Gelbwesten
Erster Durchbruch einer Volksbewegung ?

von "horst"

02/2019

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onlinezeitung

Vorbemerkung:

Die Gelbwestenbewegung Frankreichs stellt kein nationales Einzelphänomen dar. Vielmehr handelt es sich um erneuerte Form demokratischer Protestkultur unter digitalen Vernetzungsbedingungen.
Zugleich stellt es den Versuch dar, eine adäquate Antwort auf den seit 35 Jahren verschärft geführten Klassenkampf der Reichen zu formulieren.
Die Bewegung in Frankreich hat Vorläufer in der griechischen Selbsthilfebewegung aus 2015. In die Betrachtung einbezogen werden muss auch die nun seit 19 Wochen andauernde wöchentliche Demonstrationswelle gegen die Verarmung in Serbien. Insofern ist hier nur ein erstes Kapitel zur Befassung mit dem Phänomen erstellt. Die strukturellen Entstehungsbedingungen müssten ebenfalls nochmals gesondert diskutiert werden.

a) Die Bewegung in Frankreich begann im letzten Quartal 2018.

Auslöser war die Spritsteuer Erhöhung, die mit der Notwendigkeit des Umweltschutzes begründet wurde. Steuerkonflikte hatten immer schon eine politische Brisanz. Erinnert sei an die Lostrennung Amerikas vom engl. Mutterland durch die Teesteuer und an die Auslösung der Franz Revolution durch die versuchte Zustimmung der Generalstände zu Steuererhöhungen.
Vor diesem Hintergrund erfreuten sich Steuerfragen in Frankreich schon immer einer erhöhten Aufmerksamkeit: In den 50er Jahren war die Bewegung der "Steuerrebellen" unter Poujade aktiv, die sich der Verteidigung der Geschäftsleute, Ladeneigentümer und Handwerker verschrieben hatte. Im Zuge dieser Rebellion war damals ein junger Jean-Marie Le Pen ins Parlament gespült worden.

Als der LKW-Fahrer Drué (mittlerweile im Knast) Ende Oktober 2018 über facebook zu massiven Blockaden von Autobahnen und Kreisverkehren (Industriezentren ausserhalb der Städte) aufrief, fand er ein gewaltiges Echo. Auch bei einigen Spitzenpolitikern.

Die gestolperte Rechte

Marine Le Pen, Chefin der rechten "Nationalen Sammlung" ( "Rassemblement National" RN) sowie Dupont Aigan von ""Aufstehen Frankreich" ( "Debout la France" DLF) unterstützten Ende Oktober den Aufruf. Für diese Spaltprodukte des ehemaligen "Front National" (FN) ging es um eine Wiederholung der rechtsnationalistischen Steuerrebellion der 50er Jahre und den Aufbau einer rechten Massenbewegung.

Aber sie hatten die Rechnung ohne das Proletariat gemacht: schnell gründeten sich auf facebook fünf verschiedene Unterstützerplattformen. Der Versuch der Rechten, den Umweltschutz lächerlich zu machen, wurde von heftigen Gegenreaktionen begleitet. Es ginge darum, den Umweltschutz in der Politik zu generalisieren, statt ausschliesslich nur die "kleinen Leute" zur Kasse zu bitten. Es wurde auf Gebäudeisolierung, Schiffahrt, Flugverkehr etc. hingewiesen.

Anfang November erklärte Jean Luc Mélenchon mit seiner linkspopulistischen Plattform "Unbeugsames Frankreich" ( "la france insoumise" LFI) seine Unterstützung der Proteste. Aber auch mehrere Gruppen der größten Gewerkschaft CGT schlossen sich ab November den Protesten in Bordeaux,in Toulouse und teilweise in Nantes massiv an.

Woche für Woche wuchsen die Proteste landesweit und erreichten in den Wochen vor Weihnachten nach Aussagen des Innenministers Castana ihre größten Mobilisierungen. Je breiter die Proteste wurden, umso mehr bestimmten soziale Forderungen die Szene. Die Rechte mussten sich anpassen oder wurde langsam politisch überspielt.

