Verdammter Fanon
Nation, Gewalt und Entfremdung in der postkolonialen Situation 

von Thomas Atzert und Jost Müller

01/02  trend online zeitung

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Frantz Fanon steht gegenwärtig im Mittelpunkt postkolonialer Debatten. Im August 1965 eröffnete das Kursbuch mit dem Eingangskapitel aus dem Buch Les damnés de la terre, »Von der Gewalt«. Ein Schlaglicht auf die Gewaltverhältnisse der Metropolengesellschaft wirft ein Dossier am Ende jenes Hefts: rassistische Leserbriefe aus dem Spiegel, die den Prozess der Dekolonisation kommentieren. Die Verdammten dieser Erde wurde einer der »Klassikertexte« der internationalistischen Solidarität mit den Befreiungskämpfen im Trikont wie der Revolte in den Metropolen. Der Name Fanons aber ist zu einem Menetekel geworden, das jeden riot begleitet wie das Zischeln der Medien über Rassenunruhen. Spätestens seit den achtziger Jahren stand das Verdammungsurteil gegen Fanon außer Zweifel. Hassprediger, geistiger Wegbereiter noch von Pol Pot, lautete es, und viele ehemalige Linke schlossen sich ihm an.

Die postkoloniale Situation heute führt nun zum Tableau: Frantz Fanon, gereinigt von »der Gewalt« und abgelöst von der selbständigen Entwicklung seines Denkens in seinen späteren Schriften, steht als einer der Hauptrepräsentanten einer »afrikanischen Moderne« im Reliquienschrein. Zu besichtigen war das etwa in der gerade im Berliner Martin-Gropius-Bau zu Ende gebrachten Ausstellung »The Short Century - Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen in Afrika 1945 bis 1994«. Eingeebnet sind nicht nur die Differenzen zwischen intellektuellen Positionen im Prozess der Dekolonisation, etwa zwischen Fanon, Léopold Senghor und Kwame N'Krumah, sondern vor allem auch die sozialen Herrschaftsverhältnisse der postkolonialen Gesellschaften. Das Tableau gilt es aufzulösen.

Fanons politisch-soziale Theorie der Dekolonisation kreist um zwei zentrale Begriffe, um den der Nation und den der Gewalt. Beinhaltet Fanons Theorie also nichts weiter als eine der ungezählten nationalistischen Ideologien des Trikont, die im Prozess der Dekolonisation auftauchten, um im postkolonialen Stadium einen bestimmten Machtbereich für die neue Herrschaft abzustecken? Und ist Fanon der irrationale Gewalttheoretiker, als den Hannah Arendt ihn in ihrem Essay »On Violence« von 1970 zu denunzieren versuchte? Beide Fragen zu bejahen, hieße Fanon auf den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu reduzieren. Nation und Gewalt sind dagegen Begriffe, die Fanon im Prozess der Dekolonisation bereits vorfindet.

Nation bedeutet hier zunächst, jede tribalistische Orientierung wie auch die gegenrassistischen Konstruktionen der Négritude und des Panafrikanismus zurückzuweisen. In diesem Sinne ist für Fanon die »nationale Etappe« nicht zu überspringen. Die politische Anerkennung der Souveränität der Kolonisierten nimmt in Fanons Augen unweigerlich die Form der Nation an. Die »nationale Existenz« geht der politischen Form des Nationalstaats jedoch nicht voraus; sie ist vielmehr selbst erst das Resultat eines Befreiungskampfes, in dem sich das Volk konstituiert. Fanon lehnt jede ethnische Definition der Nation ab und knüpft somit an das westliche Konzept der Staatsnation an. Über dieses Konzept hinaus allerdings verschiebt er das Problem der »nationalen Existenz« sogleich auf die Problematik der Konstitution einer neuen Gesellschaft, eines neuen Denkens, ja eines neuen Menschen. Er beruhigt sich nicht bei dem Anspruch auf Nationalität, sondern ist sich wie kaum ein zweiter Theoretiker der nationalen Befreiung im Trikont über die Paradoxie eines nationalen Bewusstseins ohne Nationalismus im Klaren. Mit der politischen Anerkennung muss, so Fanons Perspektive, das nationale Bewusstsein politisch, ökonomisch und sozial erklärt, bereichert und vertieft werden, um sich in ein internationales Bewusstsein, in einen reellen Humanismus zu verwandeln. Es sei, wie es an einer Stelle heißt, ein »von bewussten und souveränen Menschen bewohntes Panorama« zu entwerfen.

