Massenproteste in Algerien
Bernard Schmid berichtet


Teil1: ‘Abdel’aziz Boutefliqa (Bouteflika) kündigt erneute Präsidentschaftkandidatur an und löst einen Proteststurm aus

04/2019

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Die Machthaber machten es bis zum Schluss spannend. Am Sonntag Abend (03. März 19) gegen zwanzig Uhr, am letzten Tag vor dem Einreichungsschluss für Bewerbungen – die Frist lief um 24.0 Uhr ab -, erfolgte die entscheidende Nachricht. Die erneute Präsidentschaftskandidatur des Amtsinhabers Abdelaziz Bouteflika ( ANM.: französierte Schreibweise; korrekte Transkription aus dem Arabischen in internationaler Lautschrift: 'Abdel'aziz Butefliqa ) sei beim Verfassungsgericht angekündigt worden. Die Erklärung wurde jedoch nicht durch Boutefliqa ( Butefliqa ) selbst hinterlegt, sondern durch seinen neuen Wahlkampfleiter, den amtierenden Transportminister Abdelghani Zaalane. Letzterer war soeben frisch ernannt worden, denn infolge der massiven Protestdemonstrationen gegen Bouteflikas Bewerbung um ein fünftes Mandat in Folge hatte der amtierende Staatschef kurz zuvor seinen bisherigen Wahlkampfleiter, den früheren Premierminister Abdelmalek Sella, gefeuert. Zahlreiche Menschen hatten an den beiden vorausgehenden Freitagen (22. Februar und 1. März 19) im ganzen Land gegen die Kandidatur für die fünfte Amtszeit demonstriert. Beim zweiten Mal waren es mutmaßlich bereits über eine Million.

Bouteflikas Abwesenheit aus den Räumlichkeiten des Verfassungsgerichts hatte einen gewichtigen Grund: Der gesundheitlich schwer angeschlagene Politiker, der am vorigen Samstag, den 02. März d.J. nunmehr 82 Jahre alt wurde, hielt sich seit Tagen in Genf auf, wo er sich bei Redaktionsschluss noch immer in ärztlicher Behandlung befand. Seit einem schweren Schlaganfall im April 2013, infolgedessen Bouteflika mehrere Monate lang in einem Pariser Militärkrankenhaus behandelt wurde – „ein Gipfel“ für den Repräsentanten einer Partei, der „Nationalen Befreiungsfront“ FLN, und einer Generation, die ihre gesamte politische Legitimität aus dem antikolonialen Befreiungskrieg gegen Frankreich (1954 bis 62) schöpfen -, gilt das seit erstmals im April 1999 gewählte Staatsoberhaupt als faktisch amtsunfähig.

Abdelaziz Bouteflika gehörte erstmals im Unabhängigkeitsjahr 1962 als jüngster Minister, damals im relativ zarten Alter von 25, einer Regierung an; zunächst als Jugend-, Sport- und Tourismusminister. Von 1965 bis Anfang 1979 bekleidete er den Posten des Außenministers, damals eine ausgesprochen prestigereiche Funktion Denn infolge seiner unter großen Verlusten errungenen Unabhängigkeit – die französische Staatsmacht setzte im Algerienkrieg äußerst massiv die Folter und Praktiken wie „Verschwindenlassen“ ein, und ihre Kriegsführung kostete real mindestens 300.000 Menschenleben, der FLN selbst spricht von einer Million – genoss Algerien eine Reputation als ein „Leuchtfeuer der Dritten Welt“, und die Hauptstadt Algier beherbergte damals zahllose von ihrem Anspruch her revolutionäre, antikoloniale und linksnationalistische Bewegungen. Nach dem Ableben des Präsidenten Houari Boumédiène, dessen Amtsjahre von 1965 bis Ende 1978 den Höhepunkt der staatssozialistischen und antikolonialen Ära markierten, wurde Bouteflika jedoch vorübergehend von der politischen Bühne verbannt und in ein vergoldetes Exil in den Golfstaaten weggelobt. Ursächlich dafür waren Korruptions- und Unterschlagungsphänomene im von ihm geleiteten Außenministerium, besonders auf Botschafterposten. Unter Boumiédiène, dem persönlich nie Korruption vorgeworfen wurde, ließ die politische Führung oft untergeordnete Amtsträger sich korrumpieren, um sich auf diesem Wege deren politischer Loyalität zu versichern, da diese sich dadurch angreifbar und politisch abhängig machten.

