Bollwerk Familie?
Carmen Korns Jahrhunderttriologie als langer Weg in die Illusionen*

von
Richard Albrecht

02/2019

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"The Free and Hanseatic City (Freie und Hansestadt) of Hamburg is the second smallest of the 16 Länder of Germany, with a territory of only 292 square miles (755 square km). It is also the most populous city in Germany after Berlin and has one of the largest and busiest ports in Europe. The official name, which covers both the Land and the town, reflects Hamburg’s long tradition of particularism and self-government. Hamburg and Bremen (the smallest of the Länder) are, in fact, the only German city-states that still keep something of their medieval independence. The characteristic individuality of Hamburg has been proudly maintained by its people so that, in many spheres of public and private life, the city’s culture has retained its uniqueness and has not succumbed to the general trend of standardization. - Hamburg, nonetheless, is a cosmopolitan city in its outlook. Although comparatively few foreigners live there, many pass through it. The city has dealings with a large number of nations, and it has more consulates than any other city in the world, except New York City. Shipping and trade have been Hamburg’s lifeblood for centuries. Not surprisingly, its harbour has remained the city’s most important feature. - Among Hamburg’s many other facets are a network of canals reminiscent of Amsterdam; lakes, parks, and verdant suburbs full of gracious houses; elegant shopping arcades; richly endowed museums; and a vibrant cultural life. These are among the attractions that have contributed to a growing tourist industry. Although it was badly damaged during World War II, Hamburg has succeeded in maintaining a sense of old-world grace alongside its thriving commercial life." (https://www.britannica.com/place/Hamburg-Germany)

I.
Abgesehen von Kriminalromanen der Autoren Hansjörg Martin, Uwe Wandrey, Frank Göhre, Lars Becker und zuletzt Till Raether erinnere ich einige Romane und längere Erzählungen, die ich in den letzten gut fünfzig Jahren zum Sujet oder Gegenstand
Hamburg als Handlungsmittelpunkt las. Zunächst erwähnenswert Willi Bredels historisch-dialektische Romantrilogie zu Aufstieg und Verfall einer proletarischen Familie: Die Väter (1941), Die Söhne (1949), Die Enkel (1953). Der Bogen spannt weiter von Christian Geisslers wilhelmsburger Jungarbeiter-Erzählung Kalte Zeiten (1964) und seinem späteren linkspolitischen Roman Das Brot mit der Feile (1973), Hubert Fichtes Szenenroman Die Palette (1968), Uwe Timms zeitnaher 68er-Erinnerung Heißer Sommer (1974), später seiner Currywurst (1993) und zuletzt seiner Bruder-Erzählung (2003) über Ralph Giordanos Erinnerung ans jüdisches Überleben der Hitlerjahre in Die Bertinis (1982) und Dietrich Schwanitz´ hochschulkritischem Roman Der Campus (1993) zu Alexander Osangs Journalistenkritik Die Nachrichten (2000) und Ulf Erdmann Zieglers Entwickungsgeschichte Hamburger Hochbahn (2007). In allen geht es auch um Selbstverständis, Mythos, Selbst- und Fremdbild dieser einzigen Freien und Hansestadt an der und um die Elbe mit ihrem Hafen als jahrhundertelang offenem Tor zur schiffbaren Welt und weniger um ihre wichtigen territorialen Erweiterungen etwa um das jahrhundertelang dänische Altona ("All´s to nah") und um das preußischen Harburg ("Horborg") mit Süderelbehafen 1937/38.

Um Teile dieses metropolischen, in sich vielfältig horizontal und vertikal gegliederten regionalen Gebildes, das von 1949 bis 1990 die größte Stadt der Alt-BRD war und in der Ende 2017 etwa 1.83 Millionen Einwohner registriert wurden, geht es auch im akuellen dreibändigen Buchprojekt von Carmen Korn (*1952) und dem Rowohlt Verlag, der 2016 bis 2018 erschienenen Jahrhunderttrilogie: Vier Frauen. Vier Familien. Zwei Weltkriege. Hundert Jahre Deutschland. Verlag und Autorin haben die etwa 1.650 Druckseiten der Romantrilogie auf der Rowohlt-Netzseite zusammenfassend so präsentiert:

