Texte vom "Vietnam-Kongress" in Westberlin 1968


Hans-Jürgen Krahl
Kongress-Rede

02/2018

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onlinezeitung

Genossinnen und Genossen!

Dieser Kongreß wird keine bloße Deklamation bleiben. Noch heute Nacht werden sich die Vertreter der inter­nationalen Gruppen zusammensetzen, um die praktischen Konsequenzen zu ziehen, vor allen Dingen in bezug auf die eine Kampagne, die aus diesem Kongreß organisiert hervorgehen soll: Die Kampagne „Zerschlagt die NATO".

Ich möchte noch einmal kurz auf den politischen Ge­halt dieser Kampagne im Zusammenhang mit der revo­lutionären Befreiungsbewegung in der 3. Welt eingehend Die letzte Information, die wir bekommen haben von der großartigen Offensivaktion des Vietcong in Saigon beweist, daß der Vietcong fähig ist, den Imperialismus in Vietnam zu besiegen. In der Offensive hat seine Strategie und Taktik die Unangemessenheit der fortgeschrittenen militärischen Technologie der USA in diesem Kampf ge­zeigt. Angemessen ist diese gewaltige Vernichtungsma­schine nur im zynischsten Sinn einer Eskalation der tota­len Vernichtung. Das neue Stadium der vietnamesischen Revolution definiert sich durch diese Gefahr. Es könnte die Antwort des US-Imperialismus auf den bisher erfolg­reichsten Kampf der südvietnamesischen Revolution in der Ausrottung des vietnamesischen Volkes bestehen. Der erfolgreiche Widerstand des vietnamesischen Volkes gegen die gigantische technologische Gewaltmaschine der USA, das sozialistische Modell Kuba und die revolutio­nären Kämpfe der Guerilleros in Lateinamerika haben eine neue Tatsache geschaffen, und zwar die qualitativ neue weltgeschichtliche Aktualität der Revolution. Zum erstenmal in der Geschichte des Kapitalismus ist die Revolution eine global gegenwärtige und anschauliche Möglichkeit, die sich als bewaffneter Kampf - freilich nur an der Peripherie der spätkapitalistischen Zivilisa­tion - den unterdrückten und verelendeten Ländern der 3. Welt verwirklicht. Damit stellt sich für uns die kon­krete organisatorische Frage: Gibt es über die von Marcuse allein für möglich gehaltene Solidarität der Ver­nunft und des Sentiments hinaus eine konkretere Basis für die Solidarisierung der Protestbewegungen in den Metropolen mit den Befreiungsbewegungen in der 3. Welt? Wie vermittelt sich die reale weltgeschichtliche Aktualität der Revolution zu unseren Tagesaktionen der Protestbewegungen in den Metropolen?

Diese konkrete Vermittlungsbasis kann aufgezeigt werden am Modell der Anti-NATO-Kampagne. An ihr kann unser Fortschritt vom Protest zum politischen Widerstand demonstriert werden, an ihr kann die Ver­strickung der westeuropäischen Länder in die - wie Che Guevara sie nannte - Internationale des Verbrechens konkretisiert werden. Die europäischen NATO-Länder nehmen gegenwärtig eine vor allem ökonomische Ent­lastungsfunktion für den US-Imperialismus wahr. Der festverankertste Stützpunkt der USA in Westeuropa, das stärkste Glied in der NATO-Kette - die Bundesrepublik - liefert ein eindringliches Beispiel. Erst kürzlich er­neuerte der Vorsitzende des brutal als „Vietnam-Hilfe" bezeichneten Unterausschusses im Bundestag, Erik Blumenfeld, die volle Unterstützungszusage der Bundes­regierung für Südvietnam im Jahr 1968 und darüber hinaus mit der Begründung: Die südvietnamesische Re­gierung habe militärische Erfolge aufzuweisen, es sei ihr ebenso gelungen, die demokratischen Verhältnisse in Viet­nam zu stabilisieren. Die ökonomische und militärische Entlastungsfunktion wird betrieben durch das projekt­gebundene Wirtschaftshilfeprogramm für die faschistische Regierung Griechenlands und die Lieferung leichter Waffen, die einem Bürgerkrieg zur Niederschlagung einer Widerstandsbewegung' dort genau angemessen sind. Das Zögern der Bundesregierung, auf Grund ihrer Budget­schwierigkeiten den vollen Devisenausgleich für die in der Bundesrepublik stationierten amerikanischen Truppen zu leisten, deutet allerdings auf einen ökonomischen Widerspruch zwischen dem US-Imperialismus und den spätkapitalistischen Ländern Europas. Die nach dem 2. Weltkrieg entfaltete und durch die NATO staatlich garantierte Monopolstellung des US-Käpitals in der Pro­duktion für die Vernichtung tritt in einen immer stärke­ren Gegensatz zum europäischen Kapital. Darin liegt der Grund für die seit längerem sichtbare Krise der NATO, die in einem spezifischen Sinn im Bündnissystem des US-Imperialismus umfunktioniert werden soll. Diente sie einmal dem Kampf gegen die sozialistischen Länder, so hat heute der traditionelle AntiTKommunismus jede scheinbare Evidenz verloren.