Anfang 1999 wurde Bouteflika aus seiner luxuriösen Verbannung zurück auf die politische Bühne gerufen, da die Staatsmacht nun einen in den Bürgerkriegsjahren der Neunziger unverbrauchten Repräsentanten benötigte, vordergründig, um das zerrissene Land zu einigen. Bouteflika übernahm die Rolle eines Bonaparte-Verschnitts, der dafür sorgen sollte, nach Jahren tiefer politischer Spaltungen als scheinbar über den Parteien, ideologischen Strömungen und Interessengruppen stehender „starker Mann“ die Exekutive zu stabilisieren. Dies gelang ihm zunächst auch weitgehend.

Konkret nahmen seine Initiativen die Gestalt eines, am 16. September 1999 bei einer Volksabstimmung abgesegneten, Amnestiegesetzes an. Unter bestimmten Bedingungen – etwa der, dass keine individuelle Beteiligung an Massakern oder Bombenattentaten formell nachweisbar war – konnten die zwischen 1992 und den späten neunziger Jahren bewaffnet agierenden Islamisten eine Garantie der Straflosigkeit erhalten, wenn sie die Waffen niederlegten. (Vgl. unsere damalige Reportage aus früheren Kampfgebieten in Algerien v. 1999: https://jungle.world/artikel sowie die beiden nachfolgenden Artikel: https://jungle.world/artikel/2000/ und https://jungle.world/artikel/2000/05) Die daraufhin nicht von allen Bürgerkriegsbeteiligten befolgte, aber doch auf breiter Front eintretende Waffenruhe wurde Bouteflika lange Jahre hindurch zugute gehalten und bildete wohl sein wichtigstes politisches Kapital, da es ihm die Aura des „Friedensbringers“ eintrug. De facto erntete er allerdings nur die Früchte, die aus der objektiven Situation erwuchsen, da die bewaffnet kämpfenden Islamisten den Bürgerkrieg in den späten neunziger Jahren verloren hatten. Deren Massenbasis war ihnen bei weitem nicht im ursprünglich erwarteten Ausmaß gefolgt, und 1996/97 begingen die „Bewaffneten islamischen Gruppen“ (GIA) – deren Agieren für die strategisch denkenden Islamisten schnell kontraproduktiv wurde – vor diesem Hintergrund Massaker an Teilen der Zivilbevölkerung. Bereits 1997 wurden daraufhin hinter den Kulissen erste Waffenstillstandsvereinbarung zwischen der seit 1992 verbotenen „Islamischen Rettungsfront“ (FIS) respektive deren bewaffnetem Arm, der „Islamischen Rettungsarmee“ AIS, und der Militärführung des Landes geschlossen. Bouteflika verlieh diesem Beginn einer militärischen Stabilisierung, die eine Konsolidierung der Staatsmacht erlaubte, nur noch einen politischen Deckmantel.