Im November beantworteten die Gelbwesten das Verhandlungsersuchen des Präsidenten mit einem Katalog von 42 untereinander per Netz abgestimmten Forderungen. Spektakulär versuchten die etwas verdrängten Rechten sich wieder in Szene zu setzen, als die Bedrohung durch Deutschland bei der Erneuerung des deutsch-französischen Vertrages in Aachen am 22. Januar beschworen wurde und man darauf verwies, dass ja das ehem. NSDAP - Mitglied und späterer EU- Kommissionspräsident Hallstein den Anstoß zu diesem Vertrag gegeben hätte.

Aber das verfing nicht, sondern lenkte nur den Blick auf die Bestimmung der Vereinbarung, dass Deutschland und Frankreich in Fragen der "Inneren Sicherheit" sowie bei Militäreinsätzen künftig gegenseitigen Beistand leisten werden. Die Rechten sind weiterhin in der Bewegung anwesend (Was bei der Breite der Bewegung normal ist), scheiterten jedoch bisher bei dem Versuch inhaltlicher Vereinnahmung. Sie sind weder die Gründer der Bewegung, noch machen sie deren Substanz aus. Im Gegenteil: In den 42 Forderungen tauchen viele auf, die den Schutz und die humane Unterbringung von Flüchtlingen fordern.

Die Bewegung ist extrem parteifeindlich. Begründet wird dies mit den Erfahrungen der letzten Jahre, dass Parteien Protestbewegungen immer nur zu vereinnahmen versuchten. Innerhalb der Bewegung gibt es Konsens, keine "Vereinnahmung" ("recuperation") zuzulassen.
Von Parteien würde man eh immer wieder enttäuscht, hiess es.
Zugleich wurde die Forderung nach einer Demokratisierung des gesamten Systems immer stärker intern ab Dezember auch nach aussen diskutiert. Volksabstimmungen (RIC) werden gefordert. Die gemeinsame Parole ab Mitte November war die Rücktrittsforderung (" Macron demission")

Die Regierung ist in der Defensive bleibt aber hart

Macron beschimpfte anfangs die Bewegung und verlegte sich dann darauf, sie als "rechts" abzustempeln. So wurde Drouet, der LKW Fahrer, der den ersten Aufruf verfasste, als "Rechter" im TV dargestellt, was dieser jedoch bestritt. Er behauptete, immer Mélenchon gewählt zu haben. Als die Eindämmung der Bewegung missgelang, versprach Macron am 27. Nov., die umstrittene Benzinsteuer für ein Jahr auszusetzen.

Inzwischen aber war die Bewegung weiter radikalisiert und forderte bereits seinen Rücktritt. Macron forderte die Gelbwesten auf, eine Delegation zu einer großen Debatte zu entsenden, die auch medial übertragen werden könnte. Das wurde nach einer kurzen Verständigung über die Plattformen jedoch umgehend abgelehnt, da man nicht bereit sei, für die "Showeinlagen" des Präsidenten zur Verfügung zu stehen.

Daraufhin verkündete Macron, durch Frankreich zu reisen und eine "große Debatte" vor Ort zu führen. Einige "Gelbwesten" sollten neben Bürgermeistern daran teilnehmen dürfen. Auch das wurde abgelehnt und potentiellen Teilnehmer*innen die Legitimation abgesprochen.
Zudem wurde vor der Teilnahme gewarnt.

Ab Dezember erfuhr die Bewegung eine massive Verstärkung ihrer Kampfkraft durch den Zustrom der Schüler- und Studierendenbewegung, die ihre Kämpfe für ein anderes Bildungssystem in die Bewegung einbrachten. Macron fasste schliesslich einen lächerlichen Entschluss: Er zog die "Leidenshefte" des französischen Königs ("cahiers dolerance") aus der Zeit vor der Revolution aus der Tasche. In allen Gemeinden sollten diese Bücher ausliegen und die Bürger könnten dort ihre Beschwerden schildern. ( Es folgte großes Gelächter aus dem Off in facebook über den Selbst -Rettungsversuch des "Königs" ) Als Macron in Caen mit ausgesuchten Repräsentanten Anfang Januar 2019 die "Demokratiegespräche" führte, wurde er von 3000 Demonstranten (offiziell 400) unter der Parole "Koffer packen" empfangen. Bei seiner nächsten Station Ende Januar empfingen ihn in Valency über 10 000 mit einer Demo um die abgesperrte Innenstadt.

