Man sieht dich
nicht und du willst nicht sehn
Man hört dich nicht – doch du musst hören
Der
israelische Dichter T. Carmi, der auch als
Übersetzer tätig war, u. a. Shakespeare
und Brecht ins Hebräische
übertrug
Ein stilles Erbe
zwischen Emigranten heute und Emigranten damals,
das plötzlich aufgewühlte Beschützer bekommt. 100
Jahre alte Bäume werden für den Bau eines
Flüchtlingsheims geopfert, ja, der gesamte
Lankwitzer Leonorenpark soll geopfert werden, damit
450 Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Nahen und
Mittleren Osten eine feste Bleibe erhalten. Der
Senat von Berlin rechnet überhaupt nicht – schon
das allein ist Tollheit – mit nennenswertem
Widerstand. Zwei Bürgerinitiativen bilden sich,
nehmen die Kampfansage der kopflos agierenden
Stadtoberen an – bis hin zu einer gerichtlichen
Klage auf einstweilige Verfügung zum sofortigen
Stopp der Abholzung. Eine Abgeordnete der
LINKEN-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus,
Franziska Brychcy, solidarisiert sich am Morgen der
Abholzung, am 20. Februar 2017, mit den am Bauzaun
protestierenden Anwohnern. Sie spricht von
Politikversagen. Aber wessen Politikversagen ist
hier eigentlich gemeint? Brychcy meint den Bezirk,
die Rebellen dagegen den Senat. Ihre kenntnisreiche
Verdammung des Senats (auch der linke Dichter Bert
Brecht wird zitiert!) haben die Rebellen fein
säuberlich auf Plakate geschrieben. Eine
Senatssprecherin ist herbeigeeilt, lässt ein
kämpferisches Hohelied der senatseigenen
Flüchtlingspolitik auf die Köpfe der Versammelten
niedersausen, während das Heer der Senatsmaschinen
gegen die Bäume aufmarschiert. Diese Situation
erinnert an die Aufmärsche des preußischen Heeres
im vorvorigen Jahrhundert, erst gegen das Heer der
Dänen, dann gegen das Heer der Österreicher,
begleitet von den Klängen machtvoller
Militärkapellen, psychologische Kriegsführung. Die
Luft ist von wütendem Motorenlärm erfüllt. Während
die Bäume fallen, weint eine ältere Anwohnerin des
Parks. Ein Ungetüm von Baumbekämpfungsmaschine
kurvt ratternd an ein wehrloses Opfer heran, greift
es, umarmt es, schält es und zerteilt kurz
aufheulend die Beute. Der Kopf der Maschine hat
Motoren wie Augen eines Ungeheuers, die die
Fähigkeit besitzen, die Menge zu fixieren. Eine
Anwohnerin kreischt, eine andere schreit „Pfui!“,
auf einmal macht sich Unmut von Dutzenden von
Revoltierenden kollektiv und lauthals Luft.
Zerstörte Bäume zum Entsorgen vor
dem Pflegeheim gestapelt / 1.3.2017
Dass der Berliner
Senat die Anwohner des Leonorenparks nicht gefragt
hat (sie sind nur lästige Wohner!), empört auch die
Opposition im Berliner Abgeordnetenhaus. Der
FDP-Chef der Berliner Volksvertretung Sebastian
Czaja klagt an: „Die Nacht- und Nebelaktion, mit
der Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher
ungeachtet aller Einwände über 100 Jahre alte Bäume
im Park des Seniorenheims abholzen will, spricht
Bände über das demokratische Grundverständnis der
Politikerin der Linkspartei.“ Auch die AfD im
Bezirk Steglitz-Zehlendorf macht mobil gegen die
Fällung der Bäume.