Die NATO soll umfunktioniert werden in den Kampf gegen die Sozialrevolutionären Bewegungen der 3. Welt. Die europäischen NATO-Länder sollen die Funktion einer jederzeit einsetzbaren militärischen Reservearmee zur blutigen Zerschlagung des Sozialrevolutionären Be- , freiungskampfes erfüllen. Doch auf dem Boden dieses aufgezeigten ökonomischen Interessengegensatzes könnte die aktive konterrevolutionäre Funktion der europäi­schen Länder nur ihre gegenwärtige Stagnationskrise im kapitalistischen Verwertungsprozeß stabilisieren. Und so zeigt es sich: Wenn es dem US-Imperialismus gelingen sollte, die ökonomischen Widersprüche zwischen den kapitalistischen Ländern in seinem Interesse zu lösen, dann würde im Innern der Metropolen in der Tat eine zweite Front physischen Gewaltterrors entstehen, wie sie schon jetzt in den USA sich herausbildet und wie es sich in dem Versuch der westdeutschen und Westberliner Staatsgewalt, die außerparlamentarische Opposition zum kriminellen Delikt zu erklären, sowie mit der unverhüll­ten Drohung der Zwangsgewalt Berlins, die politische Demonstration gegen die Mordmaschinerie der USA, die die physische Vernichtung betreiben, anzeigt. Diese inner­kapitalistische Widerspruchsebene bezeichnet die konkrete politische Solidarisierungsbasis, die konkretisiert, was Che Guevara feststellte: Sogar die Länder des alten Europa warten noch auf die Aufgabe der Befreiung. Sie sind zwar genügend entwickelt, um alle Widersprüche des Kapitalismus fühlen zu können, aber so schwach, daß sie nicht mehr dem Kurs des Imperialismus folgen oder diesen Weg anfangen können. Der Kampf für die Zer­schlagung der NATO enthält also einen gleichzeitigen Kampf: den Versuch ihrer innerkapitalistischen Auf­lösung zu vereiteln, d. h. den Kampf gegen das nationa­listische und faschistische Programm des Gaullismus, eine autonome eigene Produktion für die Vernichtung heraus­zugeben. Die Kampagne „Zerschlagt die NATO" enthält also, abstrakt gesehen, zwei politische Zielsetzungen: die innerkapitalistischen Widersprüche zu einer qualitativen Verbreiterung der Massenbasis, zur Bildung einer zweiten Front gegen den Imperialismus in den Metropolen auszu­bilden; zweitens den Versuch einer praktischen inter­nationalen Koordination der sozialistischen Protest­bewegungen Westeuropas durch die gemeinsame Aktion zu erreichen. Das zweite Element konkreter Solidarisie­rung scheint mir die neue Qualität des politischen Kamp­fes zu sein, die von der revolutionären Politik der Be­freiungsbewegung in der 3. Welt vorgestellt wird. Die schon erwähnte abstrakte Gegenwart der Revolution in der 3. Welt liefert der Protestbewegung in den Metro­polen ein neues weltgeschichtliches Bezugssystem, an dem sie die Möglichkeit der Organisation einer eigenen revo­lutionären Politik orientieren kann. Zwar kann sich in den Metropolen der Kampf nicht als eine unkritische Übertragung der Guerillastrategie darstellen. Diese liefert aber ein Modell kompromißlosen Kampfes, von dem die traditionelle Politik der verfestigten Institutionen ver­urteilt werden kann, von dem auf jeden Fall die faulen Kompromisse der sowjetischen Politik, die überall die re­volutionären Befreiungsbewegungen im Stich läßt, ver­urteilt werden können.

