Georg Classen ist Sprecher des
Berliner Flüchtlingsrat, der vor einigen
Tagen darauf aufmerksam machte, dass die
in der letzten Woche durch den Bundestag
beschlossene Neuregelung des ALG II Verschlechterungen für
ausländische
Arbeitslose bringt.
Frage: Was verändert sich für
Ausländer durch die aktuellen Änderungen
des Arbeitslosengeld II?
C.G.: Die Leistungen
für bestimmte Gruppen von Ausländern werden
eingeschränkt. In erster Linie können
davon EU-Bürger betroffen sein, die in Deutschland einen
Arbeitsplatz suchen, und hier noch
nicht mindestens 12 Monate gearbeitet
haben. Außerdem wird im Gesetzestext der
„gewöhnliche Aufenthalt“ zur Bedingung
für die Bewilligung von Leistungen gemacht. Das kann in der
Praxis zu dem (verfassungswidrigen)
führen, dass Betroffene zwischen den zuständigen Behörden
für das Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe
und Asylbewerberleistungen hin- und
hergeschoben werden und im Endergebnis
von keiner Stelle Unterstützung bekommen.
Dabei ist festzuhalten, dass nachrangig zum Arbeitslosengeld II
ein Rechtsanspruch auf Sozialhilfe oder
aber Asylbewerberleistungen besteht, der
allerdings beim missbräuchlicher Einreiseabsicht zum Zweck des
Sozialleistungsbezugs abgelehnt
werden kann.
Frage: Sind davon EU-Bürger
getroffen, die tatsächlich in Deutschland
gearbeitet haben, deren Lebensmittelpunkt überwiegend in
Deutschland war?
G.C.: Unionsbürger sind voraussichtlich dann von dem neuen
Leistungsausschluss betroffen,
wenn sie
- als Arbeitsuchende neu
einreisen und noch gar nicht hier
gearbeitet haben, oder
- nach weniger als 12 Monate
dauernder Beschäftigung länger als 6 Monate
arbeitslos werden, oder
- nach weniger als 12 Monate
dauernder Beschäftigung aus eigenem Verschulden arbeitslos
werden, und hier auch noch kein
Aufenthaltsrecht aus anderen Gründen haben (z.B.als
Ehepartner eines Deutschen oder eines Ausländers mit
gefestigten
Aufenthaltsrecht).
Es ist nicht einzuschätzen, wie
viel Menschen davon betroffen sind. Der
Passus vom „gewöhnlichen Aufenthalt“ ist so unklar und
auslegungsbedürftig, dass die
Befürchtungen durchaus berechtigt sind, dass davon außer
Unionsbürgern auch noch andere Ausländergruppen betroffen
sein könnten. Schon heute werden
zahlreiche ALG II-Anträge von Ausländern rechtswidrig
abgelehnt. Das liegt häufig an der Überforderung der
Jobcenter-Mitarbeiter.
Frage: Wie können sich die Betroffenen dagegen wehren?
G.C.: Im Kern
richtet sich das Gesetz gegen EU-Bürger. Das ist
eindeutig europarechtswidrig. Es ist
relativ wahrscheinlich, dass der Europäische Gerichtshof
das Gesetz aufheben wird. Man kann daher nur allen betroffenen
Ausländern raten, sich rechtlich vertreten zu lassen,
wenn ihre Anträge abgelehnt werden.
Frage:
In der letzten Zeit gab es immer wieder Meldungen, dass
EU-Bürger Sozialleistungen gleich
in mehreren Ländern bekamen. Ist die
Gesetzesänderung nicht eine Reaktion darauf?
G.C.: Der
Doppelleistungsbezug an mehreren Wohnorten ist
ein Problem, das genauso auch Deutsche
betreffen kann. Um dagegen vorzugehen, müssen
die dafür vorgesehenen gesetzlichen Kontrollmechanismen
angewendet werden, um einen entsprechenden Datenabgleich
zu gewährleisten. Ein genereller
Leistungsentzug ist da bestimmt keine
Lösung.
Frage:
Neben dem Inhalt monieren Sie auch die Art, wie das Gesetz
verabschiedet wurde. Was ist dabei Ihre Kritik?
G.C.: Die Pläne für
diese Verschärfungen gegenüber Ausländern wurden
zwar bereits vor Monaten von der bayerischen Staatsregierung
über den Bundesrat in die politische
Diskussion gebracht. In den Gesetzentwurf
zum Arbeitslosengeld II wurden diese
Verschärfungen allerdings erst nach der Debatte in erster Lesung
im Bundestag, nach der Diskussion in den
Fachausschüssen, einen Tag nach erfolgter
Anhörung der Sachverständigen und zwei Tage vor der
Schlussabstimmung in 2. und 3. Lesung im Bundestag
nachträglich eingefügt. Damit wurde das
Recht des Parlaments, sich mit der Gesetzesvorlage
inhaltlich auseinandersetzen, gezielt umgangen. Und die
Sachverständigenanhörung war unter diesen Umständen eine
reine Farce. Auch
die Oppositionsparteien wurden durch die Art des
Gesetzgebungsverfahren überrollt und
haben sich anlässlich der Verabschiedung des Änderungsgesetzes
öffentlich zu den vorgenommenen Einschränkungen für
Ausländer nicht geäußert.
Frage:
Wie würden Sie dieses Prozedere interpretieren?
G.C.: Es ist eine Pervertierung
von Demokratie und Parlament, wenn ganz entscheidende
Regelungen erst in aller letzter Minute
aus der Schublade gezaubert und in
Gesetzesvorlagen eingebaut werden. Dafür sind eindeutig die die
Regierungskoalition tragenden Bundestagsfraktionen von
SPD und CDU/SU sowie federführend das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter
Müntefering verantwortlich. Ich fürchte
allerdings, dass ist erst ein Vorgeschmack auf das, was wir
durch die große Koalition noch zu erwarten haben.
Editorische Anmerkungen
Der Artikel
wurde uns vom Autor am 1.3.2006 zur Verfügung gestellt.
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