Lakonisch formuliert Fanon: »Dekolonisation ist immer ein Phänomen der Gewalt.« Doch auch hier bildet die Gewalt, die er in der kolonialen Welt antrifft, lediglich den Ausgangspunkt seiner Reflexion. Keineswegs fasst Fanon Gewalt als eine instinktive menschliche Regung im Sinne konservativer Anthropologie auf, wie Arendt seiner Theorie unterstellt hat. Fanons Analyse gilt vielmehr der konkreten Gewalt innerhalb einer bestimmten Situation. Die koloniale Situation schafft eine Polarisation, in der die systemische Gewalt der Kolonisatoren auf die spontane Gewalt der Kolonisierten trifft. Letztere kann nach Fanon in einen kollektiv organisierten Befreiungskampf transformiert werden, der dieser Gewalt die politische Ziellosigkeit nimmt und die politischen und ökonomischen Strukturen der Kolonialherrschaft aufzubrechen bestrebt ist. Gelingt dies aber nicht, so verharren Kolonisatoren wie Kolonisierte in der Gewalt, die ja gerade die Ausgangssituation charakterisierte. Was Liberale wie Hannah Arendt aufgrund ihres instrumentalistischen Verständnisses von Gewalt nicht verstehen können, ist die Bestimmung jener Form der Gewalt, die diese gewaltsame Ausgangssituation erst zu überwinden befähigte. Fanons Überlegungen stehen vielmehr in der Tradition derjenigen Gesellschaftstheorien, von Marx bis Merleau-Ponty, die den sozialen Kern der Gewaltverhältnisse offen zu legen suchen.

Für Fanon ist die antikoloniale Revolution verbunden mit einer existenziellen Revolte gegen die Entfremdung, die sich in dem Satz niedergeschlagen hat: »Das kolonisierte Ding wird Mensch.« Mehr und mehr tritt bei ihm die Analyse der Entfremdung als Analyse der kolonialen Situation, von den alltäglichen Lebensverhältnissen und den psychischen Deformationen über die soziale Klassenstruktur bis zum politischen System imperialer Herrschaft, in den Vordergrund. Nation und Gewalt sind in Fanons Theorie transitorische Momente im historischen Prozess der Dekolonisation. Er wusste um ihre missliche, gefährliche Konsequenz, die jederzeit einen Rückfall in rassistische, ethnizistische und nationalistische Orientierungen sowie in kryptofaschistische Militärdiktaturen oder in die Ohnmacht der spontanen Gewaltäußerungen erlauben würde und die dem Gewaltpotenzial der kolonialen Situation in nichts nachstehen. Die postkoloniale Situation ist durch diesen Rückfall gekennzeichnet. Darin aber besteht zugleich Fanons Aktualität, die sich nicht an seinen Antworten festmachen lässt, die nicht an seinen Irrtümern, sondern an der Selbständigkeit seines Denkens, an der Art seiner Fragen, an der politischen Zugangsweise und sozialen Haltung in seinen Analysen zu ermessen bleibt.

Frantz Fanon starb am 6. Dezember 1961 im Alter von 36 Jahren an Leukämie.

Editoriale Anmerkung:  

Dieser Artikel ist eine Spiegelung von:
http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/32/sub01a.htm