Einleitung
Es ist allgemein bekannt,
welch ungeheure Rolle die Erkenntnis im Leben des Menschen und
im Leben der Gesellschaft spielt. Um zu existieren und ihr Leben
zu verbessern, müssen die Menschen sich die Natur Untertan
machen und sie umgestalten. Das ist aber ohne Erkenntnis der
Umwelt nicht möglich. Die Bedeutung der Erkenntnis für das
Leben des Menschen fällt bei einem Vergleich des Menschen mit
dem Tier besonders ins Auge.
Das Tier kann nur existieren,
sofern es in der umgebenden Natur Existenzmittel findet. Es
nimmt sie in fertigem Zustand: Pflanzen, Beeren, zur Nahrung
geeignete andere Tiere. Das Tier ist jedoch außerstande, die
Umwelt entsprechend seinen Bedürfnissen umzugestalten, sie zu
verändern. Um die Natur umzugestalten und sie den eigenen
Bedürfnissen anzupassen, sind die natürlichen Organe der Tiere
unzureichend. Mit Pfoten, Klauen und Zähnen können sie
vorhandene Existenzmittel verwenden, nicht aber neue
Lebensgüter schaffen. Dazu werden künstliche Werkzeuge benötigt.
Jedoch ist kein Tier imstande, ein künstliches Werkzeug
herzustellen, auch nicht das einfachste. Sogar ein
hochentwickeltes Tier wie der Affe benutzt bestenfalls einen
Stock, um Früchte vom Baum herunterzuschlagen. Doch auch diesen
Stock stellt der Affe nicht her, sondern findet ihn fertig vor.
Der Mensch beschränkt sich bei der Beschaffung von
Existenzmitteln nicht auf seine natürlichen Organe, die Hände
und Füße. Er unterscheidet sich vom Tier vor allem dadurch, daß
er künstliche Arbeitswerkzeuge schafft.
Einfache Arbeitswerkzeuge sind der Hammer, das Beil, der
hölzerne Pflug, komplizierter sind der eiserne Pflug und
Maschinen. Nur mit Hilfe solcher Werkzeuge kann der Mensch die
Natur umgestalten, ihm nützliche Pflanzen züchten, die Kraft des
Windes und des Wassers nutzen, Erze gewinnen.
Die Arbeit, das ist die
Einwirkung auf die Natur mit künstlichen Werkzeugen zur
Erzeugung neuer Existenzmittel, spielt im Leben des Menschen
eine gewaltige Rolle. Ohne Arbeit könnte die menschliche
Gesellschaft nicht bestehen.
Ohne Kenntnisse kommt man in
der Arbeit keinen Schritt vorwärts. Unmöglich ist die
Herstellung selbst des einfachsten Gegenstandes ohne Kenntnis
des Arbeitsprozesses und der Eigenschaften des Materials, aus
dem er angefertigt wird.
Heute weiß jedes Kind, wie man
Feuer macht. In der fernen Vergangenheit aber wußten das die
Menschen nicht und vermochten sich des Feuers nicht zu
bedienen, weshalb sie große Entbehrungen ertrugen und unter der
Kälte litten. Es verging lange Zeit, bis sie lernten, Feuer zu
machen und es zu nutzen. Seit der Mensch das gelernt hatte,
drang er vermöge seiner Arbeit immer tiefer in die Geheimnisse
der Natur ein.
Die Arbeit half ihm, die
Kräfte der Natur zu erkennen. Die Erkenntnis half ihrerseits,
diese Kräfte immer besser und rascher zu meistern, sie sich
dienstbar zu machen, also erfolgreicher zu arbeiten. Wenn die
Erkenntnis eine so große Rolle spielt, ist es naturgemäß sehr
wichtig, zu wissen, was Erkenntnis sei, wie der Mensch seine
Umwelt erkenne, wie die Richtigkeit unserer Kenntnisse überprüft
werde. Die richtige Betrachtung und Lösung dieser Fragen ist
für die Erkenntnis der Welt von sehr großer Bedeutung; ihre
unrichtige Lösung beeinträchtigt die Erkenntnis und hemmt sie.
Die richtigen Antworten darauf
gibt nur die marxistische Erkenntnistheorie, deren Hauptsätze
wir in dieser Broschüre darstellen wollen. Die marxistische
Erkenntnistheorie oder Lehre von der Erkenntnis bildet einen
wichtigen Bestandteil der philosophischen Wissenschaft, die als
dialektischer Materialismus bezeichnet wird.