"Einer neuen – einer friedlichen – Generation auf die Welt helfen, das ist Henny Godhusens Plan, als sie im Frühjahr 1919 die Hebammenausbildung an der Hamburger Frauenklinik Finkenau beginnt. Gerade einmal neunzehn Jahre ist sie alt, doch hinter ihr liegt bereits ein Weltkrieg. Jetzt herrscht endlich Frieden, und Henny verspürt eine große Sehnsucht nach Leben. Drei Frauen begleiten sie auf ihrem Weg: Ida wohnt in einem der herrschaftlichen Häuser am Hofweg und weiß nicht viel von der Welt jenseits der Beletage. Hennys Kollegin Käthe dagegen stammt aus einfachen Verhältnissen und unterstützt die Kommunisten. Und Lina führt als alleinstehende Lehrerin ein unkonventionelles Leben. Die vier Frauen teilen Höhen und Tiefen miteinander, persönliche Schicksalsschläge und die Verwerfungen der Weltpolitik, vor allem der Aufstieg der Nationalsozialisten und der drohende Zweite Weltkrieg, erschüttern immer wieder die Suche nach dem kleinen Glück. Wirtschaftswunder, Rock ‘n‘ Roll, Cocktailpartys – der zweite Teil der Jahrhundert-Trilogie. 1949: Die vier Freundinnen Henny, Käthe, Ida und Lina stammen aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen. Dabei sind sie im Hamburger Stadtteil Uhlenhorst nicht weit voneinander entfernt aufgewachsen. Seit Jahrzehnten schon teilen sie Glück und Unglück miteinander, die kleinen Freuden genauso wie die dunkelsten Momente. Hinter ihnen liegen zwei Weltkriege. Hamburg ist zerstört. Doch mit den Fünfzigern beginnt das deutsche Wirtschaftswunder. Endlich geht es aufwärts: Hennys Tochter Marike wird Ärztin, Sohn Klaus bekommt eine Stelle beim Rundfunk. Ganz neue Klänge sind es, die da aus den Radios der jungen Republik schallen. Lina gründet eine Buchhandlung, und auch Ida findet endlich ihre Berufung. Aufbruch überall. Nur wohin der Krieg Käthe verschlagen hat, wissen die Freundinnen noch immer nicht. Im zweiten Teil ihrer Jahrhundert-Trilogie erzählt Carmen Korn [...] von der deutschen Nachkriegszeit, den pastellfarbenen Fünfzigern und der Aufbruchsstimmung der Sechzigerjahre. – Henny Unger feiert einen runden Geburtstag, siebzig Jahre ist sie geworden. So alt wie das Jahrhundert. Beim Gartenfest an ihrer Seite: die Freundinnen Käthe, Lina und Ida – wie seit Jahrzehnten schon. Doch längst hat sich der Kreis der Gratulanten erweitert. Aus den vier Freundinnen sind Mütter und Großmütter geworden. Hennys Enkelin Katja träumt davon, als Fotoreporterin um die Welt zu reisen, Idas Tochter Florentine kehrt mit einer Überraschung nach Hamburg zurück. Und auch Ruth Eveling, die Adoptivtochter von Käthe, ist fester Teil des Freundschaftsbunds. Denn zu Hennys großer Freude führt die nächste Generation die Tradition fort: Sie teilen Glück und Leid miteinander, die kleinen und die großen Momente. Vom Deutschen Herbst über die Wiedervereinigung bis zur Jahrtausendwende – anhand der vier Familien aus Uhlenhorst erzählt Carmen Korn ein Jahrhundert bewegter und bewegender deutscher Geschichte. Mit ´Zeitenwende´ findet die Jahrhundert-Trilogie ihren Abschluss."

Vor jeder weitergehenden inhaltlichen Vorstellung dieser Jahrhunderttrilogie etwas so Formales wie Grundpositives: Mit 660, 715, 635 Gramm wiegt jedes Exemplar der Buchtrilogie weniger als 1.000 Gramm. Und ist damit mit der Deutschen Post im Inland für jeweils 1,70 € und als gesamte Trilogie in drei Einzelsendungen für derzeit zusammen 5.10 € als (Maxi-) Büchersendung preisgünstig zu befördern.

