Geboren am
4.4. 1923 in Frankfurt a.M.;
belgischer neotrotzkistischer Ideologe, einer der führenden
politökonomischen Vertreter des gegenwärtigen Linksradikalismus.
(verstorben 20. Juli 1995 in
Brüssel - red. trend)
M., der sich selbst als
»flämischer Internationalist jüdischer Herkunft« bezeichnet,
verlebte Kindheit und Jugend in Antwerpen. Während des zweiten
Weltkrieges wurde er als Führer einer trotzkistischen Gruppe in
Belgien von den Faschisten verfolgt, nach Deutschland
verschleppt und bis April 1945 in Zuchthäusern und
Konzentrationslagern gefangen gehalten.
Nach dem zweiten Weltkrieg war er zunächst
journalistisch tätig sowie von 1954 bis 1963 als
wirtschaftswissenschaftlicher Sachverständiger beim belgischen
Gewerkschaftsbund FGTB. M. schloß 1967 sein durch den Krieg
unterbrochenes Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an
der Univ. Sorbonne in Paris ab und promovierte 1972 an der
Westberliner Freien Univ. zum Dr. phil. Er ist seit 1970 Prof.
an der Univ. Brüssel. Verschiedene Berufungen an Univ. in der
BRD oder Westberlin wurden aus politischem Gründen verhindert.
Ein Einreiseverbot in die BRD vom Jahre 1972 wurde 1980
aufgehoben. M. ist führender Theoretiker der trotzkistischen IV.
Internationale; 1977 erfolgte seine Aufnahme in das PEN-Zentrum
der BRD. M.s Einfluß als einer der führenden Ideologen des
gegenwärtigen Linksradikalismus, einer pseudolinken
politisch-ideologischen Strömung, wurde vor allem in den 70er
Jahren nach dem Scheitern der Auffassungen der Repräsentanten
der Frankfurter Schule" von der angeblich revolutionären
Impotenz der Arbeiterklasse (Marcuse) im Ergebnis der
machtvollen Streik- und Kampfaktionen der französischen
Arbeiterklasse während des »Pariser Frühlings« vom Mai 1968
immer intensiver.
M. tritt als »wahrer« Marxist
auf, und zwar in direkter Konfrontation zur Theorie und Praxis
des Marxismus-Leninismus. Er bewegt sich auf pseudomarxistischen
Positionen. Er ist prononcierter Gegner des real existierenden
Sozialismus, den er, in Anlehnung an Leo Trotzki, als eine Art
von Übergangsgesellschaft mit bürokratischem Wesen verketzert.
Dem imperialistischen System tritt er ebenfalls kritisch
gegenüber. M.s politökonomische Theorie stellt eine bunte
Mischung von Elementen der traditionellen bürgerlichen und
kleinbürgerlichen politischen Ökonomie, von Postulaten einer
angeblich weiterentwickelten, aber in Wirklichkeit verfälschten
und vulgarisierten marxistisch-leninistischen politischen
Ökonomie und von zum Teil richtig rezipierten Bestandteilen der
proletarischen politischen Ökonomie (gewichtige Aspekte der
Imperialismuskritik, detaillierte Kultur-
und Sozialkritik des heutigen Kapitalismus) dar.
