Sprachanalytische
Anmerkungen zum Antisemitismus-Streit innerhalb der LINKEN,
der anlässlich des Gedenkens an den 70. Jahrestag der
antijüdischen Reichspogromnacht vom 9. November 1938
ausgebrochen ist.
In der neuesten Ausgabe der Zeitschrift analyse & kritik (Nr.
534 vom 18. 12. 2008) findet sich ein Interview, das der
außenpolitische Sprecher der Fraktion der LINKEN im Deutschen
Bundestag Norman Paech der Zeitschrift gewährte und das mit
folgendem Vorspann eingeleitet wird: „Anfang November beschloss
der Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen die Resolution
‚Den Kampf gegen Antisemitismus stärken, jüdisches Leben in
Deutschland weiter fördern’. Elf Abgeordnete der Linksfraktion
nahmen nicht an der Abstimmung teil, unter ihnen Norman Paech,
der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion. Mit Norman
Paech sprach Susann Witt-Stahl über die
Antisemitismus-Resolution, den politischen Realitätsverlust in
den Nahost-Debatten und die Fortsetzung des Kalten Krieges mit
anderen Mitteln.“
Um der momentan sich immer weiter ausbreitenden
Diskursverfilzung bezüglich vorliegender Thematik Einhalt zu
gebieten, die doch immer nur auf neue Begriffsaustrocknungen
hinausläuft, soll mit folgenden Anmerkungen für den Vorschlag
geworben werden, die im Zuge des Diskurses benutzten
Politiksprachen einer Analyse zu unterzuziehen, mit anderen
Worten, nicht der Diskurs, der längst verfilzt und daher zur
Bewegungslosigkeit verurteilt ist, interessiert, sondern die in
diesem Diskurs zum Einsatz kommenden Instrumente: die Sprachen.
Erst wenn Gleichartigkeit der Sprachen vorliegt, kann es wieder
zu einem Diskurs kommen.
Beginnt man beispielsweise damit, mit einfachsten Mitteln der
quantitativen Linguistik die von Norman Paech verwendete
Diskurssprache zu untersuchen, stößt man auf eine ganze Reihe
von aufschlussreichen Relationen, die zumindest eines freilegen:
des Verfassers Diskursinteresse. Denn noch immer gilt: Der
Wunsch ist der Vater des Gedankens.
Vergleicht man in vorliegendem Text die Frequenz von Wörtern wie
„Antisemitismus“ bzw. „antisemitisch“, die von Wörtern wie
„Israel“ bzw. „israelisch“, die von Wörtern wie „Palästina“ bzw.
„palästinensisch“ und die von Wörtern wie „Juden“ bzw.
„jüdisch“, so kommt man zu folgenden ersten Resultaten der
quantitativen Linguistik:
Der Verfasser des vorliegenden Textes benutzt 19-mal das Wort
„Antisemitismus“ bzw. „antisemitisch“, 10-mal das Wort „Israel“
bzw. „israelisch“, 8-mal das Wort „Palästina“ oder
„palästinensisch“ und 4-mal das Wort „Juden“ bzw. „jüdisch".
Erstes überraschendes Resultat: Das Wort „Juden“ bzw. „jüdisch"
wird am wenigsten benutzt, das Wort „Antisemitismus“ bzw.
„antisemitisch“ am häufigsten, fast fünfmal so häufig wie das
Wort „Juden“ bzw. „jüdisch", obwohl doch jüdische Menschen die
eigentlichen Leidtragenden des Antisemitismus sind.
Beschäftigung mit dem Antisemitismus bei gleichzeitiger
Ausgrenzung seiner Opfer? Dazu noch folgende Auffälligkeit: In
zwei Fällen des viermaligen Auftretens des Wortes „Juden“ bzw.
„jüdisch" taucht es im Zusammenhang mit mittelalterlicher
Geschichte auf, also mit einer Epoche, in der der christliche
Antijudaismus noch nicht in einen rassistischen Antisemitismus
umgewandelt worden war. Auffälligkeit zwei bei Resultat eins:
Ungefähr in der Mitte des Textverlaufes ist die Rede von der
Bevölkerung Israels, aber mit keiner Silbe wird erwähnt, dass
diese Bevölkerung größtenteils aus jüdischen Menschen besteht.
Zweites überraschendes Resultat: Das Wort „Antisemitismus“ bzw.
„antisemitisch“ ist über den ganzen Textkörper verteilt, das
engt sich schon ein wenig bei dem Wort „Israel“ bzw.
