Kapitalismus und Krise
Eine Reformulation des „Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate“

Von Daniel Ittermann
04/05

trend onlinezeitung
Die Beantwortung der Frage nach den langfristigen Entwicklungstendenzen des kapitalistischen Systems im Rahmen des Marxschen Systems war und ist strittig. Dies gilt sowohl für die klassischen Kontroversen über die Marxschen Reproduktionsschemata wie auch für das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ (vgl. a. Shaikh 1978). Die Beantwortung dieser Fragestellung ist dabei nicht nur von akademischer, sondern auch von praktischer Relevanz. Lässt sich nämlich zeigen, daß die kapitalistische Produktionsweise einen endogenen Krisenmechanismus enthält, dann ist die Forderung nach einem alternativen Modus gesamtgesellschaftlicher Reproduktion kein abstraktes Postulat mehr, sondern hat eine Fundierung in der materiellen Basis der gesellschaftlichen Verhältnisse ( vgl.a. Luxemburg 1979: 375f.).     

Im folgenden wird diese Fragestellung aufgegriffen. Im Zentrum meiner Ausführungen steht das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“. Bekanntlich hat Marx seinen Ausführungen zum Fall der Profitrate die Annahme einer steigenden organischen Zusammensetzung zugrundegelegt. In meinen Überlegungen soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich diese Annahme endogenisieren lässt. Meine Argumentation erfolgt dabei in zwei Schritten. In einem ersten Schritt werde ich die Marxschen Hinweise rekonstruieren, die die Endogenität einer wachsenden organischen Zusammensetzung versuchen zu plausibilisieren. Es soll gezeigt werden, daß sich die Marxsche Modellierung lediglich auf einen Spezialfall reduziert, der die Tendenz der Profitrate zum Sinken nicht hinreichend zu begründen vermag. Im Gegensatz zur Marxschen Argumentation werde ich ein Modell präsentieren, das versucht plausibel zu machen, das zumindest in längerer Frist rückläufige Akkumulationsquoten dominieren.  

Während Marx im ersten Band des „Kapital“ versucht die Zunahme der organischen Zusammensetzung über einer vergleichende Analyse der Zusammensetzung der Preise der einzelnen Waren zu plausibilisieren (vgl. Marx 1987: 411), so lässt sich im dritten Band im Kontext der Analytik konjunktureller Schwankungen ein Argumentationsmuster identifizieren, das versucht dieselbe zu endogenisieren. Ausgangspunkt der Marxschen Überlegungen ist eine Situation von Vollbeschäftigung, in der zusätzliche Investitionen in konstantes und variables Kapital zu einer Konstanz oder sogar Reduktion der Mehrwertmasse führen. Im Gegensatz zum ersten Band, wo diese Situation zu einer Reduktion des Investitionsvolumens führt (vgl. Marx 1987: 648 f., 661 f.), modelliert Marx hier einen verschärften Konkurrenzkampf der Kapitale um die Mehrwertmasse. Entscheidend ist nun, daß im Zuge dieses Konkurrenzkampfes Technologien zum Einsatz kommen, die aufgrund der progressiv steigenden Ausgaben  pro zusätzlich eingestellter Arbeitskraft   einen hohen Grad der organischen Zusammensetzung aufweisen. „Der Preisfall und der Konkurrenzkampf hätten (...) jedem Kapitalisten einen Stachel gegeben, den individuellen Wert seines Gesamtprodukts durch Anwendung neuer Maschinen, neuer verbesserter Arbeitsmethoden, neuer Kombinationen unter dessen allgemeinen Wert zu senken, d.h. die Produktivkraft eines gegebenen Quantums Arbeit zu steigern, das Verhältnis des variablen zum konstanten zu senken und damit Arbeiter freizusetzen, kurz eine künstliche Überbevölkerung zu schaffen.“ (Marx 1979: 265). Die Problematik der Marxschen Argumentation besteht darin, daß sie lediglich zeigt, daß die Existenz einer industriellen Reservearmee ein systemkonstitutives Moment kapitalistischer Vergesellschaftung ist; eine langfristige Entwicklungstendenz der organischen Zusammensetzung lässt sich daraus nicht ableiten. Die These eines tendenziellen Falls der Profitrate bleibt somit unausgewiesen. 