Hat jemand vom
Senat eigentlich die Patientinnen und Patienten des
Pflegeheims gefragt, die hier leben? Schließlich
soll ihnen ein lebenswichtiges Angebot eines
Erholungsparks für immer entzogen werden? Und ich,
der ich gar nicht weit von dieser Perle von
Steglitz wohne und arbeite, frage meinen
Hausmeister, ob irgendjemand vom Senat eigentlich
die Bürgerkriegsflüchtlinge gefragt hat, die dort
wohnen sollen? Er schaut mich erstaunt an. Was
werden die Flüchtlinge fühlen und denken, wenn sie
beim Auszug aus den Notquartieren plötzlich davon
erfahren, auf was für einem Opfer ihr neues Glück
beruht? Vieles geschieht hier tatsächlich nebulös,
wie Czaja berechtigt anmerkt. Eine der
Protagonistinnen des Anwohneraufstands, Gabilotte
Lanzrath, hat vom Betreiber des Pflegeheims
VIVANTES das Verbot erteilt bekommen, das umkämpfte
Gelände zu betreten. Sie lässt sich aber nicht
beirren, am Bauzaun steht sie, redet mit den
Medien, legt großen Wert auf die Feststellung, dass
sie und die anderen protestierenden Anwohner nichts
gegen die hier in Bälde ankommenden Flüchtlinge
hätten, ganz im Gegenteil, sie spricht immer wieder
ein herzliches Willkommen aus, für eine gemeinsame
Zukunft mit den Flüchtlingen in Vielfalt und
Freundschaft auf diesem einzigartigen Stück
Berliner Kultur- und Erholungslandschaft. 300 Meter
Luftlinie entfernt vom festgelegten Standort für
die Flüchtlinge gibt es ein Areal von 9000
Quadratmetern, ebenfalls zum Leonorenpark gehörig,
auf dem leerstehende Gebäude herumstehen, die man
zu würdigen Emigrantenunterkünfte ausbauen könnte,
ohne brutale Opferung des Leonorenparks mit seinen
über 200 schützenswerten Bäumen, erläutert die
Aktivistin aufgebracht.
Und was ist, frage ich, den Faden der tapferen
Rebellin weiterspinnend, von folgendem Bild zu
halten – vom Emigrantenheim in Strašnice nämlich,
einem Arbeiterstadtteil von Prag, das aus
Nazideutschland geflohene Emigranten aus einer
leerstehenden Fabrik gezaubert hatten, mit
Unterstützung der Behörden, antifaschistische
Arbeiter, Angestellte und Intellektuelle? Von dem
mir meine Mutter, eine vor den Nazis geflohene
Jüdin, stolz erzählte? Von einer selbstverwalteten
Einrichtung der Emigranten, in der später der
weltberühmte Dadaist und Künstler-Emigrant John
Heartfield Ausstellungen von Werken emigrierter
Künstler und Arbeiterkünstler organisierte? Warum
kommt keiner von den hochausgebildeten und dicke
Limousinen fahrenden Mitgliedern des Berliner
Senats auf solche und ähnliche Ideen der
Selbstverwirklichung engagierter Syrer, die der
Bürgerkrieg aus der Heimat verjagt hat? Was ist mit
dem Dialog los zwischen den Behörden und den
Verfolgten? Was ist überhaupt los in Deutschland?
Fliehen seine Bewohner vor sich selber? Aber vor
welchem Krieg? Hier herrscht Frieden?