Die mittlerweile 11 getöteten Demonstranten bedauerte er, bestritt aber, dass sie durch Polizeieinsätze getötet wurden. Inhaltlich weicht die Regierung nicht weiter zurück und geht auf die 42 Forderungen der Gelbwesten in keiner Weise ein.

Zu Macrons Unglück kocht nun auch die Affäre Benalla vom vergangenen Sommer wieder hoch: der Sicherheitschef des Elisée und Macrons Sicherheitschef war auf einem Video entdeckt worden, wie er sich als Polizist an Angriffen auf Demonstranten beteiligte. Trotzdem hielt Macron an dieser Personalie fest. Im Jan. erklärte die Staatsanwaltschaft, dass sie gegen die gleiche Person nun wegen Kontakten zur Mafia ermittele.

Zahlenspiele zu den Teilnehmerzahlen der Proteste

Das Innenministerium erhält die Zahlen von den örtlichen Prefekturen. ( zentralistisch an den Staat gebundene Verwaltungseinheiten mit der Funktion von Polizeipräsidien.) Dort war vor Weihnachten von ca. 100 000 Teinehmern die Rede und der Innenminister erklärte, dass seither die Zahlen ständig zurückgingen. Seither waren es offiziell immer 70 bis 80 tausend, was bei der deutschen ARD dann auf "einige tausend" weiter geschrumpft wurde.

Diese Zahlen wurden von der Bewegung als lächerliche offizielle Lügen bezeichnet und im Februar hat die Polizeigewerkschaft dies bestätigt: Sie veröffentlichte verbotenerweise Zahlen, die sie selbst bei den Polizeiführern vor Ort ermittelt hatte und kommt für den 2. Februar auf knapp 300 000. Demnach müssten es vor Weihnachten mindestens eine halbe Million gewesen sein.

Der Repressionsapparat

Die Opferangaben sind uneinheitlich. es gibt mittlerweile eine Webseite ("Entwaffnen wir sie") die die Angaben sammelt und auswertet. Die 12 Toten (einer davon in Brüssel) scheinen gesichert.
"Ich stelle fest, dass sie oft ihr Leben wegen menschlicher Dummheit verloren haben, aber keiner von ihnen ist Opfer der Strafverfolgung geworden", sagte Macron ( le figaro 28. januar)

20 Menschen haben ihr Augenlicht verloren.. 5 bis 10 haben Hände oder Füsse verloren. 4 scheinen durch direkten Granatenbeschuss Wirbelsäulenschäden erlitten zu haben und werden wohl gelähmt  bleiben. 1090 Personen verbrachten mehrere Tage im Krankenhaus.
webseite - "Entwaffnen wir sie" https://desarmons.net/
Ein Rechtsanwalt der Gelbwesten nennt folgende Zahlen: 1000 verletzte Polizisten.. auf Seite der Demonstranten mehr als 1800 Verletzte. Seinen Angaben nach gab es bis Anfang Februar mehr als 100 Personen, die entstellt sind oder ein Auge verloren.

Um die Weihnachtstage tauchten an Einsatzfahrzeugen der Gendarmerie die Abzeichen der EUPolizei "eurogendfor" auf. D.h., dass die EU- Aufstandspolizei dem Repressionsapparat (wie früher schon in Griechenland und beim Hamburger G-20 Gipfel) Unterstützung gewährt.
Immer mehr Polizisten verdrücken sich während des Einsatzes und tauchen erst später wieder auf. Die Gewerkschaft der Polizei hat die Beamten aufgerufen, gesetzeswidrige Befehle zu verweigern und Einheiten geraten, "notfalls in den Streik" zu gehen.