Unter allen Problemen der
Erkenntnistheorie ist die Frage danach, ob die Menschen fähig
seien, die Welt zu erkennen, ob die Welt erkennbar sei, von
besonders großer Bedeutung. Von ihrer richtigen Beantwortung
hängt die Lösung der übrigen Fragen ab. Mit ihr wollen wir daher
beginnen.
1. Vermögen wir unsere
Umwelt richtig zu erkennen?
Jedermann wird, gestützt auf
die eigenen Erfahrungen, ohne Zögern antworten: Ja, wir vermögen
zu erkennen und erkennen auch die uns umgebenden Erscheinungen.
So sonderbar es auch sein mag,
über diese Frage gab es im Verlauf vieler Jahrhunderte unter
den Philosophen erbitterte Streitigkeiten, die noch heute
andauern. Es gibt Philosophen, die der Ansicht sind, die Welt
sei unerkennbar, und wir könnten von den Dingen nichts wissen.
Diese Philosophen nennt man Agnostiker (das Wort
Agnostizismus stammt von den griechischen Wörtern
.
Der Agnostizismus ist eine Form der idealistischen
Philosophie. Jeder Agnostiker ist Idealist. Was aber ist
idealistische Philosophie?
Von jeher, durch viele
Jahrhunderte und sogar Jahrtausende wird in der Philosophie ein
Kampf zwischen den zwei Hauptlagern oder -richtungen
ausgetragen. Diese zutiefst gegensätzlichen Richtungen sind der
Materialismus und der Idealismus.
Die Materialisten und die
Idealisten beantworten die wichtigste, die Hauptfrage der
Philosophie - was in der Welt das Primäre und was das Sekundäre
sei: die Materie, die Natur oder das Bewußtsein, die Ideen - auf
gegensätzliche Art. Ist die Materie, die Natur durch das
Bewußtsein, durch die Ideen hervorgebracht worden, oder hat
umgekehrt die Materie, die Natur das Bewußtsein und die Ideen
erzeugt? Diese Frage ist deshalb grundlegend, weil von ihrer
Beantwortung die Betrachtungsweise aller übrigen Fragen der
Wissenschaft und der praktischen Tätigkeit abhängt. Diese oder
jene Antwort bestimmt die verschiedenen Anschauungen von der
Welt als Ganzes.
Als idealistisch wird eine
Philosophie bezeichnet, die die Idee, den Geist, das Bewußtsein
als das Primäre, das Entscheidende und die Materie, die Natur
als das Sekundäre, von der Idee und dem Bewußtsein Abhängige
ansieht. Ihrem Wesen nach unterscheidet sich die Lehre der
Idealisten nur wenig von der Religion, vom Glauben an Gott. Wie
die Religion lehrt, Gott habe die Erde, die Meere und Ozeane,
die gesamte Pflanzen- und Tierwelt einschließlich des Menschen
geschaffen, so behaupten auch die Idealisten, die Natur sei die
Schöpfung einer geistigen Kraft. Sie setzen nur an die Stelle
Gottes die „Idee", den „Geist". Vom Standpunkt der Idealisten
aus hängt auch das gesellschaftliche Leben der Menschen, die in
der Gesellschaft herrschende Ordnung nur vom Willen, von den
Ideen der Menschen ab. Die Ideen der Menschen seien es, vermöge
deren diese oder Jena Ordnung des gesellschaftlichen Lebens
bestehe. Ob die Menschen in einer kapitalistischen oder einer
sozialistischen Gesellschaft leben, bestimmt sich der Theorie
der Idealisten zufolge ausschließlich nach den Wünschen, den
Ansichten und dem Bewußtsein der Menschen.
Gegen den Idealismus kämpfen
die materialistischen Philosophen. Gestützt auf die
Wissenschaft, auf die wirkliche Lage der Dinge, beweisen sie,
daß die Natur, die Materie das Primäre, das Bewußtsein, die
Ideen aber das Sekundäre, durch die Entwicklung der Materie
Hervorgebrachte sind. Sie werden Materialisten genannt, weil
sie die Materie und nicht die Ideen als das Primäre ansehen. In
voller Übereinstimmung mit der Wissenschaft betrachten sie die
Materie als etwas ewig Bestehendes. Die Materie, die Natur
existierte bereits, als es noch keinen denkenden Menschen, ja,
überhaupt noch kein Lebewesen gab, demnach auch kein Bewußtsein
und keine Ideen geben konnte.