II.
Gewiß mag wer immer das will diese drei Bände voraussetzunglos lesen. Besser freilich wär schon die Benützung der allen drei Büchern jeweils beigegeben Materialien zur Orientierung nicht nur für alle Neu- und Butenhamburger:

Band 1 enthält nicht nur den Romantext (I: 7-537) zu den knapp dreißig Jahren Erzählzeit von März 1919 bis Dezember 1948, sondern auch eine (leider maßstablose) Karte Hamburg 1919 (I: 542f.) mit Schwerpunkt auf den Stadtteilen Uhlenhorst (als Zentrum) – Barmbeck – Hohenfeld – Eilbek. Damit ist der raumzeitliche Rahmen zur Erzählzeit der acht Jahrzehnte abgesteckt. Er wird flankiert durch ein angehängtes A bis Z-Glossar (I: 544-556) zur Erzählzeit 1919-1948 sowie ein kurzes Danke an (I: 557). Das wichtige Glossar stellt sowohl Hamburger Eßgerichte und Einkaufsspe-zialitätengeschäfte wie zeitgeschichtliche Organisationen und Personen in- und außerhalb von Ham-burg kurz und ausgewählt vor: etwa das Franzbrötchen als gefrühstücktes süßes Feingebäck aus Hefe- oder Plunderteig (nicht aber das dröge billige Rundstück); oder das norddeutsche Schlicht-gericht Birnen, Bohnen und Speck (Beer´n, Boh´n un´ Speck“, auch Grön´ Hein"); oder das weltweit erste "Markenkondom" Fromms zum Schutz vor Geschlechtskrankheiten und zur Kinderverhütung, das hamburgisch (teilweise heute noch so) beim Namen genannt wird; oder das 1814 gegründete Feinkostgeschäft Michelsen (innenstadtnah an der Bille). Hier freilich gibt es eine kleine Leerstelle in Gestalt des von Uwe Timm erinnerten größten Hamburger Kürschnerbetriebs Levermann mit seinen modischen Pelzmänteln, der durch "Arisierungen" und "Zukäufe" so erfolgreich wurde.[2] Der schwerste wie nicht nachsehbare Mangel aller bisheriger Auflagen von Töchter einer neuen Zeit ist jedoch das Fehlen eines leserinorientierenden Personeninventars.

Erst Band 2 stellt dieses Personeninventar dem Romantext (II: 11-589) voran (II: 6-9). So daß wer beide Bände hat/liest sich behelfen kann. Zeiten des Aufbruchs hat eine großflächige maßstabslose Karte von Hamburg 1947 (II: 591f.) mit dem Vorteil, daß hier die wichtige kernstädtische U-Bahn- bzw. Hochbahnstrecke U 3 – und dazu auch kriegsbombenzerstörte Teile – verzeichnet sind. Das A bis Z-Glossar (II: 593-604) ist weitgehend hamburgspezifisch auf die erzählte Zeit von März 1949 bis November 1969 bezogen. Den Anhang beschließen Quellenangaben zu im Roman zitierten Textpassagen (II: 605).

Der Ende September 2018 erschienene trilogische Schlußband Zeitenwende schließt den erzählten Zeitraum von achtzig Jahren von März 1970 bis November 1999 ab (III: 13-550) und zur inzwischen oft Postmoderne genannten gegenwärtigen Ära auf. Gerahmt wird der Romantext von Personeninventar (III: 7-11) und einer maßstabslosen Hamburgkarte von 1970 (III: 556f.). Diesmal gibt es kein Glossar. Der Band enthält ein paar "Nachwort" (III: 553) genannte Zeilen der Autorin, ein Quellenverzeichnis zu im Text verwendeten Literatur- und Liedtexten (III: 555) sowie einen beigelegten "Flyer" mit kurzem Personeninventar; wobei eine intergenerativ-genealogische Darstellung als Tabelle wie im Anhang von Sabine Friedrichs kritischer Saga Familiensilber (2005) als "Stammbaum" der vier die Romantrilogie tragenden Frauengestalten vom leserischen Gebrauchswert her hilfreich gewesen wäre.

