Nach über fünfmonatiger Ungewissheit wurde am
Dienstag (21. Februar) erstmals klar, welche Konturen die neue
Amnestieregelung in Algerien annehmen wird.
Am 29. September vorigen Jahres hatte Präsident Abdelaziz
Bouteflika( je nach Transkription aus dem Arabischen auch
Boutefliqa geschrieben) über den Grundsatz einer von oben
initiierten « nationalen Aussöhnung » abstimmen lassen. Auf
ihrer Grundlage sollten angeblich endlich alle Gräben, die
während der Bürgerkriegsjahre 1992 bis 1999 aufgerissen worden
waren, zugeschüttet werden. Eine solche Initiative hatte
Abdelaziz Bouteflika erstmals öffentlich in einer Rede vom 31.
Oktober 2004 angekündigt, aus feierlichem Anlass, am Vorabend
des fünfzigsten Jahrestags der Eröffnung des algerischen
Befreiungskriegs gegen den französischen Kolonialismus (1.
November 1954). Damals zog Bouteflika/Boutefliqa noch öffentlich
eine Generalamnestie für alle Teilnehmer am ehemaligen
Bürgerkrieg, aber auch an den fortexistierenden bewaffneten
Grüppchen in Erwägung.
Der Text der « Charta für Frieden und nationale Versöhnung »,
der als Abstimmungsvorlage beim Referendum vom 29. 09. 2005
diente, enthielt jedoch wenig Konkretes bezüglich der Regeln und
Bedingungen für die neue Amnestie. Vielmehr steckte das
Wesentliche im Schlusssatz : « Das Volk vertraut seinem
Präsidenten und erteilt ihm den Auftrag, alle notwendigen
Manahmen zu ergreifen ». Die längere Krankheit Bouteflikas (der
die Monate November und Dezember 2005 überwiegend in einem
Pariser Krankenhaus zubrachte) hat wohl dazu beigetragen, dass
die Ausführungsbestimmungen, welche die notwendigen
Präzisierungen beinhalten sollten, so lange ausblieben. Am 21.
Februar 2006 hat das algerische Kabinett die konkreten
Ausführungsbestimmungen jetzt angenommen, am folgenden Tag
wurden sie durch die algerische Presse publiziert.
Amnestieregelung für bewaffnete Islamisten : Unter
Bedingungen
Ähnlich wie bei der groen Amnestie von 1999 und Anfang 2000, am
Ausgang des offenen Bürgerkriegs, gibt es jetzt eine
sechsmonatige Ausschlussfrist. Jene Angehörigen bewaffneter
Islamistengrüppchen – es bleiben einige hundert Bewaffnete
übrig, die besonders im GSPC (Salafistische Gruppe für Predigt
und Kampf) zusammengeschlossen sind -, die von der Amnestie
profitieren wollen, müsse sich innerhalb dieser Frist den
Behörden stellen. Nach deren Ablauf sind sie erneut (ohne
Sonderbedingungen) staatlicher Strafverfolgung ausgesetzt, das
Amnestieangebot bleibt für sie wirkungslos.
Ausgeschlossen von der Amnestie bleiben die, denen eine
individuelle Teilnahme an Kollektivmassakern nachgewiesen werden
kann. Dieses Mal ist (anders als 1999/2000) jedoch der Nachweis
einer individuellen Verübung von Mord, sofern es sich nicht um
Kollektivmassaker oder Bombenanschläge auf öffentlichen Plätzen
handelt, kein Ausschlussgrund mehr. Diese Debatte ist freilich
theoretisch, denn all jene Mitglieder bewaffneter Gruppen, die
sich im Rahmen der verschiedenen Amnestieregelungen der
Vergangenheit (jener von 1999/2000, oder kleinerer
Amnestieverordnungen) den Behörden stellten, wollen angeblich
stets alle immer nur Schmiere gestanden oder ihre Mitkämpfer
bekocht haben. Es ist nicht nachgewiesen, dass ein einziger von
ihnen wegen konkreter, individuell (mit) verübter Taten belangt
worden wäre. Dennoch: Von einer Generalamnestie für alle ehemals
bewaffneten Islamisten, über die Bouteflika vor anderthalb
Jahren öffentlich nachdachte, sind die jetzt ergriffenen
Manahmen doch noch ziemlich weit entfernt.
Am Mittwoch, 01. März wurden ferner, im Rahmen der nunmehr sich
präzisierenden Amnestieregelung, insgesamt 2.200 ehemalige
Aktivisten aus der Haft entlassen. Nach Angaben des
Kabinettschefs im Justizministerium, Abdelkader Sahraoui,
gegenüber der Tageszeitung Liberté (vom 02. März) befanden sich
bis dahin noch 3.000 Anhänger i slamistischer bewaffneter
Gruppen in den Gefängnissen des Landes. Sie waren zum Teil wegen
Terrorismusdelikten, zum Teil aber auch wegen «Propaganda für
den» bzw. «Ermutigung des Terrorismus» sowie Finanzierung
bewaffneter Gruppen in Haft. 1.000 von ihnen, die bereits
verurteilt worden waren, seien nunmehr im Rahmen der neuen
Amnestiewelle vom Präsidenten begnadigt worden. Bei 1.200
Häftlingen, die noch auf ihre rechtskräftige Verurteilung
warteten, wird die Stratfverfolgung eingestellt und der
staatliche Strafanspruch erlöscht. 800 weitere Gefangene, denen
Anstifung zu, (Mit-)Täterschaft bei oder Beihilfe zu
Kollektivmassakern oder Bombenanschlägen auf öffentlichen
Plätzen vorgeworfen wird, kommen hingegen nicht sofort frei.