Die marxistische Philosophie ist materialistisch; der Marxismus
vertritt beharrlich diese einzig richtige Weltanschauung.
Der Marxismus erklärt auch das
gesellschaftliche Leben auf materialistische Art und zeigt, daß
in der Entwicklung der Gesellschaft ebenfalls die materiellen
Bedingungen des menschlichen Lebens das Primäre, das
Entscheidende sind. Das Bestehen dieser oder jener
gesellschaftlichen Ordnung hängt nicht vom Willen des Menschen,
sondern von den Bedingungen des materiellen Lebens der
Gesellschaft ab.
Die Frage, was das Primäre und
was das Sekundäre sei, ist nur eine Seite des Problems, das die
Philosophen in das Lager der Materialisten und das Lager der
Idealisten scheidet. Dieses Problem hat noch eine andere Seite,
um die ebenfalls der Kampf zwischen den Materialisten und den
Idealisten geht. Das ist die Frage danach, ob die Welt erkennbar
sei, ob der Mensch vermöge seiner Wahrnehmungen, Vorstellungen
und Begriffe fähig sei, die ihn umgebende Wirklichkeit richtig
zu erkennen.
Für die idealistische
Philosophie ist charakteristisch, daß sie die Erkennbarkeit der
Welt verneint. Zwar gibt es auch Idealisten, die die Fähigkeit
des Menschen, die wirklichen Eigenschaften der Dinge zu
erkennen, nicht verneinen; diese behaupten aber, der Mensch
erkenne nicht die Natur, nicht die Materie, sondern einen
geheimnisvollen, unsichtbaren Geist, der die Natur geschaffen
habe und die Grundlage aller Dinge sei. Wenn man die modernen
Idealisten nimmt, die in den kapitalistischen Ländern
auftreten, so sind sie fast alle Agnostiker, sie predigen
nämlich, es sei unmöglich, die Welt zu erkennen.
Auch in diesem Punkt kämpfen
die Materialisten gegen die idealistische Philosophie und gegen
den Agnostizismus. Das wichtigste Merkmal der materialistischen
Philosophie ist das Anerkenntnis der Tatsache, daß die Menschen
fähig sind, die Welt zu erkennen, und daß sie sie erkennen. Die
gesamten Erfahrungen der Menschheit, die gewaltigen
Fortschritte der Wissenschaft bestätigen die Richtigkeit der
materialistischen Philosophie und widerlegen die Theorien der
Idealisten.
Wenn die idealistische Philosophie noch bis zum heutigen Tag
existiert und ihre hoffnungslose Sache vertritt, so erklärt
sich das hauptsächlich daraus, daß die Ausbeuterklassen
der kapitalistischen Länder an ihr interessiert sind. Der
bürgerliche Staat unterstützt die Idealisten in ihrem Kampf
gegen die einzig wissenschaftliche, die materialistische
Auffassung von der Welt. Das ist durchaus begreiflich. Die
Bourgeoisie bemüht sich, zur Erhaltung ihrer Macht das Volk
unwissend und ungebildet zu halten. Das erreicht sie nicht nur
durch Gewalt, sondern auch durch Religion und Idealismus. Je
schlimmer es um die Bourgeoisie bestellt ist, je entschlossener
die Volksmassen gegen den Kapitalismus auftreten, desto
umfassender werden beide Mittel zur Bekämpfung der Werktätigen
eingesetzt.
Um besser zu begreifen, wie
und mit Hilfe welcher Kniffe die Idealisten und Agnostiker ihre
völlig falsche Theorie zu beweisen versuchen, es sei nicht
möglich, die Welt zu erkennen, wollen wir annehmen, daß zwei
Menschen ein Gespräch führen, von denen der eine die
wissenschaftliche, die materialistische Philosophie vertritt
und der andere den idealistischen Standpunkt, die Welt sei
unerkennbar.
Der Materialist: Sie
behaupten, wir Menschen könnten die uns umgebende Welt nicht
erkennen. Beantworten Sie mir eine einfache Frage. Ich sehe
einen Baum. Gibt es einen Zweifel, daß ich den Baum wirklich
sehe? Wie kann man derart offensichtliche Dinge verneinen?
Der Idealist: So
offensichtlich das auch scheinen mag, sind Sie doch im Irrtum.