Ergänzend sei konkretisiert, was die Autorin ausführlich aktuell betonte[1]: Wohl geht es um Hamburg als allgemeinen Rahmen. Im Mittelpunkt der Romantrilogie jedoch steht speziell der Stadtteil Uhlenhorst [Platt: Ulenhorst; Hochdeutsch Eulennest] an der Außenalster: heute ein mittlerer der insgesamt 104 Hamburger Stadtteile im Bezirk Hamburg-Nord mit einer Fläche von etwa 2,2 km² und etwa 18.000 (Ende 2017 amtlich erfaßen) Einwohnern. Im Erzählzentrum stehen deren Wohnquartiere und Straßenzüge im Norden (Sierichstraße, Körnerstraße, Mühlenkamp), im Süden (direkt an der Alster Schwanenwik, Papenhuderstraße) und die am Kanal liegenden und auf Barmbeck-Süd hinweisenden Straßen Finkenau, Eilenau, Lerchenfeld, Uhlandstraße.

III.
Weil ich immer noch nicht zu jenen gehöre, die die "Kunst" beherrschen, "Bücher zu beurteilen, ohne sie gelesen zu haben"[3], folgen einige exemplarische teils positive, teils kritische Lesehinweise zu Form und Inhalt von Carmen Korns Romantrilogie. Dabei ist klar, daß die Autorin als Schriftstellerin gewußt haben muß, wieviel Kraft & Ausdauer, Wissen & Können Planung, Organisation & Durchführung ihr Projekt Jahrhunderttrilogie: Vier Frauen. Vier Familien. Zwei Weltkriege. Hundert Jahre Deutschland erfordert. Insofern meint ihr opus magna auch Disziplin und Engagement. Und die vielen journalistischen Recherchen für ihre Jahrhunderttrilogie sind grundsolide: beim Erstlesen fand sich in Band III nur eine (eher randständige) Falschdatierung zum berühmt-berüchtigten Berlinbeschluß im Bonner Bundestag vom 20. Juni 1991.

Die Zentralfigur der fraulichen Viererbande ist Henny Goldhusen (*1900), Krankenschwester und Hebamme an der Uhlenhorster Frauenklinik Finkenau. Sie verkörpert auch nach dem Tod ihres dritten Ehemanns Ende der 1990 Jahre als noch Ende 1999 Lebende das Element überwölbender Stetigkeit. Ihr erster Ehemann starb früh 1926. Von ihm hat Henny die Tochter Marike (*1922), später verheiratete Utesch und Frauenärztin. Klaus Lühr (*1931) ist ihr Sohn aus zweiter Ehe mit dem Lehrer ihrer Tochter, von dem sie nach dem Weltkrieg geschieden wurde. Klaus ist homosexuell und in den 1990er Jahren AIDS-gefährdet, sein Erwerbsleben lang NDR-Moderator und mit dem Jazzmusiker und Komponisten Alex Kortenbach (*1926) verpartnert. Ihren dritten Ehemann, Dr. Theo Unger (*1892) kennt Henny bereits aus ihren ersten Klinikjahren aus der Finkenau. Er war dort bis zur Rente (später leitender) Arzt. Henny Enkel ist Konstantin Utesch (*1962), zuletzt als junger Frauenarzt Praxisnachfolger seiner Mutter.

Hennys nächste Freundin ist Käthe Laboe (*1900) aus einer Arbeiterfamilie, als Hebamme ihre Finkenau-Kollegin, verheiratet mit Rudi Odefey (*1900), einem zeichnerisch begabtem, unehelich geborenen Handarbeiter. Beide waren in der Weimarer Republik kommunistisch engagiert und organisiert, von den Nazis festgenommen, mißhandelt, in Konzentrationslager verbracht, verschollen, teilweise für tot gehalten. Käthe und Rudi treffen einander erst wieder 1947 und nehmen behutsam Kontakt mit Henny und ihrem Kreis auf. Käthe ist infolge einer frühen Abortion unfruchtbar. Das kinderlose Ehepaar Odefey, das Rudis vermögenden italienischen Vater beerbt, adoptiert Anfang der 1950er Jahre Ruth Eveling (*1944), die später als Aktivistin der terroristischen "Rote Armee Fraktion" (RAF) gesucht sowie gefangen wird und jahrelang im Gefängnis einsitzt.

