Seit den Demonstrationen gegen die Ben
Ali-Diktatur in Tunesien gerät die ganze nordafrikanische
und westasiatische Region in Bewegung. Als sei ein bis dahin
unüberwindlicher Staudamm aus Angst und Lethargie mit einem
Mal gebrochen, erheben sich die Menschen von einem Land zum
andern gegen ihre Diktatoren. Hunderttausende strömen auf
die Straßen und Plätze und trotzen der Brutalität der
Herrschenden und ihrer Schläger trotz hunderten von Toten
und tausenden von Verletzten. Ihr Aufbruch folgt keinem Plan
und braucht keinen Führung, die Menschen organisieren sich
selbst in einer vielstimmigen Bewegung, in der
unterschiedliche Ziele und Mittel wie von selbst in einem
zusammenkommen: dem Willen, jetzt sofort und gemeinsam
Schluss zu machen mit Jahrzehnten der Unterdrückung, der
Erniedrigung und der Lüge, Schluss zu machen auch mit einer
zuletzt immer schamloser betrieben Ausplünderung.
Wie ungezählte andere überall auf der Welt mussten auch wir
mit Empörung und hilfloser Wut zusehen, als am Mittwoch in
Kairo tausende Menschen von Mubaraks Bluthunden angegriffen
wurden, weil sie sich am Tag zuvor ihr altes Recht
zurückgenommen hatten, sich frei auf Straßen und Plätzen zu
versammeln. Doch egal, was die kommenden Tage bringen
werden: die Rückeroberung des Tahrir-Platzes hat die
Verhältnisse Ägyptens verändert – und nicht nur die
Ägyptens. Die Angst und die Lüge sind gebrochen, die
Menschen stehen auf, machen Geschichte, bringen die Welt
wieder in Bewegung. Sie machen ihre Gesellschaft wieder zum
Ort ihrer freien Versammlung und brechen den Status quo. Das
ist es, was überall auf der Welt verstanden, was überall im
Gedächtnis bleiben und was wenn nicht morgen, dann
übermorgen überall auf der Welt wiederholt und erneuert
werden wird. Heute schon sind Tunesien und Ägypten zu
anderen Ländern geworden, dasselbe gilt für den Jemen, bald
auch für Jordanien und Algerien. Es gilt auch und nicht
zuletzt für die Menschen in Israel und Palästina.
Als Selbstbehauptung der Würde und der Freiheit eines und
einer jeden ist die Revolte zugleich die direkte, gemeinsame
und unmissverständliche Antwort der Menschen auf die
fortlaufende Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen, auf
die fast täglich steigenden Preise für die nächsten Mittel
des Überlebens wie auf den lebenslangen Vorenthalt von
Arbeits- und Lebensperspektiven. Das werden schon bald all’
diejenigen zu spüren bekommen, die jetzt versuchen, sich an
die Spitze des Zuges zu setzen, um am Katzentisch der
Herrschaft Platz zu nehmen. Zu spüren bekommen werden dies
aber auch die Regierungen der kapitalistischen Zentren, die
sich seit Tagen in der heuchlerischen Bekundung ihrer „Sorge
um die Stabilität der Region“ überbieten. Um die „Stabilität
der Region“ ging es ihnen tatsächlich immer schon, um
ihretwillen haben sie über Jahrzehnte hinweg die Mord- und
Gewaltapparate Ben Alis, Mubaraks und der anderen Autokraten
aufgerüstet, im vollen Wissen um das, was in all’ diesen
Jahren in den Folterkellern ihrer Verbündeten geschah und
weiter geschieht. Auch das wird in diesen Tagen weltweit
verstanden und wird von jetzt an bei jeder passenden
Gelegenheit zu erinnern sein: Gewalt und Lüge sind in Tunis
und Kairo nicht weniger zuhause als in Berlin, Paris,
London, Brüssel, in Washington, Moskau und Peking.
Müssen wir darauf hinweisen, dass die Lehre des
Tahrir-Platzes auch eine ganz praktische Lehre ist, dass sie
uns allen überall auf der Welt zeigt, wie schnell die
Schleier der Desinformation und Konfusion zerrissen werden
können, die von Kapital, Staat und Medien jeden Tag aufs
Neue gewoben werden? Haben uns vor Monaten schon die
Aufständischen in Teheran eindrucksvoll gezeigt, wie
nützlich Internet und Handys sein können, so haben uns die
Aufständischen Kairos daran erinnert, dass es zur Not auch
ohne beides geht. Wir haben verstanden.
Mit Millionen anderen überall auf der Welt solidarisieren
wir uns mit den Aufständischen Nordafrikas und Westasiens.
Wir weisen die erbärmlichen Versuche zurück, unsere
Solidarität durch verdeckt oder offen ausgespielte
antimuslimische Rassismen in Frage zu stellen. Wir
versprechen, uns den Mut der Demonstrant_innen in Tunis,
Kairo, Amman und Sanaa zum Beispiel zu nehmen: Wir wissen,
wie viel zu lernen, wie viel noch zu tun bleibt.
Tahrir-Plätze finden sich überall.
05.02.2011
Interventionistische Linke (iL)
Editorische
Anmerkungen
Wir spiegelten von
Indymedia, wo der Text am 5.2.2011 erschien