Ihnen scheint es nur, Sie hätten es mit einem wirklich
existierenden Baum zu tun. Tatsächlich haben Sie es aber nur mit
Ihren Wahrnehmungen, Ihren Vorstellungen vom Baum zu tun. Der
Mensch kann außer den eigenen Wahrnehmungen und Vorstellungen
von nichts anderem wissen. Und was ist Ihre Vorstellung vom
Baum? Es sind die Wahrnehmung der Blattfarbe, die Wahrnehmung
des Stammumfangs, die Wahrnehmung der Astanordnung usw. In Ihrer
Vorstellung vom Baum ist außer diesen Wahrnehmungen nichts
enthalten.
Der Materialist:
Zugegeben. Doch woher stammen diese Wahrnehmungen des Menschen?
Ist es denn nicht klar, daß ohne einen Baum auch keine
menschliche Vorstellung vom Baum existieren würde? Also ist es
so, daß der unabhängig von mir existierende Baum mir
Wahrnehmungen vermittelt und in mir eine bestimmte Vorstellung
erweckt, und daß diese Vorstellung mich nicht täuscht: Ich sehe
wirklich einen realen Baum.
Der Idealist: Nein, so
ist es nicht. Dem Menschen sind nur seine Wahrnehmungen gegeben;
außer ihnen kann er nichts wissen. Die Frage, ob unsere
Wahrnehmungen den Baum widerspiegeln oder nicht, kann nicht
beantwortet werden.
Der Materialist: Aber
Sie haben meine Frage, wodurch meine Wahrnehmungen und meine
Vorstellung vom Baum hervorgerufen worden seien, nicht
beantwortet.
Der Idealist: Diese
Frage, ich wiederhole es, kann kaum oder, richtiger, gar nicht
beantwortet werden. Möglicherweise gibt es außer unseren
Wahrnehmungen tatsächlich Dinge, beispielsweise Bäume, die
diese Wahrnehmungen hervorrufen. Selbst wenn man das anerkennt,
ändert es nichts an der Sache. Wir können nicht erfahren, was
der Baum in Wirklichkeit sei, weil wir die Grenze unserer
Vorstellung nicht überschreiten können.
Der Materialist: Wenn
wir Ihrem Standpunkt entsprechend von den Dingen selbst nichts
wissen können, welchen Sinn hat es dann, zuzugeben, daß diese
Dinge tatsächlich existieren? Wäre es dann nicht richtiger,
Ihren Standpunkt so aufzufassen^ daß es außer den Wahrnehmungen
des Menschen nichts gebe, daß nur die vom Baum hervorgerufene
Vorstellung existiere und nicht der Baum selbst?
Der Idealist: Ja,
genaugenommen existieren nur meine vom Baum hervorgerufenen
Wahrnehmungen und nicht der Baum an sich ... Aber warum lächeln
Sie?
Der Materialist:
Während ich Ihnen zuhöre, kommt mir in den Sinn, daß Sie im
Gespräch mit mir auch an meiner Existenz zweifeln müssen. Wenn
Ihre Ansicht ehrlich und offen zu Ende geführt wird, müßte jeder
Mensch folgendermaßen denken: Nur ich allein existiere; alles
übrige, die ganze Welt, das sind nur meine Vorstellungen; die
Welt existiert nur insofern, als ich sie
wahrnehme. An etwas Derartiges kann ein normal denkender Mensch
kaum glauben. Daher lächle ich ...
Wir brechen das Gespräch der
erfundenen Partner ab. Wir haben dem idealistischen Agnostiker
keinen einzigen Gedanken untergeschoben, der nicht von
idealistischen Philosophen ausgesprochen worden wäre. Natürlich
wagt nicht jeder Idealist, der diese Theorie vertritt, zu
erklären, daß vom Standpunkt seiner Philosophie nur er allein
existiere, während die ganze Umwelt bloß aus seinen, des
Philosophen, Wahrnehmungen bestehe. Das ist ein zu
offensichtlicher Unsinn, als daß er mit Erfolg verteidigt
werden könnte. Daher greifen die Idealisten zu verschiedenen
Tarnungen, den wahren Sinn ihrer Theorie zu verdecken. Zu
welchen Kniffen sie jedoch Zuflucht nehmen mögen, der Sinn ihrer
Ansichten bleibt der gleiche: Sie ersetzen die Natur, die
gesamte uns umgebende Welt durch menschliche Wahrnehmungen und
"Vorstellungen.