Die Dritte im Frauenbund ist seit 1926 die attraktive berufslose Ida Bunge (*1901). Sie heiratet in zweiter Ehe den illegal das Dritte Reich überlebenden Exilchinesen Tian Yan, deren Tochter Florentine (*1941) in den 1960er Jahren international prominentes Topmodel wird.

Das Quartett vervollständigt als Älteste Lina Peters (*1899). Sie ist nach einer kurzen frühen Liebesbeziehung fortschrittlich engagierte Lehrerin an Privatschulen, lesbisch und lebt bis ans Lebensende mit der aus Köln zugezogenen Theaterdramaturgin Louise Stein (*1901) zusammen. Beide betreiben zum Überleben in den 1930er Jahren mit Momme Siemsen (*1912) die nach einem von den Nazi aus der Finkenau entlassenen jüdischen Arzt benannte Hamburger Buchhandlung Landmann, die auch seit Mitte der 1960er Jahre kommerziell erfolgreich wird. (Das ermöglicht der Autorin zeitgeistige Synchronisierungen durch Listungen sei´s empfohlener sei´s gut verkäuflicher Bücher.)

Diesen vier Frauen zugetan ist die Pensionswirtin Guste Kimmroth (*1887), bei der bis zu ihrem Tod im November 1980 jahrzentelang unter anderem lebten: zunächst Ida mit ihrem Vater, später mit ihrem Mann Tian und deren Tochter Florentine; der aus Argentinien zurückkehrende anglophone Jazzer Alex Kortenbach (*1926) und Momme Siemsen (*1912) mit seiner späteren Familie.

Die sich aus dieser Figuration mit ihrer großen Suche nach dem kleinen Glück ergebenden Irrungen & Wirrungen, Konflikte & Lösungen auch nur in den Grundzügen zu skizzieren wäre ein Mehrtagesprogramm. Die allgemeinen Topoi sind Liebe & Familie, Schutz & Geborgenheit, (Über-) Leben & Sterben, gelegentlich überlagert von zeitbezogenen Subthemen und Abeuteuern wie RAF-Terrorismus in den 1970ern und einer gelungenen Fluchthilfeaktion aus der DDR 1980. Deutlich wird als handlungsbezogene Gemeinsamkeit der Akteure, ausgedrückt in den Worten des sensiblen NDR-Tontechnikers (ohne Abitur) Robert Langeloh (*1932), später der ledige Vater der Tochter von Florentine (III: 492): "Wir sind einfach begabt darin, aus allem das beste zu machen."

Im ersten Band seht das berufliche, kulturelle und familiäre Werden einschließlich der zu überlebenden Braunen Jahre, des Weltkriegs und seiner zeitnahen Folgen bis Ende 1948 im Mittelpunkt. Im zweiten geht es um die Teilhabe am neuen wirtschaftlichen und kulturellen Geschehen in der bundesdeutschen Gesellschaft mit ihrer gnadenlosen sozialen Konformität der Adenauer´schen Keine Experimente-Welt bis Mitte der 1960er sowie der ersten, vorwiegend studentisch getragenen Alternativbewegung der Achtundsechziger bis Ende 1969. Im letzten Band schieben sich was die Ursprungsfiguren und ihre Entwicklung betrifft Probleme wie Alterungsprozesse, Krankheiten und Tod in den Vordergrund.