Am 2. Februar gab es in Paris einen "Marsch der Verletzten", die zum Versammlungsplatz der Gelbwesten gingen. Daran nahmen mehrere tausend teil und bekundeten ihre Anteilnahme. Auch Jerome Rodriguez, einer des 5köpfigen Sprechergremiums ging mit, dem vor zwei Wochen ein Auge weggeschossen wurde. Er würde so lange weiterprotestieren, bis sie ihm das zweite Auge zerstören würden, sagte er in die Kameras. Auch 20 Rollstuhlfahrer*innen waren dabei, die  entweder Wirbelsäulenverletzungen erlitten hatten oder denen ein Fuss weggerissen worden war. Mittlerweile wird in französischen Medien eine heftige Debatte um die Polizeibewaffnung geführt. Mehrere Juristen sprechen sich für eine Anklage von Macron und seinem Innenminister vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aus.

Ein Putsch?

Eine Gespensterdebatte erfolgte um die Weihnachtstage herum, als ein pensionierter hoher General seine Bereitschaft erklärte, mit der Armee für 70 Tage die Macht bis zu Neuwahlen zu übernehmen. Augenblicklich erfolgte eine Erklärung durch den verantwortlichen General der Bodentruppen, dass jeder Uniformträger zur Rechenschaft gezogen werde, wenn er sich an der Verfassung der Republik vergreifen sollte.

Generalstreik

Für den 5. Februar wurde ein Aufruf für einen Generalstreik verfasst. Er soll eine "Convergenz" (Zusammenführung der Protestbewegungen) bewirken. Der Aufruf ist unterzeichnet von der größten Gewerkschaft CGT, von der Gewerkschaft Sud, und als Einzelpersonen für bestimmte Spektren einem Sprecher der Gelbwesten (Eric Rouet) la France insoumise (Melenchon), NPA (Besancenot) und einem Vertreter der PCF.

Die PCF hat seit Ende Januar eigene Mobilisierungskomitees auf lokaler Ebene in Rouen, Caen, Toulouse und Marseille eingerichtet.

Der Aufruf ist in seiner Zielsetzung nicht ganz klar:

Sprecher der Gelbwesten mobilisieren für einen "unbegrenzten Generalstreik" bis zum Regierungsrücktritt, während die CGT von einer "Zusammenführung aller Protestbewegungen in einem gemeinsamen Kampf" spricht.

Noch in der Nacht zum 5. Februar begann der Generalstreik mit einem Paukenschlag: Der weltweit größte Großmarkt 13 km südlich von Paris wurde von der CGT massiv besetzt. Obwohl sofort ganze Polizeikolonnen in Marsch gesetzt wurden, waren bei Ankunft der Polizei bereits alle Tore besetzt.

Großmarkt ist besetzt! https://www.youtube.com/watch?v=7PKdFtpzh5o

Erfolg oder Misserfolg werden im Wesentlichen von der inneren Geschlossenheit der Bewegung und der Reaktion der Staatsmacht abhängen. Ein Rücktritt mit Neuwahlen wird immer wahrscheinlicher.

b) "Gelbwesten" ausserhalb Frankreichs

Ende Januar und am 2. Februar kam es in Barcelona und Madrid ebenfalls zu starken "GelbwestenAufläufen". Am 2. Febr. versuchten sie, die Entladung eines französischen Schiffes in Barcelona zu verhindern, wurden aber von der Polizei zurückgeschlagen...
hier: https://www.youtube.com/watch?v=WQrQWePlJ2M

Belgien

Im französischsprachigen Teil schlossen sich sehr schnell lokale Gelbwestengruppen zusammen und riefen zu einer Demonstration in Brüssel vor dem Finanzministerium auf. Bei dem Versuch, in das Gebäude zu gelangen, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Polizei drängte die Demonstranten auf die Straße zurück. Dabei kam ein Demonstrant ums Leben, als ein LKW in die Menge fuhr. Es wird gerichtlich zu klären sein, ob der Fahrer diesen Unfall schuldhaft verursachte.