Die Orientierung an der Gegenwart der Revolution in der 3. Welt bietet aber für uns die Möglichkeit, eine politische Moral der Kompromißlosigkeit herauszubilden, die einen Ansatz zur Bildung selbsttätiger Organisations­formen der Bevölkerung sein kann. Sie ist die Grundlage, um einen der gegenwärtigen Machtstruktur des Staates geschichtlich angemessenen Organisationstypus herauszu­bilden, der auf der Grundlage autonomer Initiativgrup­pen in den Hochschulen und Betrieben beruht/So wie das imperialistische System die Verbreiterung der Sozialrevolutionären Befreiungsbewegungen - also zwei, drei, viele Vietnam - nicht ertragen könnte, so kann es im Innern der Metropolen die organisierte Selbsttätigkeit des poli­tischen Widerstandes auf die Dauer nicht aushalten. An ihr müßten die Organisationsformen der Herrscher mit ihrer Tendenz zum totalen Institutionswesen, mit ihrer Tendenz, sich zum neuen Faschismus zu entwickeln, sich zerschlagen. Denn der kapitalistische Verwertungs­prozeß beruht wie eh und je darauf, die freiheitliche Ver­einigung der Individuen in der Produktion zu verhin­dern. Diese Verhinderung wird heute realisiert durch ein gigantisches Instrumentarium autoritärer Regierungs­kunst bis hin zur schlagfertigen faschistischen Zwangs­gewalt. Ein gewaltiges System der Manipulation ver­sucht, die Bedürfnisse der Individuen zu entstellen. Und ich glaube, daß wir so gegen unsere linksliberalen Kriti­ker von Augstein über die ZEIT-Redakteure feststellen müssen, wir sind keine revolutionären Schwärmer. Die objektiven Verhältnisse haben die Aufgabe der revolutio­nären Befreiung in den Metropolen längst auf die Tages­ordnung gestellt. Konkrete Organisationsbedingungen, zumal zur praktischen internationalen Zusammenarbeit, lassen sich nicht abstrakt voraussagen. Es ist aber anzu­nehmen, daß sich informelle Kader und Aktionszellen bilden werden, wenn es gelingt, für die Aktionen eine gemeinsame politische Zielsetzung im gesamten West­europa zu finden. Und so möchte ich abschließend noch einmal zusammenfassen: Die Stufen vom Protest zum politischen Widerstand können sich nur realisieren, wenn wir im Anschluß an diesen Kongreß in gemeinsamer Ak­tion und Zusammenarbeit mit den westeuropäischen Or­ganisationen den Versuch machen, eine große, gemein­same Kampagne zur Wehrkraftzersetzung der NATO-Armeen in Westeuropa zu organisieren. Wenn wir versuchen, die organisatorischen Bedingungen zu schaffen, daß wir den Kampf gegen die NATO-Stützpunkte und Niederlassungen in ganz Westeuropa aufnehmen können, wenn wir Maßnahmen treffen können gegen den Trans­port amerikanischen Kriegsmaterials für den Krieg in Vietnam und wenn wir schließlich Aktionen führen wer­den gegen die Niederlassungen der amerikanischen Rü­stungsindustrie in Westeuropa. Es kommt darauf an, in solidarischer Aktion und in konkreter Solidarität mit der revolutionären Befreiungsbewegung in der 3. Welt den gigantischen militärischen und staatlichen Machtapparat in den spätkapitalistischen Ländern zu zerschlagen.

Editorische Hinweise

Internationaler Vietnam-Kongreß 17.18.Februar 1968 Westberlin, Dokumentation, herausgegeben vom SDS Westberlin und dem Internationalen Nachrichten und Forschungs-Institut (INFI) - Redaktion Sybille Plogstedt, Westberlin 1968, S.141-146

Ursprünglich eingeladen unter der Bezeichnung Vietnam-Konferenz, wurde dieses Meeting fortan an als "Kongress" bezeichnet.