Enthalten alle Romanteile jeweils farbige Vielfalten an Lebensweisen und Handlungsmustern von der exotischen Weltläufigkeit exilchinesischer Teebereitungszelebration bis zum verkitschten Krähwinkel uhlenhorstisch-kleinbürgerlicher Glücksvorstellungen, so gibt es doch bei aller Bunt-heit und Vielfalt der Erzählbögen einige Leerstellen als nicht angesprochene Ereignisse sei´s allgemeiner, sei´s hamburgbesonderer Prägung: In diesem Sinn beispielsweise auffällig, daß von Frauenüberschuß und Männermangel in wichtigen Altersgruppen von den Kriegsjahren bis Mitte der 1950er Jahre ebensowenig zu lesen ist wie von besonderen Maßnahmen gegen die große Woh-nungsnot dieser Jahre, den "Nissenhütten"; oder auch von Konflikten mit "Heimatvertriebenen". Unerwähnt auch sowohl internationale Sportgroßereignisse wie die Fußballweltmeisterschaften 1954 in der Schweiz und 1966 in England wie hamburgbezogene, etwa die vom Senat getragene Demonstration gegen die Berliner "Mauer" und "Die Freunde Ulbrichts" (DFU) im August 1961. Auch der 1968 vor allem in und um Hamburgs U-Bahnen aktive Filzstifter Peter-Ernst Eiffe (1941-1982) mit seinen Sinnsprüchen[4] wie: Kein Hammer, keine Sichel, nur Eiffes Hand auf Hamburgs Michel; Ruhnau ist noch Senator – Eiffe ist auch krank; Richtet mit und ohne Finger stets den Strahl auf Axel Springer, Wer „Streit“ will, stirbt leider – Eiffe der Bär will Frieden; Professoren verpisst Euch, niemand vermißt Euch, der 1970-1982 in der Psychiatrie verbrachte und posthum als biographiewürdig gilt[5], fehlt. Schließlich wird später zwar kurz die Kanzlerschaft des CDU-Dicken, Dr. Helmut Kohl, seit Herbst 1982 glossiert – die massenhaften Aktionen gegen NATO-Hochrüstung, für Abrüstung und Frieden dieser Zeit bleiben jedoch unerwähnt.

Der dritte Band finalisiert auch durch wehmütige Erinnerungen von Henny und Käthe (die Anfang 1999 stirbt) an "ihre" Geburtshilfe- und Frauenklinik Finkenau auf die das alte 20. Jahrhundert überlebende Henny als familiäre Patronin. Sie kann noch als aktive Hochbetagte im Alter von 99 Jahren einundzwanzig Gäste einladen und bewirten lassen. Der Band zeigt aber auch einige formale und inhaltliche Besonderheiten: einmal durchzieht ihn wie ein roter Faden die (dann einvernehmlich gelöste) konfliktorische, wirklich oder vermeintlich spannende Frage nach einer Vaterschaft, genauer: wer der biologische Vater von Florentine Yans Sohn ist: der schwule Alex, den die attraktive junge Florentine immer schon umschwärmte und einmal verführte – oder ihr langjähriger Freund und Alex´ NDR-Kollege Robert. Zum anderen steigert Band 3 die auch schon in beiden Vorbänden gelegentlich vorkommende Nennung von Marken- und Firmennamen penetrant – was als bewußtes autorisches Stilmittel zur Veranschaulichung des auch kleinbürgerliche und intellektualisierte Sozialmilieus seit den 1970er Jahren erfassenden Wohlstands und damit die Ankunft "der Nachgeborenen" im postmodernischen "late modern age" (Anthony Giddens) gelesen werden kann (und wofür die familiäre Randexistenz eines auch eingeladenen Altprolls als Freund von Lina Peters in deren letzten Jahren spräche). Drittens schließlich wird das grundlegend auf Heterosexualität beruhende generationenübergreifende familiäre Muster im Abschlußband doppelt durchbrochen: es geht kontrapunktisch um zwei gleichgeschlechtliche Beziehungen in der ausführlichen Erzählung der Beziehungsprobleme der in intellekturellen und privilegierten Sozialmilieus lebenden Paare Lina & Louise in der älteren und Klaus & Alex in der mittleren Generation. (Dabei greift auch in dieser festen Beziehung bei sexuellen "Fehltritten" das herkömmliche einmal-und-nicht-wieder-Muster: nachgesehen und verziehen wird die Einmaligkeit des Verhalten sowohl zunächst von Alex zu Florentine, sodann von Klaus zu einem HIV-positiven Kollegen in New York; III: 451).