Es muß betont werden, daß die
angeführten Gedankengänge der Idealisten und Agnostiker über die
Unerkennbarkeit der Dinge in der modernen bürgerlichen
Philosophie vorherrschen. In den kapitalistischen Ländern
verbreiten Hunderte von Büchern und Aufsätzen diese Lüge. Häufig
ist es so, daß selbst bedeutende Gelehrte des Auslandes, die
sich um die Wissenschaft verdient gemacht haben, auf den Köder
der Idealisten hereinfallen und vom richtigen Weg abweichen.
Indessen ist die idealistische
Lehre der Agnostiker von Anfang bis Ende völlig falsch.
Bestünden die Behauptungen der Agnostiker zu Recht, so wäre die
Existenz des Menschen ein unerklärliches Wunder. Wenn die Natur
tatsächlich ein Geheimnis mit sieben Siegeln wäre, wie könnte
sie der Mensch seinen Bedürfnissen unterordnen? Wie könnte er
Brot backen und Maschinen herstellen, Häuser bauen und sich
gegen Krankheiten schützen?
Der Mensch bearbeitet den
Boden, er pflügt, düngt und sät. Wenn sich die ersten Triebe
zeigen, pflegt er sie, achtet darauf, daß sie genügend
Feuchtigkeit erhalten, und entfernt das Unkraut. Er weiß, daß
das Ergebnis seiner Arbeit die Ernte sein wird. Warum ist der
Mensch so sicher, daß diese ganze Arbeit ein günstiges Ergebnis
zeitigen wird? Die Antwort ist klar: Weil er das Wesen der
Pflanzen und ihre Bedürfnisse erkannt hat. Die tausend- oder
zehntausendfach wiederholte Erfahrung bestätigt sein Wissen,
verbessert und vervollkommnet es, und dieses Wissen hilft ihm,
die Naturkräfte in seinem Interesse auszunutzen. Ohne Wissen,
und sei es vorerst unvollständig, über die Eigenschaften des
Bodens, des Samens und die pflanzlichen Wachstumsbedingungen
könnte der Mensch kein Brot erzeugen.
Der Mensch will dem Metall
eine bestimmte Form verleihen. Vollständig sicher geht er an die
Sache heran. Er erhitzt das Metall auf eine bestimmte, ihm im
voraus bekannte Temperatur. Das Metall schmilzt, jetzt kann er
es in jede Form gießen. Was ist es, was dem Menschen auch in
diesem Fall ermöglicht, so sicher zü handeln? Wiederum die
Tatsache, daß er die wirklichen Eigenschaften des Metalls
erkannt hat, daß er die Temperatur kennt, bei der es schmilzt.
Es ist noch nicht lange her,
daß immer wieder Tausende von Menschen durch Epidemien
dahingerafft wurden. So war zum Beispiel die Diphtherie eine
schwere und gefährliche Kinderkrankheit, der gegenüber die
Medizin früher fast ohnmächtig war. Gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts wurde der Erreger dieser Krankheit, der
Diphtheriebazillus, entdeckt. Bald wurden zuverlässige Mittel
zur Bekämpfung der Krankheit gefunden, die Serumbehandlung und
die Schutzimpfung. Jetzt ist die Diphtherie für die Kinder nicht
mehr so gefährlich.
Was besagen die angeführten
Beispiele? Sie besagen, daß die Natur durchaus erkennbar ist.
Diese Schlußfolgerung bestätigt sich nicht nur aus den
Erfahrungen der menschlichen Gesellschaft, sondern auch aus
Beobachtungen des Tierlebens.
I. P. Pawlow hat die Lehre von
der höheren Nerventätigkeit entwickelt und bewiesen, daß die
Tiere nur existieren können, weil sie imstande sind, auf diese
oder jene Änderung der sie umgebenden komplizierten Bedingungen
richtig zu reagieren (anders gesagt, die
Bedingungen der Umwelt richtig widerzuspiegeln).
Natürlich darf diese tierische
Reaktion auf die Wirklichkeit nicht mit der menschlichen
Erkenntnis verwechselt werden. Von den Erfahrungen seiner Arbeit
her erklärt der Mensch die Naturerscheinungen, entdeckt er die
Naturgesetze, stellt er wissenschaftliche Theorien auf. Dazu
ist kein Tier fähig. Das Leben des Tieres wäre jedoch unmöglich,
wenn es nicht auf diese oder jene Eigenschaften der Dinge und
des Milieus, in dem es sich befindet, richtig reagierte.