Da überdies kurz nach Bouteflikas Amtsantritt der Rohölpreis auf den Weltmärkten ab dem Anfang der 2000er Jahre stark zu klettern begann, genoss er vor allem in den ersten Jahren eine gewisse Popularität, von der sogar bis zum Schluss Überreste verblieben. Wahrscheinlich hätte er diese Reputation sogar beibehalten und mit ihr auf's Altenteil gehen können, hätte er seinen Abgang von der Staatsspitze nur rechtzeitig vollzogen. Doch den Zeitpunkt dafür hat er bei weitem verpasst. In Wirklichkeit regiert seit Jahren auch nicht mehr Abdelaziz Bouteflika, der gar nicht mehr in der Lage ist, sich etwa in Ansprachen an die Bevölkerung zu wenden, sondern eine Personengruppe, in der sein Bruder Said Bouteflika eine zentrale Rolle spielt. Abdelaziz Bouteflika wird nur noch von Zeit zu Zeit im Rollstuhl ins Bild geschoben, bleibt meistens stumm, und bei den staatlich inszenierten Demonstrationen „für eine neue Kandidatur des Präsidenten“ zu Anfang des Jahres, aber auch etwa bei Auftritten der Regierungsspitze zum Gebet in der Moschee wurde er gar durch sein überlebensgroßes Portrait ersetzt. Seitdem wird er in weiten Teilen der Bevölkerung nur noch ironisch „der regierende Bilderrahmen“ genannt (vgl. https://www.tf1.fr/ & https://www.youtube.com oder https://www.youtube.com/watch?v=zuXBH9hZDnE ), und die bis dahin bestehende Restsympathie für seiner Person ist einem weit verbreiteten Sarkasmus, ja zum Teil blankem Hass gewichen.

Die daraufhin ausbrechenden spontanen Demonstrationen, die vor allem an den Freitagen massiv ausfallen – das algerische Wochenende fällt auf Freitag und Samstag; die Protesttermine erklären sich nicht hauptsächlich aus religiösen, eher aus praktischen Gründen – haben alle Oppositionskräfte überrascht. Organisierte Parteien spielen deswegen bislang nur eine absolut untergeordnete Rolle in den Protesten, die bis zum Redaktionsschluss gewaltlos blieben, von polizeilichen Tränengaseinsätzen, durch die Einsatzkräfte verletzten Journalisten und Dutzenden von Festnahmen einmal abgesehen. Ein Großteil der Bevölkerung will auf keinen Fall das Szenario der frühen neunziger Jahren sich wiederholen sehen, als infolge der durch Massenproteste im Oktober 1988 erzwungenen demokratischen Öffnung – die der Einparteienherrschaft des FLN ein Ende bereitete – der radikale und militante Islamismus in das politische Vakuum vorstieß und sich zur vermeintlichen Alternative aufbaute. Die Regierung spielt mit der Drohung, ein libysches oder syrisches Szenario könne das Land bedrohen. Die Bevölkerung regiert darauf, indem die Masse der Demonstrierenden peinlich darauf achtet, dass es nicht zu Ausschreitungen oder Plünderungen kommt.

Die durch weite Teile der Bevölkerung abgelehnte Kandidatur einer lebenden Mumie zum höchsten Staatsamt widerspiegelt die Unfähigkeit der herrschenden Oligarchie, sich auf eine Nachfolge zu einigen. Tiefe Konflikte, insbesondere den Grad des wirtschaftlichen Protektionismus oder der „Öffnung“ für globale Investoren betreffen, durchziehen die aus Staats-, Partei- und Militärbürokratie sowie Privatunternehmen bestehende Oligarchie. Den bislang ausbleibenden Kompromiss in diesen Kreisen will man nun nachholen: In einem Brief an die Bevölkerung versprach ihre faktische Marionette Bouteflika, die fünfte Amtszeit nicht zu Ende zu führen. Vielmehr solle eine „nationale Konferenz“ einberufen werden, welche die Modalitäten der Nachfolge regeln und vorgezogene Neuwahlen anberaumen solle.

Dafür könnte es jedoch reichlich spät sein. Die mangelnde Einigung innerhalb der Oligarchie hat eine Bresche geöffnet, in welche eine sich in Teilen rapide politisierende Bevölkerung vorstößt. Vielleicht zieht die Staatsmacht noch die Reißlinie mit juristischen Mitteln, nachdem der Leiter der Wahlkommission, Abdelouahab Derbal, darauf insistiert hatte, Kandidatur müssten persönlich und nicht durch Vertreter eingereicht werden. Aber auch dies würde wohl ein politisches Krisenszenario eröffnen.

Editorische Hinweise

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