Aus:
Schöneberg on my mind
von Christine Kernich, in: Berlin-Schöneberg - Blicke ins
Quartier 1949 -2000, hrg. v. Muschelknautz, Johanna und Zwaka,
Petra, Berlin 2001, S. 130ff
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Ein anderer Ausschnitt aus dem
Schöneberg-Fokus meines inneren Blicks zu dieser, der
studentenbewegten Zeit: die MEISENGEIGE.
Seltsam: Wenn man die
main facts (die Hochschule, die Studieninhalte, die Seminare und
Arbeitsgruppen, die Teach-ins, die politischen Gruppierungen, die
Demonstrationen) beiseite schiebt, da sie trotz herausfordernder
Bannmeile um das Rathaus Schöneberg vorwiegend in anderen Berliner
Bezirken angesiedelt waren, dann bleibt mit dem scheinbar
Nebensächlichen das übrig, was für das faktische Leben
charakteristisch war.
Zum Beispiel die
Treffen NACH den Treffen.
Wenn das
studentenbewegte Tagwerk getan war, traf man sich vorzugsweise in
dieser kleinen im Hochparterre gelegenen Kneipe in der Goebenstraße.
Ein paar steile Stufen hoch, dann öffnete sich nach links der kleine
Kneipenraum. Vorn rechts der große runde Tisch, wo wir meistens
saßen: eine im Hochgefühl gesellschaftlicher Bedeutung all ihrer
Worte und Taten schwelgende vielköpfige Tafelrunde verwegener
Gestalten. Allen voran Sch, in seiner blauen Postlerjacke und immer
mit revolutionärem Drei-Tage-Bart (wie er das nur machte?), mit
rundet Brille und dünnem halblangem Nackenhaar, der Wortführer und
allseits anerkannte Cheftheoretiker. Er hatte diesen Tonfall drauf,
dieses lang gezogene und ziemlich penetrante, zwischen den
stoppeligen Kiefern rhetorisch unschlagbar Herausgemahlene mancher
SDS Größen (bei ihm durch Kaugummieinsatz noch verschärft).
Neben ihm K. und B.,
seine treuen Mit- und Nacheiferer — der eine schwarzlederjackig und
immer den » Kurzen Lehrgang« auf den Lippen (was ihn als
Schulungs-Ass auswies), der andere ein flaumbärtiger Jüngling mit
viel traurigem Mutterwitz bei aller Eloquenz. Hübscher, aber nicht
so ein Schlaumeier, der blondlockige R. - eher in Schülerpose:
hinterfragend. Lieblingsthema: »die Bullen«. Gegenüber, eifrig
vorgelehnt, die beiden zugereisten Vordenker von der FU - ich habe
ihre Gesichter vor Augen, wie sie es lieben, zu lästern und ihre
ironische Zunge zu wetzen - wie haben sie sich später befreit und
die Welt der Theorie eingetauscht gegen das bunte Leben, auch in
Schöneberg. (Aber das ist wieder eine andere Geschichte und führt
zum Tempodrom, in den Wintergarten und das Spiegelzelt).
Hier sitzen sie
jedenfalls alle noch zusammen in ihrer revolutionären Männlich- und
Bärtigkeit, heben die vollen Biergläser und gewinnen der Nacht alle
ihre politischen wie »beziehungsmäßigen« Glanzlichter ab.
Genauso wir Frauen:
das Zigarettendrehmaschinchen mit Papier und Tabak immer in
Bewegung, wenn nicht das dünne Beedie oder die Rote Hand bevorzugt
wird; trinkfest oder jedenfalls standhaft. Lange offene Haare,
schwarzumringte Augen, Jeans und Schlabberpulli (oder Opas Hemd).
Allesamt... äh, was
sagte man damals für COOL? - souveräne Musterschülerinnen der linken
Theorie und Praxis (einzelne anerkannt muterprobt im
Ladendiebstahlversuch - nur bei Großkapitalisten; eine relativ
vorübergehende Zeiterscheinung) und unerschrockene Entlarverinnen
politisch nicht korrekter »Linien«. Keine offenen Pärchen, keine
abartigen Beziehungskisten - wohl aber doch allseitiges Interesse
aneinander, so ganz nebenbei gezeigt und der revolutionären Tat
meilenweit untergeordnet.
Später, als drei von
uns Frauen sich einer anderen Politszene zuwandten und es wagten,
die »Autoritäten« der Szene zu konfrontieren, galten wir in
derselben Runde als frustrierte Ziegen.
Hier noch, in
Meisengeigenzeiten, hatten wir immer das Gefühl einer verschworenen
Gemeinschaft; unser runder Tisch beherbergte manchen
mitdiskutierenden und generös geDUzten »Prof«, so wie wir auch die
hereinschneienden Menschen aus der arbeitenden Bevölkerung gern mit
unseren Ideen vertraut machten. Öfters zogen wir noch weiter in
andere Wohnungen - zum Beispiel oben im Haus zu einem ebenso trink-
und diskussionsfreudigen Ehepaar, das morgens proletarisch früh
aufstehen musste und dem der rote Punkt an der studentischen Ente
Gesprächsstoff bot. Oder in Sch.s Wohnung, wo eine Marxbüste auf
unsere verbalen Großtaten herabschaute. Manchmal auch zu Mutter
Leydicke, wo uns der Erdbeerwein den Rest gab.
Was haben wir in der
Zeit bloß geredet! Mit Lust, mit Begeisterung, mit hoher
Selbsteinschätzung, mit wechselseitiger Bestätigung, mit Freude am
Erkennen, mit Ehrgeiz, mit Bier und gelöster Zunge. Über die
Klassen, die bürgerlichen Fesseln, die Freiheit und die Wahrheit:
Wir wussten alles oder hatten jedenfalls den Schlüssel. Bis jetzt
hatten die anderen die Welt nur interpretiert, wir aber ... Die
Sprache: nicht weniger exklusiv als heutige Internet-User-Codes.
Insider wussten einfach, was eine clandestine Aktion, was
Kampf-Kritik-Umgestaltung, was Warenfetischismus, was »der Aufstand
der lebendigen wissenschaftlichen Produktivkraft gegen die
programmierte Zerstörung« bedeutete. Der Name RotZ (für ROTE ZELLE)
bürgte nicht nur für zünftige Begrüßungen mit erhobener Faust und
eine Flut von »papers«, von Ormig-Matritzen abgenudelt, die auch
hier noch ausgebrütet wurden, sondern auch für Unerschrockenheit im
Umgang mit einengenden Normen, Regeln und Umgangsformen der
reaktionären Gesellschaft um uns herum.
Wilde Jahre, in denen
die Eierschalen hinter unseren Ohren nur so krachten ... Dann kam
die kurze knochentrockene Zeit der K-Gruppen, viel zu disziplinsauer
für Kneipen, und trieb uns die Meisen aus. Kein Stoff für
Schöneberger Glanzlichter, damit war kein Staat zu machen ...
Die verwaiste
Meisengeige dagegen schaffte gleich den Sprung in die neue Zeit. Aus
ihr wurde wenig später eine - die erste Schöneberger - Frauenkneipe:
der BLOCKSBERG.
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