Wahrhaftig, könnte denn ein Tier existieren, wenn es, statt sich
vor dem Feuer zu fürchten, sich ins Feuer stürzen wollte? Oder
würde das Tier nicht verhungern, wenn es nicht die Fähigkeit
besäße, Nahrung zu suchen und zu finden? Wäre schließlich das
Leben des Tieres möglich, wenn es nicht die Fertigkeit erlangt
hätte, an einer Reihe von Merkmalen die Annäherung seiner Feinde
zu erkennen?
Und doch werden die Tiere ohne
viele derartige Fertigkeiten geboren, die ihnen gestatten, sich
den schwierigen Lebensbedingungen anzupassen. Natürlich
brauchen die Tiere beispielsweise nicht zu lernen, wie sie
Nahrung zu sich nehmen; diese Fähigkeit ist ihnen von Geburt an
eigen. Doch mit den angeborenen Fertigkeiten allein, die von
Generation zu Generation vererbt werden, wären die Tiere nicht
imstande, ihr Leben zu erhalten, weil die Verhältnisse, in die
sie nach ihrer Geburt geraten, verwickelt und schwierig sind.
Hinzu kommt, daß diese Verhältnisse unbeständig sind, sich
ändern, und zwar zuweilen sehr plötzlich. Auf solche
Veränderungen müssen die Tiere richtig reagieren, andernfalls
wären sie nicht imstande, sich der Umwelt anzupassen. Bei den
höheren Tieren vollziehen sich diese Reaktionen auf dem Wege
über ihr Gehim, in dem sich die Vorgänge der Umwelt, der
Wirklichkeit, richtig widerspiegeln. Das allein setzt sie
instand, sich zweckmäßig zu verhalten.
Was ist da die lächerliche
Theorie der Idealisten wert, die behauptet, der Mensch könne
außer seinen eigenen Vorstellungen und Empfindungen nichts
wissen?
Die Welt ist erkennbar -
das ist die einzig richtige Schlußfolgerung, die sich aus den
gesamten Erfahrungen der Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft, aus den großartigen Errungenschaften der
Wissenschaft und Technik ergibt.
Die Negierung der
Erkennbarkeit der Umwelt durch die auf dem Boden des Idealismus
stehenden Agnostiker deckt sich mit der religiösen Lehre von der
Ohnmacht des menschlichen Verstandes. Vom Standpunkt der
Religion aus weiß und kann Gott allein alles, der Mensch aber
soll blind an Gott glauben und sich mit seinem Schicksal
abfinden. Die Religion verlangt vom Menschen, daß er sich vor
der „Allmacht" Gottes beuge und sich als klägliches, nichtiges
Wesen betrachte, das unfähig sei, das Wesen der Dinge zu
erkennen.
Die ungeheure Schädlichkeit
der Lehre der Idealisten von der Nichterkennbarkeit der Welt
besteht gerade darin, daß sie den menschlichen Verstand und die
Praxis entwertet, den Menschen hilflos den Kräften der Natur
gegenüberstellt. Diese Lehre wiederholt in Wirklichkeit die
religiöse Propaganda, der Mensch müsse sich vorgeblich
unerkennbaren und geheimnisvollen Kräften in Natur und
Gesellschaft beugen und sich in seiner Tätigkeit von dem
Grundsatz leiten lassen: „Möge alles gehen, wie es geht." Eine
derartige Richtschnur ist jedoch nur für die Ausbeuter von
Vorteil und nicht für die Werktätigen.
Im Gegensatz zu Idealismus und
Religion haben die Wissenschaft und das praktische Leben des
Menschen bewiesen, daß Gott und jegliche unerkennbare Kraft eine
Fiktion, daß nur der Verstand und die Arbeit des Menschen im
wahren Sinne des Wortes allmächtig sind.
Somit sind wir zu der
Schlußfolgerung gelangt: Der Mensch ist mit Hilfe seiner
Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffe auf der Basis der
Arbeit und der praktischen Tätigkeit fähig, die Wirklichkeit zu
erkennen, und er erkennt sie auch.
Es erhebt sich nun die Frage:
Wie und wodurch entstehen unsere Wahrnehmungen und unsere
Vorstellungen; was ist Erkenntnis?
Editorische
Hinweise
M. Rosental:
Was ist marxistische Erkenntnistheorie?, Berlin 1956,
S. 3-13
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