Von einigen Autoren ist daraus die Konsequenz gezogen worden, daß die Entwicklungsrichtung der Profitrate indeterminiert ist (vgl. z.B. Gillman 1969: 34f., Sweezy 1970: 123ff.). Dabei dürften nicht nur theorieinterne Defizite eine Rolle spielen bzw. gespielt haben, sondern auch die historische Erfahrung überzyklischer Wachstumsschwankungen. Insbesondere die Nachkriegsprosperität dürfte ein Interpretationsschema der Marxschen Theorie begünstigt haben, das die prinzipielle Offenheit kapitalistischer Entwicklung betont. Im Gegensatz dazu wird hier ein Modell kapitalistischer Entwicklung vertreten, in dem die Zunahme der organischen Zusammensetzung eine endogene Größe darstellt. Überzyklische Wachstumsschwankungen sind zwar auch im Rahmen dieses Modells nicht ausgeschlossen; gleichwohl wird kapitalistische Entwicklung nicht einfach als offener Prozess konzipiert, sondern es wird davon ausgegangen, daß zumindest in längerer Frist der tendenzielle Fall der Profitrate dominiert. 

Legt man die Marxschen Ausführungen im ersten Band des „Kapital“ zugrunde, dann besteht aus zwei Gründen die Notwendigkeit einer maximalen Kapazitätsauslastung der Kapitale. Marx hat im ersten Band des „Kapital“ gezeigt, daß die Kapitale mit den fortgeschrittensten Produktionstechnologien einen Extramehrwert erzielen (vgl. Marx 1987: 336f.) Da der Produktivitätsvorsprung dieser Kapitale zeitlich limitiert ist, hängt die Masse des zu erzielenden Extramehrwerts vom Grad der Kapazitätsauslastung ab. Wird der Grad der Kapazitätsauslastung gesteigert, dann nimmt in entsprechender Weise die Masse des Extramehrwerts zu wie auch umgekehrt. Legt man ferner die Marxsche Überlegung zugrunde, daß die fixen Elemente des konstanten Kapitals bereits vor ihrer physischen Vernutzung aufgrund der intrasektoralen Konkurrenz aus dem Produktionsprozess ausscheiden (vgl. Marx 1980: 171ff.), so ist auch in diesem Fall der Kapazitätsauslastungsgrad für die zu erzielende Mehrwertmasse von Relevanz. Die Möglichkeiten der Maximierung des Kapazitätsauslastungsgrades mit einer gegebenen Anzahl von Arbeitern sind indes limitiert durch die natürlichen und sozialen Grenzen des Arbeitstages. Erstens bedarf der Arbeiter Zeit zur Reproduktion seiner Arbeitskraft. Zweitens führt der extensive Gebrauch der Arbeitskräfte zu deren frühzeitigen Verschleiß, so daß die Notwendigkeit einer Normierung des Arbeitstages besteht (vgl. Marx 1987: 247ff.). Soll der Kapazitätsauslastungsgrad dennoch gesteigert werden, so müssen zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden. Die Höhe der Ausgaben, die einen maximalen Kapazitätsauslastungsgrad gewährleisten, hängt dabei vom Grad der organischen Zusammensetzung ab. Produzieren die Kapitale mit hoher organischer Zusammensetzung, dann fallen die Ausgaben für die zusätzlich einzustellenden Arbeitskräfte geringer aus als wenn die organische Zusammensetzung einen geringen Grad aufweist. Technologien mit hoher organischer Zusammensetzung haben –zumindest aus der Perspektive des Einzelkapitals- mithin den Effekt einer Steigerung der Mehrwertmasse pro eingesetzter Kapitaleinheit. Langfristig dürfte daher die organische Zusammensetzung zunehmen, so daß die Profitrate tendenziell fällt. Dies gilt auch dann, wenn man die durch die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit bewirkte Verbilligung des variablen Kapitalteils in Rechnung stellt. Zwar wird durch dessen Verbilligung der Fall der Profitrate gebremst, doch nimmt der kompensierende Effekt mit fortschreitender Zunahme der organischen Zusammensetzung ab aufgrund der sukzessiven Reduktion der „gleichzeitigen Arbeitstage“ (Marx). Ferner dürften aufgrund der mit der relativen Mehrwertproduktion einhergehenden konsumtiven Nachfragelücke die zyklischen Ausschläge des Wachstumsverlaufs verstärkt werden (vgl. a. Hickel 1979: LXXXVI ff.).