Deutschland und andere

In einigen Ländern - wie in Deutschland auch - versuchten Rechtsradikale aus der Bewegung Honig zu saugen und organisierten "Solidaritätsaktionen" Sie kamen über lächerliche wenige Dutzend nicht hinaus.

Die deutschen Demos gegen das Dieselfahrverbot in Stuttgart und München am 5. Februar waren bereits bedeutend größer und entzündeten sich ebenfalls an der Frage des Autoverkehrs. In Stuttgart wurde eine versuchte AfD-Teilnahme durch die IG-Metall Kollegen verhindert. Beleidigt ruft die AfD nun für die kommende Woche zu einer eigenen Demo auf.

Serbien

In Serbien finden seit 19 Wochen! regelmnäßige Demonstrationen gegen die Verarmung statt. Das wird im übrigen Europa kaum wahrgenommen, weil die Medienkonzerne über Serbien nicht berichten. Als Putin am 19. Januar in Serbien war wurde er jubelnd empfangen und es wurden 20 Verträge im Bereich Kraftwerksbau, Wasserwirtschaft, Energieversorgung und Bahnverkehr unterzeichnet. Trotzdem bleibt Serbien weiterhin Beitrittskandidat der Nato, dessen Mitglied es 2025 werden soll.

Ägypten

In Ägypten erhöhte die Regierung ebenfalls die Steuern auf Benzin mit der Begründung des notwendigen Umweltschutzes. drei Wochen in Folge versammelten sich "Gelbwesten" in Kairo und hatten ebenfalls einen raschen stark anschwellenden Zulauf. Daraufhin verbot die Regierung alle Gelbwestendemonstrationen und der Verkauf von Gelbwesten wurde landesweit ebenfalls verboten.

Strukturelles

In ganz Europa fand in dem verschärften Klassenkampf der letzten 30 Jahre ein Wegbrechen der von den Gewerkschaften errungenen institutionellen Sicherheiten statt. Auch der gewohnte Modus der Aushandlung von Regelungen in der Arbeitswelt zerbröckelte. Immer weniger Menschen sind durch institutionalisierte Errungenschaften der Arbeiterbewegung geschützt. Heftige Abwehrkämpfe wie in Frankreich 2016 der Kampf gegen das Arbeitsgesetz und 2017 gegen die Bahnprivatisierung konnten das Blatt nicht wenden. Sie wurden verloren oder aber endeten mit Teilerfolgen. Vielfach lügen die Gewerkschaftsführungen sich selbst und den Kollegen in die Tasche, wenn sie den Anschein erwecken, dass sich alles vertraglich regeln lasse.

Nirgendwo wurde die Entmachtung der Gewerkschaften so deutlich sichtbar wie in Griechenland, wo Tarifverträge durch einseitiges Kündigungsrecht der Unternehmen zu einem Papierfetzen degradiert wurden und wo das Kriegsrecht gegen streikende Belegschaften angewandt wurde.

In Frankreich wurde mit einer Dezentralisierung des Tarifvertragssystems und der Verlagerung auf die betriebliche Ebene der gesetzliche Versuch unternommen, Gewerkschaften aus den Betrieben herauszumobben. In fast allen Ländern wurde das Günstigkeitsprinzip der Flächentarifverträge massiv angegriffen oder fast ganz zerstört. Die Schwächung des Tarifvertragssystems zeigt sich auch bei den Tarifinhalten. Sowohl in bezug auf die Lohnerhöhungen als auch der Breite der verhandelten Themen.

Deutschland ist hier - noch - in einer Sonderstellung durch die ausserordentliche Stärke der betrieblichen Verhandlungsbasis. Trotzdem ist auch in Deutschland fast die Hälfte der Beschäftigten mittlerweile ohne tariflichen Schutz.Überall in Europa haben prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen massiv zugenommen. Der "Soziale Dialog" ist zur inhaltsleeren Floskel geworden, die nur noch dazu dient, Regierungen "politische Legitimation" zu verschaffen.