IV.
Jeder Roman, der diesen Namen verdient, ist auch Kunstwerk. Also sei auch hier auf Textliches und Autorensprache hingewiesen: Es handelt sich zunächst um die elaborierte und variantenreiche Spache einer so flüssig wie auktorial erzählenden erfahrenen Autorin, die weitgehend auf Jugendfloskeln, Berufsjargon und postmodernischen Sprachfäkalismus (wie Ficken) verzichtet: hier wird im Sinne eines betulichen Realismus, der durchaus als Pole dramatische Zuspitzung und sentimentalische Anrührung kennt, miteinander geschlafen (III: 442). Diese Autorensprache benützt und bedient auch Lokales und Regionales: im Negativen als sprachliche Schludrigkeit der Erzählerin etwa beim bekannten "längst" (von I: 7 bis III: 447) anstatt schon lange; gelegentlich werden auch aktuelle Spachmuster, wie etwas "stemmen" können, Jahrzehnte vorverlegt; und in einem Fall bestimmt die Figuren- die Autorensprache ausnahmlos immer dann, wenn es um den auch old green eye genannten "Husky" geht – um Florentines langjährigen Freund Robert Langeloh. Positiv geht es um das Hanseatische Sie in Verbindung mit dem Vornamen des Angesprochenen (III: 546). Und ab & an erinnert die Erzählerin auch im zeitgeschichlichen Zusammenhang an Einzelheiten wie Schlangen vor den Postämtern, um "hundert Mark Begrüßungsgeld abzuholen" und damit an zeitnahe Folgen der Berliner Maueröffnung am 9. November 1989 mit diesem Sprachbild (III: 444): "Die Innenstadt war in den Duft der Zweitaktmotoren gehüllt, ganz Mecklenburg schien in Hamburg zu sein."

V.
Auch wenn manche/r vom inhaltlich wie formal pragmatischen Zugang der Autorin zu ihren Frauenfiguren mit deren (meist gutaussehenden) Männern und deren auf Dauer ausgelegtes Zusammenleben in der Ehe als Voraussetzung für Gemeinschaften durch persönliche Bindung zunächst positiv angetan sein mag – so möchte ich doch an die funktionale Bedeutung und Rationalität "der sexuell-sozialen Versorgtheit" in der Ehe als "bürgerlichste Einrichtung im Bürgertum"[5] erinnern.

In der Romantrilogie ist und bleibt Familie als Heimat zentraler Topos: "Eine Familie gehört zum besten im Leben" (III: 443). Trotz Hennys scheiternder Zweitehe, aus der 1931 ihr zweites Kind und einziger Sohn Klaus hervorgeht, verklärt sie bis ins hohe Alter Familie als Hort der "Geborgenheit" (III: 470). Und der 84jährige Rudi Odefey, langjähriger Lebensgefährte und Ehemann der zweiten Romanhauptfrau Käthe, verallgemeinert Familie als trutzburgische Überlebensgemeinschaft im Dialog mit einem Schwerbehinderten so (III: 363):

"Eine Familie, die auf zwei Weltkriege, drei Konzentrationslager, vier Jahre in einer Justizvollzugsanstalt, fünf Jahre Kriegsgfangenenlager und die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung kommt, kann eine Krankheit wie deine kaum erschüttern."

Das klingt überzeugend angesichts erinnerter Lebens-, Kampf- und Leidenserfahrungen der Romanfigur. Und kann doch weder typisch noch repräsentativ für Familie als dominantes Lebensmodell im gegenwärtigen Ganzdeutschland sein. Und zwar nicht nur mit Blick auf durch "Arbeitsmarkt-Individualisierung" (Ulrich Beck) bedingte Individualisierung von Lebensstilen und Pluralisierung von Lebensformen mit ihren zerstörerischen Wirkungen auf Familie als zentrale, auch den ganzdeutschen Gegenwartsstaat bis heute tragende, institutionalisierte Lebensform.[6]

In einer ihre Romantrologie ergänzenden kurzen Weinachtserzählung hat Carmen Korn in einem Sammelband[7] kontrastiv an den im Roman selbst schemenhaft verbleibenden zweiten Ehemann von Henny und Vater ihres Sohnes Klaus, den später von ihr geschiedenen Lehrer Ernst Lühr, erinnert. Und dessen beziehungsarm-vereinsamtes Leben an Weihnachten 1957 mit einer Rückblende ins idyllisch-traute Weihnachtfest im Familienkreis vor dem Krieg 1937 verdeutlicht.