Auf modelltheoretischer Ebene lässt sich somit zeigen, daß in längerer Frist mit rückläufigen Akkumulationsquoten zu rechnen ist. Ob dieser Prozess linear verläuft, lässt sich allerdings theoretisch nicht beantworten, sondern hängt im wesentlichen von exogenen Faktoren ab. Durch das Auftreten von Produktinnovationen kann der tendenzielle Fall der Profitrate verzögert bzw. ein überzyklischer take-off generiert werden (vgl. Kleinknecht 1979: 97ff., s.a. Marx 1979: 246f.). Da insbesondere in Krisensituationen Produktinnovationen in verstärktem Maße zum Einsatz kommen (vgl. Kleinknecht 1984: 64ff.), ist es zumindest nicht unplausibel davon auszugehen, daß sich kapitalistisches Wachstum in Form „langer Wellen“ vollzieht. Durch das massierte Auftreten von Produktinnovationen wird die Zunahme der organischen Zusammensetzung zunächst reduziert, um dann langfristig wieder anzusteigen (vgl. Kleinknecht 1979: 97ff.). Die Nachkriegsprosperität dürfte im wesentlichen durch diesen Mechanismus bedingt gewesen sein. Aufgrund einer umfassenden Durchkapitalisierung des Reproduktionsbereiches konnte die zunehmende organische Zusammensetzung gebremst werden (vgl. Kleinknecht 1979: 97ff., s.a. Hirsch/Roth 1986, Lutz 1984). Durch die damit einhergehenden Wachstumsprozesse wurde die institutionalisierte Arbeiterbewegung gestärkt, so daß eine hinreichende Nachfrage sowohl für die Produktinnovationen wie auch für die sich sukzessiv verbilligenden Finalprodukte bestand (vgl. a. Lipietz 1985: 124). Das statistisch zu registrierende Phänomen „langer Wellen“ im Rahmen kapitalistischer Entwicklung ist somit mit der Marxschen Hypothese einer langfristig zunehmenden organischen Zusammensetzung kompatibel. Die Notwendigkeit einer Revision dieser Hypothese besteht daher weder in theoretischer noch in empirischer Hinsicht.

Die politischen Implikationen dieser Hypothese habe ich bereits eingangs angedeutet. Wenn die organische Zusammensetzung in längerer Frist zunimmt, dann ist von einer sukzessiven Zunahme der industriellen Reservearmee wie auch –damit einhergehend- einer sukzessiven Reduktion des Reproduktionsniveaus der Arbeiterklasse auszugehen. Einer politischen Regulation entzieht sich dieser Prozess weitestgehend. Dies gilt sowohl für die durch das neoliberale wie auch durch das keynesianische Paradigmata angeleiteten Politikansätze. Eine forcierte Erhöhung der Mehrwertrate, wie sie dem neoliberalen Paradigma zugrunde liegt, wirkt allenfalls als Palliativ, das lediglich kurzfristig positive Beschäftigungseffekte zeitigt. Aufgrund der mit der Erhöhung der Mehrwertrate einhergehenden Reduktion der konsumtiven Endnachfrage dürfte der Wachstumsverlauf darüber hinaus insgesamt eine instabilere Form erhalten. Während im Rahmen keynesianischer Politikmuster dieser Effekt vermieden werden kann, so besteht deren Problematik darin, daß die Stärkung der konsumtiven Endnachfrage den Fall der Profitrate beschleunigt, so daß vermehrte Freisetzungseffekte zu erwarten sind. Auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise ist somit die Bewältigung der mit der zunehmenden organischen Zusammensetzung einhergehenden Probleme nicht möglich. Erst wenn die gesamtgesellschaftliche Reproduktion unter unmittelbar gesellschaftliche Kontrolle gestellt wird, lassen sich die skizzierten Problematiken vermeiden. 

Literatur 

Gillman, J.M.: Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, Frankfurt/M. 1969 

Hickel, R.: Konjunktur und Krise – neu betrachtet, in: Diehl, K., Mombert, P. (Hrsg.): Wirtschaftskrisen, Frankfurt/M. u.a. 1979, S. V-CXLV  

Hirsch, J./Roth, R. Das neue Gesicht des Kapitalismus, Hamburg 1986  

Kleinknecht, A.: Innovation, Akkumulation und Krise, in: Prokla 35, Berlin 1979, S.85-104 

Kleinknecht, A.: Innovationsschübe und Lange Wellen: Was bringen „Neo-Schumpeterianische“ Kriseninterpretationen?, in: Prokla 57, Berlin 1984, S.55-78

Lipietz, A.: Akkumulation, Krisen und Auswege, in: Prokla 58, Berlin 1985, S. 109-138 

Lutz, B.: Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt/M. u.a. 1984  

Luxemburg, R.: Sozialreform oder Revolution?, in: Luxemburg, R.: Gesammelte Werke, Bd. 1.1., Berlin (O) 1979, S.367-466  

Marx, K.: Das Kapital, Bd. 1, Berlin (O) 1987
Marx, K.: Das Kapital, Bd. 2, Berlin (O) 1980
Marx, K.: Das Kapital, Bd. 3, Berlin (O) 1979   

Shaikh, A.: Eine Einführung in die Geschichte der Krisentheorien, in: Prokla 30, Berlin 1978, S. 3-42 

Sweezy, P.M.: Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Frankfurt/M.1970

Editorische Anmerkungen

Der Autor  stellte uns diesen Artikel am 8.04.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung.