Kommentare zum Zeitgeschehen
Vom Ätschi-Bätschi zum Vogelzeigen.
Zur aktuellen Rhetorik einer Spitzensozi

von Richard Albrecht

02/2018

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Ende Oktober kritisierte ich als parteipolitisch ungebundener, insofern unabhängiger politischer Linker in einer aktuellen Anmerkung[1] die von Dr. Sahra Wagenkecht als prominenter Linkspolitikerin vertretene wirtschaftspolitische Grundposition. Und wertete deren beständigen Rückgriff oder Rekurs auf ´soziale Marktwirtschaft´ mit ´Wohlstand für alle´ in ihren Büchern seit Anfang der Zehnerjahre[2] sowie in ihren zahlreichen öffentlichen und Talkshowbeiträgen als politikgeschichtlich so überholte wie aktualpolitisch grundfalsche Position. Die heute - Marx/Engels variierend – wie reaktionärer oder Bourgeoisozialismus wirkt.

In ihrer inhaltlich nachhaltig gefühlsbetonten wie formal mehrfach überzogenen Rede auf dem Bonner SPD-Parteitag am 21. Jänner 2018[3] sprach die in Bonn zur Literatur- und Politikwissenschaftlerin ausgebildete Spitzensozi Andrea Nahles in besonderer Weise und wirkungsvoll nicht nur Parteitagsdelegierte, sondern auch ihre besondere Klientel "draußen im Lande" an. Dieser schrieb sie, ausdrücklich als Angst bezeichnet, ihre als SPD-Spitzenfunktionärin berechtigte Furcht vor Neuwahlen zu.

Politische Rhetorik[4] im allgemeinen wie auch die aktuelle Parteitagsrede der Nahles im besonderen kann natürlich wissenschaftlich analysiert werden - gerade wenn und weil Nahles speziell auf der Mentalitätsebene[5] sozialdemokratisches Herzblut affektiv im Willy-Willy-Gestus angesprochen haben mag. Bei genauem Hinhören und Hinsehen erweist sich die von Nahles angesprochene, auch als ideelle Wählerin vorgestellte, Frau mit ihren Fragen rational-analytisch als einer sozialstrukturell verortbaren soziale Gruppe verpflichtet, deren Angehörige am ehesten als herkömmlich proletaroide SPD-Traditionswähler/innen gekennzeichnet werden können (und auf die relevante Passagen gegen Ende der Nahles-Rede auch mit ihrer Mimik und Gestik zugeschnitten erscheinen). Diese soziale Gruppe wird im inzwischen ganzdeutsch bezogenen aktuellen und differenzierten 10-Felder-Schichtmodell des Heidelberger SINUS-Instituts[6] als vor allem traditionsverwurzelte Bürger/innen in Keine-Experimente-Milieus sowohl in Bereichen der unteren Mittelschicht als auch der Unterschicht angesiedelt. Ihr Kurzprofil: vorwiegend (wenngleich nicht ausschließlich) ältere Menschen mit Orientierungen auf law-and-order oder Sicherheit und Ordnung, geprägt von kleinbürgerlicher Lebensweise und/oder traditioneller Arbeiterkultur, bescheiden und sparsam, bodenständig und anpassungsbereit und mit dem zunehmenden Gefühl, gesellschaftlich ausgegrenzt zu sein und prekarisiert zu werden.

Die in diesen Stichworten beschriebene soziale Gruppe macht derzeit etwa 13 Prozent der Bevölkerung der Neu-BRD aus. Und sie stellt das in Nahles´ Rede auf dem SPD-Parteitag besonders angesprochene politische (Nicht-) Wählerpotential dar.

[1] http://www.scharf-links.de/55.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=62663&tx_ttnews[backPid]=20&cHash=6d1e1dbcf3

[2] Kritische Buchbesprechung von Wilma Ruth Albrecht zu Freiheit statt Kapitalismus (2011) in: soziologie heute 19/2011, Mai 2011; Netzfassung https://soziologieheute.wordpress.com/2011/05/28/sahra-wagenknecht/

[3] https://www.zdf.de/nachrichten/heute-sendungen/nahles-rede-komplett-100.html ("Nahles wirbt leidenschaftlich für GroKo")

[4] Als Beispielanalyse sozialdemokratischer Rhetorik s. Richard Albrecht, Der Rhetor Carlo Mierendorff; in: Diskussion Deutsch, 18 (1987) 96: 331-350.

[5] Mentalität kann im Unterschied zur Ideologie als vorbewußt-unmittelbare psychische Antwort auf soziale Lage/n verstanden werden.

[6] https://www.sinus-institut.de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland/ sowie SINUS-Auskunft mit weiteren Materialien (e-Post, 24. 1. 2018).

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Kommentar vom Autor für diese Ausgabe. Dr. Richard Albrecht ist Sozialwissenschaftler mit Arbeitsschwerpunkten Kultur, Bildung, Cineastik. Freier Autor & Wissenschaftsjournalist in Bad Münstereifel. Fördermitglied der Humanistischen Freidenker & Kolumnist des Fachmagazins soziologie heute.
BioBibiliographie (2015) https://ricalb.files.wordpress.com/2015/12/cv.pdf

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