Wir waren ja nur kurz da,
aber haben viel erlebt. Viele Gespräche geführt, mit
Befürwortern und Gegnern des Aufstandes, der vergangenes
Wochenende den vormaligen ukrainischen Präsidenten Viktor
Janukowitsch zur Flucht veranlasste. Wir haben viele Nazis und
Faschisten getroffen, viele „normale Leute“ auf beiden Seiten,
einige Wissenschaftler und Intellektuelle und sehr wenige (aber
immerhin) Linke. Was sich ergeben hat, kann man hier lesen.
Die Bewegung auf der Straße
wird von Rechten und Faschisten dominiert. Daran besteht unserer
Auffassung nach kein Zweifel. Die Symbolik des deutschen
Faschismus und der ukrainischen NS-Kollaborateure ist überall,
wirklich überall zu sehen. Die schwarz-rote Fahne der
Ukrainischen Aufständischen Armee und der Organisation
Ukrainischer Nationalisten, die während des Zweiten Weltkriegs
Zehntausende Polen und Juden ermordeten und an der Seite
Hitler-Deutschlands gegen die Sowjetunion kämpften, ist die –
nach verschiedenen Formen ukrainischer Nationalfahnen in
blau-gelb – die präsenteste auf dem Platz. Hakenkreuze gibt es
immer wieder mal an den Wänden, sehr prominent ist das
Keltenkreuz, die Wolfsangel, SS-Runen. Schilder und Embleme mit
Schwarzen Sonnen finden sich ebenso wie die Symbole von Combat
14 oder Parolen aus der Zeit der ukrainischen Kollaboration mit
dem deutschen Faschismus.
Wer sind die Faschisten? Die Partei Swoboda („Freiheit“) von
Oleg Tjagnibok ist sehr präsent. Sie hat sich in der
Übergangsregierung einflussreiche Posten gesichert, unter
anderem den, des Generalstaatsanwalts. Sie vertritt ein
sozial-demagogisches Programm, in dem sie Versprechungen von
höheren Löhnen, Privatisierungsstopps und Kontrolle über den
Bankensektor festschreibt, das aber auch zahlreiche offen
rassistische, militaristische und in Richtung Autoritarismus
weisende Passagen enthält. Im wesentlichen geht es ihr in ihrem
Programm um ein ethnisch „rein ukrainisches“ Land, das eine
selbständige und starke Nation werden soll.
Über ihre Vorschläge zur Bekämpfung von Ausländerkriminalität
und zur Vereinfachung von Abschiebungen etc. müssen wir uns
nicht auslassen, es reicht der Hinweis, dass sie die ukrainische
Bündnispartei der NPD ist. Interessant ist vielleicht, wie wir
heute auf einer Pressekonferenz des Swoboda-Führers Tjagnibok
vor dem Parlament gehört haben, dass sie abermals eine
Verfassungsänderung vorschlägt, die wiederum erneut dem
Präsidenten Macht über das Parlament geben soll (genau dagegen
sollte ja der Maidan angeblich kämpfen). Ach ja: Im übrigen
fordert sie die Wiederherstellung der Ukraine als Atommacht
unter Mithilfe der USA. Den EU-Beitritt schlägt auch sie –
zähneknirschend – vor, denn, so Tjagnibok heute: „Die andere
Möglichkeit wäre Russland.“ Sie hatte 16 tote Mitglieder zu
verzeichnen, die bei den Kämpfen vergangene Woche umkamen, was
sie auch publikumswirksam zu nutzen versteht.
In dem Gebiet um den Maidan selbst sind andere Gruppen
präsenter, nämlich die, die als „Rechter Sektor“ bekannt
geworden sind (obwohl der „offizielle“ Rechte Sektor nicht alle
Nazi- und Faschistengruppen jenseits von Swoboda beinhaltet,
denn es gibt davon sehr viele und einige sind noch aggressiver
und noch nazistischer als der „Rechte Sektor“ – erzählt hat man
uns hier vor allem von einer Gruppe namens „Bruderschaft“ und
einer, die nach wie vor den Namen Ukrainische Aufständische
Armee führt). Diese rechten Gruppen haben starken Zulauf. Sie
unterhalten „Rekrutierungsbüros“ auf den Straßen zum Maidan, bei
dem des „Rechten Sektors“ stehen durchgängig, ob du morgens oder
abends vorbeiläufst, zwischen zehn und dreißig Leute an, die
darauf warten, zum befehlshabenden Kommandanten durchgelassen zu
werden, um beitreten zu können. Wichtig ist aber, auch nicht zu
vergessen, warum diese – meist jungen – Menschen dem Rechten
Sektor beitreten wollen. Fragt man sie, ist die Antwort immer
(!) die: „Die Parteien, egal ob Regierung oder Opposition
betrügen uns, der Rechter Sektor sorgt dafür, dass genug Druck
da ist, damit sie das nicht können.“ Und: „Der Rechte Sektor hat
am mutigsten gekämpft, immer ganz vorne. Die anderen reden nur,
aber sie tun nichts.“ Man kann mit Sicherheit nicht sagen, dass
alle, die dem Rechten Sektor beitreten, gestandene Antisemiten
und Rassisten sind. Das allerdings macht das Phänomen nicht
ungefährlicher, denn die Führungen der Organisationen und deren
politische Ziele sind deshalb nicht weniger faschistisch.
Es stimmt, dass es Übergriffe – vor allem gegen Kommunisten,
Mitglieder der früheren Regierungspartei „Partei der Regionen“
oder sogenannte Titushki – gibt. Einen davon, die faschistische
Stürmung und Besetzung der Zentrale der Kommunistischen Partei,
konnten wir selbst verifizieren, über andere haben uns
Mitglieder einer unabhängigen Kommunistischen Gruppe – Borotba
(Kampf) – und Vertreter der Kommunistischen Partei erzählt. Es
gibt massive Drohungen, auch gegen die Familien von Linken,
Angriffe auf Privatwohnungen linker Funktionäre und
Einrichtungen der kommunistischen Partei. Übereinstimmend haben
uns beide Gruppen erzählt, dass es eine Todesliste gebe. Dass
die ernst genommen wird, meinen auch beide, vieles spricht
dafür.
Borotba hat seine politische Leitung von Kiew in den Südosten
verlegt, in der Hauptstadt sei man nur noch „im Untergrund“
tätig, alles andere sei zu gefährlich. Borotba selbst hat zu
Beginn der Proteste auch versucht am Maidan ein Zelt
aufzustellen und einen linken Protest gegen Janukowitsch zu
organisieren, das Zelt ist zerstört, die Aktivisten
krankenhausreif geschlagen worden.
Nachdem wir nun von den Faschisten gesprochen haben, wollen wir
von denen nicht schweigen, die keine Nazis sind. Als die neue
De-Facto-Regierung am Mittwoch auf der Bühne sprach, waren hier
Zehntausende Menschen, selbstverständlich sind die nicht alle
Hitler-Jungen oder -Mädels. Die Motive des durchschnittlichen
Demonstranten gleichen einander. In der Hit-List der
meistgenannten Gründe, wer hätte es gedacht: „Wir wollten
Janukowitsch weg haben.“ Stimmt nur ein Zehntel dessen, was die
Leute erzählt haben – und davon gehen wir aus, wir haben auch
mit Ökonomen gesprochen, mit Journalisten, und die Medien
bringen ja jede Menge Indizien dafür, dass es stimmt, dann muss
dieser Typ ein wahrhafter Künstler im Akkumulieren von
Reichtümern sein. Man geht von zweistelligen Milliardenbeträgen
aus, die er sich eingesteckt haben soll. Sein Sohn wurde
innerhalb von zwei Jahren vom Tellerwäscher (naja, nicht ganz
;-) ) zum Milliardär, von einem Journalisten danach gefragt, wie
das gehe, sagte der: „Er arbeitet eben.“
Die anderen, die arbeiten, verdienen 3000, 4000 Grivna,
umgerechnet irgendwas um die 250 bis 350 Euro oder so,
monatlich. Wir haben den Selbsttest gemacht: Gehst du zum Billa
(österreichischer Supermarkt auf der Kreschatik-Straße, nur als
Anmerkung für die Piefke) und kaufst dir ein Päckcken Milch, ein
Stück Käse, eine Wurst, ein Joghurt und Billigbrot, dann kommst
du auf 8 Euro. Rechnet euch aus, wie man über die Runden kommt.
Janukowitsch indes hatte nicht nur dutzende Luxusautos,
Milliardenvermögen im Ausland, eine ukrainische Neverland-Ranch,
sondern auch einen Zoo. In dem soll es exotische Viecher gegeben
haben, deren Fütterung Zehntausende Euro im Monat kostet. Kein
Wunder, dass die Ukrainer, die mit ihrer Handvoll Grivna an der
Billa-Kasse stehen, da nicht allzu erfreut drüber sind.
Speziell ist unserer Einschätzung nach, dass der Kreis, unter
dem das erbeutete Raubgut verteilt wurde, extrem klein ist. Soll
heißen: Auch die Stützen der Macht, die Bullen, die Soldaten
usw. sind extrem unterfinanziert, und zwar nicht nur in den
einfachen Rängen. Eine Frau hat uns erzählt, dass ihr Bruder
hochrangiger IT-Spezialist und Offizier in der Armee ist und der
verdient umgerechnet 600 Euro im Monat. Vielleicht mit ein
Grund, warum der Sturz nicht allzu lang dauerte.
Nun ist Janukowitsch ein Arschloch. Aber er ist sicher nicht das
einzige. Das Spiel, das in dem Land gespielt wird, ist einfach
dieses: Verschiedene Oligarchen-Gruppen konkurrieren um das
größte Stück vom Kuchen. Julia Timoschenko oder Petro
Poroschenko sind nicht anders als Janukowitsch. Timoschenko ist
Janukowitsch im Blut-und-Boden-Look, mehr nicht.
Das allerdings wissen – im Unterschied zu den deutschen
Politikern und Medienanstalten – auch die Leute vor Ort. In zwei
Tagen konnten wir – außer an den jeweiligen Wahlständen der
betreffenden Parteien keine Person treffen, die irgendeinen
dieser Selbstbereicherungsprofis als reale Alternative angesehen
hätte.
Neben Janukowitsch und Korruption finden sich bei den „normalen“
Demonstranten viele Protestgründe, die eigentlich eher „linke“
Themenbestände sind: Armut und Polizeigewalt spielen eine Rolle,
auch das Fehlen von demokratischen Partizipationsmöglichkeiten.
Allerdings: Diese eigentlich „linken“ Inhalte sind völlig
überformt durch den allgegenwärtigen Nationalismus. Damit meinen
wir nicht die Nazis und Faschisten, die ganz normalen
Demonstranten haben – erklärbar aus der ukrainischen Geschichte
– ein völlig übersteigertes Nationalgefühl. Permanent schreien
sie „Slava Ukraini“, Ruhm der Ukraine. Die Floskel ist
mittlerweile zur Grußformen geworden. Du sagst auf dem Platz
nicht einfach „Hallo“, sondern „Ruhm der Ukraine“ und der andere
antwortet entweder auch „Ruhm der Ukraine“ oder „Ruhm den
Helden“, in Anspielung auf die Toten der vergangenen Wochen. Es
hat etwas massenpsychotisches, wenn Tausende sich das vor der
Bühne gegenseitig im Chor zubrüllen. Ebenso bei „normalen“
Demonstranten präsent sind antirussische Ressentiments á la „Die
Russen sind sind so und so“. Dazu kommt, dass auch diejenigen,
die sich selbst nicht aktiv in die Tradition der ukrainischen
Hitler-Kollaborateure stellen, kein Problem damit haben, dass
das anderen tun. Stepan Bandera ist auch für diejenigen ein
„Held“, die jetzt nicht unmittelbar überlegen, Polen oder Juden
jagen zu gehen. Es gibt schlichtweg überhaupt kein
Problembewusstsein über diese Kollaborationsgeschichte,
kritische Distanz existiert nicht (zumindest soweit wir das auf
dem Maidan beobachten konnten). Weil diese Elementen rechten,
nationalistischen Denkens soweit verbreitet sind, können die
Nazis sich als „unsere Jungs an der Front“ vermarkten. (Der
Nationalismus funktioniert übrigens für beide Seiten, denn die
einen korrupten Kleptomanen mobilisieren die, die sie bestehlen,
für die „ukrainische Nation“, die anderen ihre Klientel mittels
russischem Nationalgefühl.)
Natürlich gibt es auch in der Ukraine eine Linke. Allerdings
nicht auf dem Maidan. Wie oben gesagt: Du kannst dort kein
linkes Zelt hin bauen, weil dir die Selbstschutzkräfte des
Maidan selbiges wohl relativ schnell dahin rammen würden, wo die
Sonne nicht scheint. Es gibt eine Organisation namens Avtonomia,
die ist anarchistisch und ihre Proklamationen sind auf Indymedia
hin und wieder in Übersetzung erschienen. Wir hatten
Email-Kontakt, man hat uns wiederholt versprochen, wir würden
einen Gesprächspartner bekommen, geklappt hat das leider nicht,
aus welchen Gründen auch immer. Sehr bekannt dürfte die Gruppe
in der Normalbevölkerung nicht sein, wir haben ein paar Mal nach
ihr gefragt, Reaktion null.
Dann gibt es die Kommunistische Partei. Eigentlich sollte sie
150 000 Mitglieder haben, viel zu spüren bekommt man von ihnen
nicht. Im Moment vertreten sie die Position, dass sie immer
schon gesagt hätten, dass Janukowitsch ein Dieb ist und sie nur
mit seiner Partei gestimmt haben, wenn es „zum Wohle der
Bevölkerung war“. Das ist unserer Ansicht nach eine verzerrte
Sichtweise. Alles in allem wollen wir zur KP nicht viel sagen.
Zwei Dinge sollten reichen: Unser Ding wäre das nicht, und wenn
die Partei nicht selbstkritischer und wesentlich undogmatischer
wird, und mit ihrem geradezu grotesken Glauben in den Staat und
dem entsprechenden Legalismus bricht, wird das wohl nichts.
Insgesamt hat sie viel mit der hiesigen Linkspartei gemein, sie
ist eine Art parlamentarischer Traditionswahlverband, dem es am
liebsten ist, wenn alles seinen gemächlichen, normalen Gang
geht. Der erste Kampf, den sie führen wird müssen, ist der gegen
die Überalterung. Denn die junge Generation orientiert sich
leider nicht nach links, und das hat auch Gründe, die in der
Politik dieser Partei liegen. Das Zweite aber: Bereichert hat
sich die Partei selbst offenbar nicht, und im Moment steht sie
im Fokus der Angriffe der Faschisten, deshalb verdient sie
Solidarität, wenn auch nicht politische Zustimmung.
Außerdem haben wir jemanden von Borotba getroffen, einer Gruppe
von Kommunisten, die sich von der KP abgespalten haben, als
diese begann, sich an die Partei der Regionen anzubiedern.
Borotba ist klein aber fein. Differenzierte Analysen, ein Gespür
dafür, dass es manchmal besser ist, eigenständig zu arbeiten,
als sich an mächtige Gruppen anzubinden und mehr Aktivismus als
bei der ungefähr 150mal so großen KP. Borotba hat sich gegen
Janukowitsch und gegen die Opposition ausgesprochen und am
Anfang auch noch versucht, den Protest zu politisieren. Im
Moment arbeiten sie an der Schaffung antifaschistischer
Widerstandsgruppen, nun, da Janukowitsch weg ist, so ihre
Ansicht, sei der Hauptkampf der gegen die Faschisten.
Interessant an ihnen ist, dass sie – ohne sich auf eine Seite zu
stellen – die geostrategische Machtpolitik sowohl Russlands wie
auch der westlichen Imperialisten kritisieren.
Neben den lokalen Playern gibt´s spielen im Kampf um die Ukraine
natürlich auch die Interessen der USA, der EU und Russlands eine
Rolle. Die USA finanzieren und unterstützen die prowestliche
Bewegung in der Ukraine seit langem massiv, man erinnere sich
nur an die Episode „Organgene Revolution“, in den Hauptrollen
Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko und an deren Ausgang.
Die Europäische Union – allen voran Deutschland – haben in der
Ukraine bewiesen, dass sie zunehmend selbstbewusster werden, und
ausgetestet, wie weit sie – auch ihrer eignen öffentlichen
Meinung gegenüber, beim Regime Change gehen können. Insgesamt
nehmen sie bewusst einen Bürgerkrieg in Kauf, der nicht mehr ein
bloßes Gedankenspiel ist, sondern eine tatsächliche Bedrohung.
Was macht Russland, ist im Moment die große Frage. Selbst ein
imperialistisches Land wie seine westlichen Widersacher, kann es
sich nicht ewig leisten, von letzteren aus seinen
Einflusssphären vertrieben und eingekreist zu werden. Im Moment
sieht es so aus, als würden Truppen an der Westgrenze
aufgezogen, ob das eine Machtdemonstration, ein Wink mit dem
Zaunpfahl an die Kiewer Regierung, die Faschisten in Zaum zu
halten, oder die Vorbereitung eines wohl folgenreichen
Eingreifens ist, ist unklar. Die USA haben ebenfalls den Ton
verschärft und Putin vor „schweren Fehlern“ gewarnt. Und auch
Klitschko darf öffentlichkeitswirksam in der BILD Putin
„warnen“. Die Zuspitzung des imperialistischen Konflikts
bedeutet jedenfalls für die Ukraine nichts gutes.
Insgesamt kann man sagen: Gut sieht's nicht aus, nach dem
euphorischen Aufbruch vom Maidan, das wird auch vielen
Demonstranten bewusst. Staatsbankrott, Grivna auf dem
Allzeittief, Faschisten als nicht mehr wegzudenkender
politischer Faktor, einander um die Beute zankende Großmächte.
Klar ist: Vorbei ist die Sache lange nicht.
Editorische
Hinweise
Wir spiegelten den Artikel von
Indymedia, wo er am 28.2.2014 erschien.
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