Insofern muss damit gerechnet werden, dass hier irgendwann konträre Interessen auch erkennbar auseinander streben werden. Bislang allerdings erscheinen sie nicht öffentlich erkennbar als gegeneinander gestellt.

Ins Kreuzfeuer der Kritik auf den Straßen und Plätzen in Algerien geraten derzeit auch vermehrt die Regierenden in Frankreich, die sich ähnlich wie die US-Administration de facto hinter ihre Kollegen in Algier stellen. Besonders im Falle der französischen früheren Kolonialmacht ist dies, aufgrund der besonders blutigen Vergangenheit des Kolonialkriegs in Algerien, ein potenziell brisantes Thema. Auf mehreren Transparenten wurde in der vergangenen Woche (d.h. der Woche vom 11. zum 17. März 19) die Haltung des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron ins Visier genommen: Er wird als Komplize der Machthaber in Algier dargestellt. Macron hatte zunächst den Rückzug der angekündigten Kandidatur Bouteflikas für eine fünfte Amtszeit begrüßt und einige Tage später davon gesprochen, Algerien befinde sich in einer demokratischen Übergangsphase; dies sei gut so, allerdings solle sie „möglichst kurz“ ausfallen. Ansonsten halte man eine „Neutralität“ ein.

Editorische Hinweise

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