Fragen, die ich mir, ein von einer Traumwelle der
Geschichte unbarmherzig hierher gespültes
Emigrantenkind aus England, stelle und mir nun
erlaube, sie der Öffentlichkeit vorzulegen, auch
auf die Gefahr hin, dass sie zu zerbrechlich sind
und höchstwahrscheinlich hin sein werden, bevor sie
einen zum Innehalten bereiten Menschen überhaupt
erreichen. Und dann die dazugehörige Frage, die
nämlich nach dem Selbstverständnis von politischen
Amtsträgern. Die Bürgermeisterin des Stadtbezirks
Steglitz-Zehlendorf von Berlin Cerstin
Richter-Kotowski teilt uns, der lokalen
Öffentlichkeit, mit, dass das ganze Desaster auf
eine interne Vereinbarung zwischen dem Senat und
dem Gesundheitsunternehmen VIVANTES zurückginge –
ohne vorherige Konsultation der Betroffenen vor
Ort, ohne vorherige Konsultation der Amtsträger vor
Ort. Die Bezirksstadträtin für Immobilien, Umwelt
und Tiefbau des Bezirksamts Steglitz-Zehlendorf von
Berlin Maren Schellenberg entschuldigt sich mit dem
Argument, sie könne nichts gegen die Abholzung des
Leonorenparks machen, so bedauerlich das alles
natürlich sei, denn wenn sie nicht die Zustimmung
zur Opferung des Leonorenparks gegeben hätte, dann
hätte sie der Senat gegeben. Aber was ist das nun
wieder? Erinnert das nicht an den sattsam bekannten
und berüchtigten Befehlsnotstand? Wo bleibt da die
Widerstandspflicht – gegründet auf den Eid auf das
Grundgesetz? Bekanntlich heißt es dort: „ … die
vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an
Gesetz und Recht gebunden. Gegen jeden, der es
unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle
Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere
Abhilfe nicht möglich ist.“ Wo war Maren
Schellenberg am Morgen des 20. Februar? Warum hat
sie das spontane Forum am streng bewachten Bauzaun
einer Senatssprecherin überlassen, die doch zu den
Invasoren gehört, statt den bedrängten Anwohnern
zur Seite zu stehen, die nichts anderes verteidigen
als vitale Lebensinteressen von Hunderten von
Menschen und sich deshalb hartnäckig weigern, sich
in funktionale Wesen zu verwandeln, die nur von
einer Lust, so scheint es, getrieben werden – von
der Lust an der Unterwerfung?
Es gibt aber auch die Lust am Atmen, es gibt auch
die Lust am Verweilen, und es gibt auch die
Lustigkeit eines fast vergessenen Parks aus
versunkener Zeit – alte und seltene Bäume,
vergessene Gräser, Sträucher und Getier, vergessene
Geschichten und Geschichte, vor allem vergessene
Menschen, die davon erzählen können, die reden wie
alte Mütter, die murrend anreden gegen die
funktionale Zeit, die uns alle packt und schindet,
und die doch ganz im Heute sind und jung und noch
etwas wollen. Ein Interview ist zu bestaunen, das
eine junge Anwohnerin in ihrer kleinen Küche dem
„Tagesspiegel“ gewährt. Ein Wesen halb Mensch halb
Baum scheint da zu uns sprechen, der
Menschensprache völlig ungeübt, und wenn Sätze und
Wendungen einfach abbrechen, sieht man plötzlich
die Gebärden von nackten Zweigen und Ästen eines
Baumes im kalten Winterwind, Ächzen, Wut, Ringen um
Klarheit, ein einzelner Baum, der sich in letzter
Minute gerettet hat, kindlicher Trotz, weiterleben
als gesellschaftliche Aufgabe.
Der Leonorenpark gehört zum jüdischen Erbe,
erfahren wir aus diesem denkwürdigen Interview, und
Berlin, die über Jahrzehnte immer wieder
geschundene Stadt, sollte auf dieses Kleinod im
Südwesten der Stadt eigentlich stolz sein und Dank
empfinden und seine Hände schützend darüber halten.
Dr. James Fraenkel (1859-1935), ein jüdischer Arzt,
errichtete hier eine Heil- und Pflegeeinrichtung,
die damals zu den größten Privatkliniken in
Deutschland gehörte. 50 ausgesuchte Bäume von den
200, seltene zumeist, ließ er persönlich in dem im
Entstehen begriffenen Heil- und Wunderpark
pflanzen. Wegen seiner gesundheitspolitischen und
gesellschaftlichen Verdienste wurde Fraenkel 1910
zum Gemeindevertreter von Lankwitz gewählt. Der
Arzt und Forscher, geehrt mit der hohen staatlichen
Auszeichnung eines Sanitätsrats, leistete bleibende
Beiträge zur Entwicklung der modernen
Psychotherapie. Seine drei Töchter arbeiteten hier
als Krankenschwestern. Er erkrankte 1934 und
verstarb 1935. Seine Frau Paula Fraenkel emigrierte
nach der Reichspogromnacht aus Nazideutschland nach
Palästina, die Kinder, drei Töchter und ein Sohn,
u. a. ins demokratische Ausland, so auch nach
England, wohin auch meine Eltern emigriert waren
und wo ich das Licht der Welt erblicken durfte.