Klassenelend

Gezwungenermaßen ziehen sich die Gewerkschaften vielfach aus der Fläche zurück und versuchen sich vor Ort auf gewerkschaftliche Bastionen zu konzentrieren.
Damit befördern sie bei weiten Teilen der Klasse das Gefühl, den Reichen und Mächtigen hilflos ausgeliefert zu sein. Die Ankerfunktion der Arbeiterbewegung für die von ihr vertretenen Klasse ist verloren gegangen. Hilflosigkeit und ohnmächtige Wut angesichts der von der Bourgeoisie vorangetriebenen Dezentralisierungen, Entlassungen, Umgruppierungen, Lohnabgruppierungen, Arbeitsverdichtungen etc.etc. breiten sich aus. Resignation und sich ausbreitende psychische Erkrankungen sind vielfach die Folge. Aber es verbreitet sich auch das Gefühl, hier müssten mal " ganz andere Seiten" aufgezogen werden. Dieses Gefühl wird von den Rechten sehr geschickt aufgegriffen und propagandistisch bedient. Zugleich wird gegen die kraftlose Linke gehetzt, die nur noch aus "Gutmenschen und Genderwahnsinnigen" besteht, die zudem die restlichen Arbeitsplätze und die löcherigen Sozialstandards durch die Zuwanderungen gefährdet.

So aufmunitioniert formiert sich der rechte Mob, wenn die linken Kräfte in ihrer Passivität verharren. Um dieser Entwicklung etwas entgegen zu setzen, müssen Linke wieder lernen zentralisierende Kämpfe zu führen, die sich nicht korporatistisch am Interesse einer Berufs- oder Branchengruppe orientieren, sondern die gesamte Klasse in den Kampf ziehen.
Genau das wird in Frankreich aktuell durch den jetzigen Streik mit der "Convergenz der Bewegungen" versucht.

Vorläufer

Wir erlebten bereits 2013/14 in Griechenland, als die Not des zusammenbrechenden Binnenmarktes, der Infrastruktur und des Medizinsystems eine massenhafte Bewegung hervorbrachte. Sie organisierten nicht den Protest, sondern das Überleben. Gestützt auf das Internet waren binnen kürzester Zeit ca. 400 000 Menschen im Solidaritätsnetzwerk "solidarity for all" unterwegs. Hinterhofmärkte, Sozialkliniken, alternativer Lebensmittelanbau waren erfasst. Als die Hungersnot zu einer realen Gefahr anwuchs, wurde von der Syriza Regierung Parkanlagen, öffentliche Plätze etc. für den Lebensmittelanbau und die Zucht freigegeben. Die Großhandelsketten REWE und LIDL protestierten heftig aber vergeblich.

Das organisierende Internet

Da der traditionelle Orientierungspol der Klassenorganisationen verloren ging, beginnen die Menschen, die ihr Schicksal nicht mehr ertragen wollen oder können, sich selbst spontan zu mobilisieren. Dabei ist das Internet eine ideale Einrichtung. Die Gründung einer Gruppe, die kurze Formulierung einer Zielsetzung und Werbung um Unterstützung sind bei facebook, instagram oder Twitter in kürzester Zeit zu schaffen. Waren es 2007 /8 noch die flashmobs, die binnen kürzester Zeit viele Menschen zu einer gemeinsamen Aktion zusammenführten, so sind es seit der großen Krise die Proteste gegen die Auswirkungen des Kapitalismus.

In Deutschland erlebten wir binnen weniger Wochen die Entstehung der "Seebrücke" als Flüchtlingshilfe und aktuell erleben wir die Schülerdemonstrationen "fridayforfuture" die bereits 4 Wochen nach der Gründung in 30 Städten der Bundesrepublik tausende junge Menschen auf die Straße brachten.

Das Internet reicht jedoch nicht aus, wenn sich lokal keine organisierenden Kerne bilden, die nach der ersten flüchtigen Begeisterungswelle weiterhin aktiv bleiben und die Kontinuität wahren.
 

Per Email am 05. Febr. 2019