„israelisch“ ein, signifikant stärker bei dem Wort „Palästina“
bzw. „palästinensisch“, und bei dem Wort „Juden“ bzw. „jüdisch“
ist eine Häufigkeit zu verzeichnen, die sich nur noch auf eine
Stelle des Textes konzentriert. Drittes überraschendes Resultat:
Da die Häufigkeit des Wortes „Antisemitismus“ bzw.
„antisemitisch“ im Textverlauf so verteilt ist, dass sie in der
Mitte der Verteilungskurve ein Wellental und die des Wortes
„Juden“ bzw. „jüdisch“ so, dass sie in der Mitte einen
Wellenberg ergibt, ist eine negativ korrelierende Beziehung
beider Verteilungskurven festzuhalten. Um aber auf eine
statistische Gesetzmäßigkeit der Art „die Häufigkeit der
Verwendung des Wortes ‚Antisemitismus’ bzw. ‚antisemitisch’
verhält sich umgekehrt proportional zur Häufigkeit der
Verwendung des Wortes ‚Juden’ bzw. ‚jüdisch’ “ zu schließen,
wäre es notwendig, mehrere Texte des Verfassers zu dieser
Thematik zu analysieren. Das könnte eine der nächsten
linguistischen Aufgaben sein. Zunächst müsste indessen eine
vordringlichere Aufgabe angegangen werden: die Aufbrechung von
tieferen Schichten des Paechschen Textkörpers nach Maßgabe der
von ihm favorisierten Rangordnung der hier zur Diskussion
stehenden Wörter. Und selbstverständlich gilt: Nach Ausschöpfung
aller relevanten Verfahren wäre dann von der rein quantitativen
zur qualitativen Linguistik überzugehen, konkret, zur
Politolinguistik.
Und hier träten dann solche Auffassungen von Norman Paech, wie
die beispielsweise in der Mitte des Textes vorgetragene, „dass
(angeblich) die europäischen Staaten versucht haben, ihr
territoriales Problem mit einem jüdischen Staat in spe zu
entsorgen, indem sie es auf arabisches Gebiet verlagerten“, ins
Zentrum der Sprachkritik. Nicht nur, dass der Verfasser mit
dieser Auffassung die Signatarstaaten des Potsdamer Abkommens –
die UdSSR, die USA, das Vereinigte Königreich und die
Französische Republik – , die die Gründung des Staates Israel in
der UNO durchsetzten, nachträglich offen angreift und damit auch
den Sieg über Hitlerdeutschland desavouiert, diese Auffassung
stellt auch eine Entgleisung gegenüber den Opfern des Faschismus
dar, denn er erklärt mit dieser Auffassung die Überlebenden des
faschistischen Völkermords, die Juden, zu einer Konkursmasse der
Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, eine Entgleisung nicht
zuletzt auch gegenüber den Tausenden von Juden, die in den
Armeen der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition, in den
Partisanenverbänden und Widerstandsgruppen Europas mit der Waffe
in der Hand gemeinsam mit nichtjüdischen Kameraden und Genossen
gegen den Hitlerfaschismus gekämpft haben, und, nebenbei gesagt,
das Wort „entsorgen“, das er hier völlig gedankenlos übernimmt,
ist nach Analyse des Sprachwissenschaftlers und Überlebenden des
Holocaust Victor Klemperer ein typisches LTI-Wort, ein Wort der
Sprache des Dritten Reiches. Mit dieser Auffassung fällt Norman
Paech weit hinter Positionen zurück, die die Antifaschisten und
Sozialisten in beiden deutschen Staaten Ende der 40er Jahre des
letzten Jahrhunderts hinsichtlich ihrer Haltung zum Staat Israel
entwickelt haben. Mit dieser Auffassung fällt Norman Paech weit
hinter die Erklärung des DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow vom
8. Februar 1990 zurück, der zufolge die Solidarität mit „jenem
Staat, der zur rettenden Heimstatt für die Überlebenden der
Shoah geworden war“, zur Staatsräson der DDR erhoben wurde.
Bezeichnenderweise trägt Norman Paech seine
sozialismusabstinente und jeden Respekt fehlen lassende
Auffassung exakt an der Stelle seines Textes vor, in der das
Wort „Juden“ bzw. „jüdisch“ in der bereits erwähnten Häufigkeit
vorkommt, ein methodischer Hinweis darauf, wie sehr im Fortgang
der Analyse seines Textes beide linguistischen Ansätze, der rein
quantitative sowie der qualitative, schließlich zusammengeführt
werden müssen, um die hier zweifellos notwendige Textkritik
sprachwissenschaftlich seriös vorantreiben zu können.
Es geht um nichts weniger als um die Wiederherstellung der
Diskursfähigkeit der Linken in der Frage der Stellung zu den
Juden.
Editorische
Anmerkungen
Den Text
erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung.
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