Derselben Quelle zufolge wird ihr Strafma jedoch reduziert
werden: Todesurteile werden in Haftstrafen umgewandelt,
Freiheitsstrafen verkürzt werden.
Durch Staatsorgane « Verschwundene »: Entschädigung, aber
keine Aufklärung oder Strafverfolgung
Ansonsten gibt es nun erstmals staatliche Entschädigungszahlen
für die Angehörigen von « Verschwundenen », die mutmalich durch
staatliche Sicherheitskräft e verschleppt wurden. Nach
quasi-offiziellen Angaben staatlicher Stellen, die im Vorfeld
des letztjährigen Referendums veröffentlicht wurden, räumt die
Staatsmacht mittlerweile 6.200 « Verschwundene » ein. Das ist
nur ein kleinerer Ausschnitt aus dem Gesamtkatalog der Schrecken
des Bürgerkriegs, der insgesamt rund 150.000 Menschenleben
forderte – die Toten gehen dabei insgesamt sowohl auf das Konto
bewaffneter Islamisten als auch auf jenes von Staatsorganen.
Aber zugleich beträgt die Zahl der jetzt offiziell
staatlicherseits eingeräumten « Verschwundenen »
durchschnittlich drei Personen pro Tag, während der Jahre des «
heien » Bürgerkriegs. Das ist erschreckend genug.
Aber jegliche Strafvorstellung gegen Mitglieder von
Staatsorganen wird definitiv ausgeschlossen, wie auch
Ermittlungen über ihre genauen Verantwortlichkeiten. Äuerungen
im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg, die « den Staat
destabilisieren » oder « das Ansehen Algeriens in der Welt » in
den Schmutz ziehen könnten, werden unter Strafe gestellt.
Gegen diesen staatlichen, autoritär verordneten « Schlussstrich
» gibt es mittlerweile (genauer seit der Debatte, die dem
Referendum vorausging) Proteste von beiden Seiten : sowohl von
Angehörigen ehemaliger «Verschwundener» als auch von Familien
der Opfer islamistischer Terrorgruppen. Erstmals arbeiteten
beide jetzt auch zusammen, während diese Opfergruppen in der
Vergangenheit häufig gegeneinander arbeiteten : Die Familien der
mutmalich durch Staatsorgane Verschleppten wurden mitunter
durch die radikal-islamistische Opposition und ihre
Bündnispartner politisch instrumentalisiert ; die Angehörigen
von « Terrorismusopfern » hingegen durch den Staat oder aber
durch eine Fraktion in der Armee und der algerischen Presse, die
gegen zu viel « Zugeständnisse » an die Islamisten im Rahmen der
Beendigung des Bürgerkriegs eintrat. Diese Phase der
wechselseitigen Instrumentalisierung realen menschlichen Leids
ist jetzt ansatzweise überwunden. Etwa im Rahmen der neuen
Führung der (oppositionellen) algerischen Menschenrechtsliga
LADDH, die im September 2005 gewählt wurde und an ihrer Spitze
den ehemaligen FLN-Linken und Anhänger des «
Selbstverwaltungssozialismus » in den Jahren nach der
Unabhängigkeit, Hocine Zahouane, hat, arbeiten beide
Opfergruppen jetzt zusammen. Repräsentanten beider Gruppen
bekamen im Vorfeld des Referendums vom 29. September 2005,
aufgrund ihrer Proteste gegen die von Bouteflika verordnete
Zustimmung zur « Versöhnung von oben », auch den Polizeiknüppel
zu spüren.
Auch in der vergangenen Woche kam es, aufgrund der bekannt
gewordenen präzisierenden Ausführungsbestimmungen zur Amnestie,
erneut zu Protestaktionen. An ihnen nahmen vor allem
Familienangehörige von «Verschwundenen» teil.
Fazit
Nachdem die schwelende Konflikte zwischen Bouteflika und hohen
Militärs gelöst scheinen (die Armee musste 2004/05 einige
Umbesetzungen an höherer Stelle, und Pensionierungen bisher
führender Generäle hinnehmen), hört der Präsident jetzt auf, das
« rote Tuch » vor ihren Augen zu schütteln. Bouteflikas
zeitweiligen öffentlichen Überlegungen über eine «
Generalamnestie », oder aber die erfolgte Quasi-Anerkennung des
Schicksals von « Verschwundenen » - was potenziell die
Möglichkeiten von Strafverfolgungen gegen Militärs eröffnete –,
hatten genau die Funktion eines solchen « roten Tuchs ». Es ist
nunmehr wieder eingesteckt worden. Mit den jetzigen Regelungen
können auch die hohen Offiziere leben.
Editorische Anmerkungen
Der Artikel
wurde uns in der vorliegenden Fassung vom Autor am 3.3.2006 zur Verfügung gestellt.
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