Auch in diesem zeitgeschichtlichen Zusammenhang wirken Text und Subtext vom Primat Familie im Roman wie ein rückwärtsgewandter Mythos auf eine Notgemeinschaft. Die Hinwendung zur Vergangenheit (auch von Familie) drückt "Sehnsucht nach Kontinuität in einer fragmentierten Welt" voller Ungewißheiten, Unsicherheiten und Zukunftsängste aus.[8] Diese aus den Fugen geratene soziale Welt aber ist weder mit der Ideologisierung familiärer und sonstiger Vergangenheiten noch dem praktischen Rückzug in den – typischerweise familiären – schützenden Panzer der anheimlig kleinen Lebenswelten als social cocooning zu kitten.

So gesehen, wirkt Carmen Korns romanhafte ganzdeutsche Jahrhundertrilogie jenseits aller illusions perdues als entwicklungsgeschichtliches Narrativ grundrealistisch: Aus der Neuen Zeit und dem Aufbruch zu Neuen Ufern wurden Abbruch und Ankunft in der altbekannten Welt kleinbürgerlicher Behaglichkeit mit ihrer scheinhaften sozialen Sicherheit.


*) Carmen Korn, Töchter einer neuen Zeit. Roman. Reinbek: Rowohlt, Oktober 2016, 557 p.; 5. Auflage Januar 2018, 19.95 € [= I]; Zeiten des Aufbruchs. Roman. Rowohlt, Juli 2017, 605 p.; 10. Auflage März 2018, 19.95 € [= II]; Zeitenwende. Roman. Rowohlt: Oktober 2018, 557 p.; 19.95 € [= III]
 

[1] Carmen Korn, Interview mit Gwendolin Simon; in: Rowohlt Presse, 260718 [pdf, 10 p.]

[2] Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders. München ²2005: 85, 106.

[3] Georg Christoph Lichtenberg, Werke in einem Band. Hg. Hans Friderici. Berlin; Weimar ³1978: 193.

[4] Peter-Ernst Eiffe, Eiffe for President - Frühling für Europa. Surrealismen zum Mai 68. Hg. Uwe Wandrey; Peter Schütt. Hamburg 1968; inzwischen gilt Eiffe als Person der Zeitgeschichte: Ortwin Pelc, Eiffe, Peter-Ernst; in: Hamburgische Biografie. Band 5. Göttingen 2010: 103–104.

[5] Ernst Bloch. Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/Main 1978: 379f.

[6] Richard Albrecht, Differenzierung - Pluralisierung - Individualisierung. Umbruchsprozesse der bundesre-publikanischen Gesellschaft; in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 41 (1990) 8: 503-512 ; ders., "Patient Familie" – Einblicke in mikrostrukturelle Lagen; in: Karin Böllert; Hans-Uwe Otto, Hg., Die neue Familie. Lebensformen und Familiengemeinschaften im Umbruch. Bielefeld 1993: 10-32.

[7] Carmen Korn, Weinachten mit einem Traum; in: Weihnachten mit Punkt Punkt Punkt. Achtzehn eigenwillige Weinachtsgeschichten. Reinbek 2018: 11-20.

[8] Zygmunt Bauman, Retrotopia. Deutsch Frank Jakubzik. Berlin 2017.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten diesen Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.
Dr.
Richard Albrecht, PhD. Sozialwissenschaftler & Wissenschaftsjournalist. Leitkonzept The Utopian Paradigm (1991). Kolumnist des Linzer Fachmagazins soziologie heute. Autor der Berliner Netzzeitung trend, des Marburger Forum Wissenschaft und der Kieler Bibliothekszeitschrift Auskunft. Dort erscheint eine gekürzte Druckfassung.