Die hiesige Rechtslage ist nach meinen bescheidenen
Rechtskenntnissen eindeutig. Die Vernichtungsaktion
Leonorenpark ist aus Gründen der Geltung des
nationalen und des Völkerrechts unverzüglich
einzustellen, der Senatsbeschluss zurückzunehmen,
die angerichteten Schäden zu beseitigen. Dies
ergibt sich aus der Gesetzgebung der Alliierten der
Anti-Hitler-Koalition in Einheit mit Artikel 139
(Befreiungsgesetz) des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland. Anlässlich des
Abschlusses des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 12.
September 1990 in Moskau zur angestrebten deutschen
Wiedervereinigung erklärte der Bundesaußenminister
feierlich: „Wir gedenken in dieser Stunde aller
Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir
gedenken des unendlichen Leids der Völker, nicht
nur derjenigen, deren Vertreter um diesen Tisch
versammelt sind. Unsere Gedanken gelten dabei in
besonderer Weise dem jüdischen Volk. Wir wollen,
dass sich dies niemals wiederholen wird (…) Wir
werden uns unserer Verantwortung stellen, und wir
werden ihr gerecht werden.“ In Artikel 1 des
Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Zentralrat der Juden vom 29.
Januar 2003 wird von der „Erhaltung und Pflege des
deutsch-jüdischen Kulturerbes“ als zentraler
Aufgabe gesprochen, abgeleitet aus der Präambel des
Vertrages, in der es programmatisch heißt, dass
dieser Vertrag abgeschlossen wird im „Bewusstsein
der besonderen geschichtlichen Verantwortung des
deutschen Volkes für das jüdische Leben in
Deutschland, angesichts des unermesslichen Leides,
dass die jüdische Bevölkerung in den Jahren 1933
bis 1945 erdulden musste, geleitet von dem Wunsch,
den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland zu
fördern und das freundschaftliche Verhältnis zu der
jüdischen Glaubensgemeinschaft zu verfestigen.“
Wie würde wohl der engagierte Humanist und Demokrat
James Fraenkel auf die jetzige Situation reagieren?
Was würde er uns mit auf den Weg geben?
Ich weiß es nicht, möglicherweise dies:
„Selbstverständlich den schmalen Weg der Pflicht
gehen“, würde er uns vermutlich ans Herz legen,
„wie es ein deutscher Dichter, der auch Arzt war,
einmal formuliert hat *), es gibt kein
Drittes… nicht mal ein Zweites, das gebietet eure
Situation der Hilfe für die Emigranten, ein
Auftrag, aber zugleich auch euer großes Glück.
Fülle statt Schnitt! Der von mir gestiftete Park
ist genau deswegen zu erhalten, kein Schnitt, von
keiner Seite aus, denn der Park wird den Anwohnern,
den Emigranten und den Patienten des Pflegeheims
gleichermaßen dienen wie sie ihm, davon bin ich
fest überzeugt, und diese neue, plötzlich offene
Situation für alle Betroffenen wird ungemein ihre
Wohlfahrt befördern, die Entwicklung ihrer
Persönlichkeiten, allein schon dieser Austausch …
gerade übrigens für Kinder, der spontane Austausch
der einheimischen mit den Flüchtlingskindern, und
der romantische Park, der immerhin zwei Kriege
überlebt hat, als ihre verbindende und erlösende
Mitte, was für eine Lebendigkeit! Was für Therapien
in Form des Spiels! Natur! Die blanke Natur!
Heilung ist ein universeller, Mensch und Natur und
Völker verbindender Prozess des Lernens, und zwar
eines Lernens vom Anfang, was vor allem Begegnung
der Gefahr der Verknöcherung mit einschließt, der
körperlichen wie der seelischen … 1907, als wir den
Park und ein Kurhaus für Rekonvaleszenten
eröffneten, konnten wir von solchen ungeahnten
Möglichkeiten höchstens träumen …“
*)
Eine poetische Wendung des Dichters und Dramatikers
Friedrich Schiller aus seinem Geschichtsdrama
„Wallenstein“
Editorische Hinweise
Wir
erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
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