Durch intensive Aktivitäten im politischen Kampf sowie auf
propagandistischem Gebiet versucht M. seinen Einfluß
insbesondere auf Kreise der Intellektuellen, aber auch in der
Arbeiterbewegung (Gewerkschaften) in der »Dritten Welt« zu
erweitern. Er versteht sich selbst als »Erneuerer« der
politischen Ökonomie der Arbeiterklasse und glaubt, dafür eine
»wahre« und »weiterentwickelte« marxistische politische Ökonomie
zu liefern. Er verwendet zwar eine Fülle von Fakten sowohl aus
der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus als auch aus der
Gegenwart des Imperialismus, doch hinter manch realistischer
Beschreibung und Analyse von Details und Vorgängen verbergen
sich prinzipielle Schwächen und Fehler. Die einzelnen
politökonomischen Kategorien bleiben voneinander isoliert, und
ihr innerer Zusammenhang, der erst die
Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise
bloßzulegen hilft und damit die Schranken des Kapitalismus
aufzeigt, bildet nicht die logische Konsequenz der M.schen
Darstellungsmethode. Den realen Sozialismus verketzert M. als
»Gesellschaft der Übergangsperiode«, eine dem Wesen nach
angeblich unbestimmte Situation der Menschheit, in der zwar der
Kapitalismus zerstört sei, aber dieses
Gebilde stelle auch noch keinen Sozialismus dar. Vor der
Weltrevolution, so behaupten M. und andere moderne Trotzkisten,
könne kein Sozialismus aufgebaut werden. Die Kritik M.s am
»bürokratischen« Sozialismus zeigt, daß er die Dialektik der
Entwicklung und die Kompliziertheit der Aufgaben beim Aufbau und
der ständigen Vervollkommnung des realen Sozialismus,
insbesondere bei der Schaffung der materiell-technischen Basis
des Sozialismus und beim Übergang zum intensiven Typ der
erweiterten sozialistischen Reproduktion, nicht begreift. M.s
antisozialistische Polemik mündet in den bereits von manchen
bürgerlichen Politökonomen begründeten angeblichen »Konflikt
zweier antagonistischer Wirtschaftslogiken: der Logik des Planes
und der Logik des Marktes« (Zehn Thesen zur sozialökonomischen
Gesetzmäßigkeit der Übergangsgesellschaft, S. 20). M.s
antisozialistisches Konzept ist untrennbar mit
konterrevolutionären, Ideen und Forderungen verbunden.
Publikationen: Traite d'economie marxiste.
2 Bde., Paris 1962 (4 Bde., Paris 1969; dt.: Marxistische
Wirtschaftstheorie. 2 Bde., Frankfurt a. M. 1968); La formation
de la pensee economique de Karl Marx de 1843 jusqui ä la
redaction du »Capital«, Paris 1967 (dt.: Entstehung und
Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx [1843-1863],
Frankfurt a. M., Wien 1968); Die EWG und die Konkurrenz
Europa-Amerika. 1968 (Reinbek b. Hamburg 1982 u.d.i.: Amerika
und Europa: Widersprüche des Imperialismus); Initiation ä la
Iheorie economique marxiste, Paris 1968 (dt.: Einführung in die
marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1969); Die
deutsche Wirtschaftskrise: Lehren der Rezession 1966/67,
Frankfurt a.M. 1969; Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte.
Arbeiter-Selbstverwaltung, Frankfurt a. M. 1971; Der
Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1972; Lenin und das Problem
des proletarischen Klassenbewußtseins, Zürich 1972; Der Sturz
des Dollars (Teils.), Berlin (West) 1973; Zehn Thesen zur
sozialökonomischen Gesetzmäßigkeit der Übergangsgesellschaft
zwischen Kapitalismus und Sozialismus. In: Probleme des
Sozialismus und der Übergangsgesellschaften, hg. von P.
Hennecke, Frankfurt a. M. 1973; Über die Bürokratie, Hamburg
1974; Politische Ökonomie der Übergangsperiode (Teils.), Hamburg
1974; Zur Theorie der Übergangsgesellschaft, Hamburg 1974; Die
Rolle der Intelligen?, im Klassenkampf, Frankfurt a.M. 1975;
Weltwirtschaftsrezession und BRD-Krise 1974/75 (mit W. Wolf),
Frankfurt a. M. 1976; Ende der Krise oder Krise ohne Ende?
Bilanz der Weltwirtschaftsrezession und der Krise in der
Bundesrepublik, Berlin (West) 1977: Kritik des Eurokommunismus:
revolutionäre Alternative oder neue Etappe in der Krise des
Stalinismus? Berlin (West) 1978; Revolutionäre Strategien im 20.
Jahrhundert, Wien 1978; Leo Trotzki: Eine Einführung in sein
Denken. Berlin (West) 1981; Revolutionärer Marxismus heute,
Frankfurt a.M. 1982. Literatur: H. Heininger/P. Hess/K.
Zieschang: Marxistische Wirtschaftstheorie contra Mandel. In:
Marxistische Blätter, Frankfurt a. M. 1969, H.
3; Bürgerliche Ökonomie ohne Perspektive, Berlin 1976; G.
Krause/K. 0. W. Müller: Der »wahre« Marxismus des Ernest Mandel,
Berlin 1980; Geschichte der politischen Ökonomie. Grundriß,
Berlin 1985.
Editorische Anmerkungen
Der Text stammt
aus: Krause, Werner; Graupner,
Karl-Heinz & Sieber, Rolf (1989). Ökonomenlexikon. Berlin: Dietz.
S. 277ff
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