Bürger Rußlands!
Durch den Aufstand
vom 25. Oktober haben die arbeitenden Massen zum
ersten Male die wirkliche Macht erlangt.
Der Allrussische
Kongreß der Sowjets hat zeitweilig diese Gewalt
seinem Exekutivkomitee und dem Rate der
Volkskommissare übertragen. Durch den Willen des
revolutionären Volkes bin ich zum Volkskommissar
für das Bildungswesen ernannt.
Die allgemeine
Leitung des Volksbildungswesens wird, soweit sie
der Zentralstaatsgewalt bleibt, bis zur
Konstituierenden Versammlung der Staatskommission
für die Volksaufklärung übertragen, deren
Vorsitzender und Vollstrecker der Volkskommissar
ist.
Auf welche
Grundbestimmungen wird sich nun die
Staatskommission stützen? Wie bestimmt sich der
Kreis ihrer Zuständigkeit?
Die allgemeine
Richtung der Aufklärungstätigkeit
Jede wirklich
demokratische Macht auf dem Gebiete der Bildung in
einem Lande, wo Analphabetentum und Unwissenheit
herrscht, muß sich als erstes Ziel den Kampf gegen
diese Finsternis setzen; sie muß in kürzester Zeit
die allgemeine Kenntnis des Lesens und Schreibens
erreichen durch Organisation eines Netzes von
Schulen, die den Erfordernissen der derzeitigen
Pädagogik entsprechen, durch Einführung des
allgemeinen obligatorischen und unentgeltlichen
Unterrichts, und gleichzeitig durch Errichtung
einer Reihe von Lehrerinstituten und Seminaren,
die möglichst rasch ein mächtiges Heer von
Volkserziehern stellen, die für den allgemeinen
Unterricht der Bevölkerung des unermeßlichen
Rußlands erforderlich sind.
Aber bei der bloßen
Kenntnis des Lesens und Schreibens, bei einem
allgemeinen Elementarunterricht kann keine
wirkliche Demokratie stehen bleiben; sie muß nach
der Organisation der absolut weltlichen für alle
Bürger einheitlichen Schule in mehreren Stufen
streben. Das Ideal ist: die gleiche und möglichst
hohe Bildung aller Bürger. Solange dieses nicht für
alle verwirklicht ist, muß der naturgemäße
Übergang in allen Stufen der Schule bis zur
Universität, muß der Übergang in eine höhere Stufe
ausschließlich von der Begabung des Schülers
und außer aller Abhängigkeit von dem Grade
der Wohlhabenheit seiner Familie abhängen.
Die Aufgabe der
wirklich demokratischen Organisation des
Unterrichts ist besonders schwer zu erfüllen in
einem Lande, das infolge eines verbrecherischen,
langen Krieges der Imperialisten verarmt ist. Das
arbeitende Volk aber, das die Macht ergriff, kann
unmöglich außer acht lassen, daß das Wissen ihm als
schärfste Waffe in seinem Kampfe für ein besseres
Schicksal und für sein geistiges Wachstum dienen
wird. Wie sehr man andere Posten des Volksbudgets
wird beschneiden müssen — die Kosten für die
Volksbildung müssen hoch sein: ein reiches Budget
für das Bildungswesen ist der Stolz und der Ruhm
für jedes Volk. Die freien und im Vollbesitze der
Macht stehenden Völker Rußlands werden dessen
eingedenk sein.
Der Kampf gegen das
Analphabetentum und die Unwissenheit kann sich
nicht auf eine ordnungsmäßige Einrichtung des
Schulunterrichts für Kinder, Unerwachsene und
Jünglinge beschränken. Auch die Erwachsenen werden
aus dem erniedrigenden Zustande eines Menschen, der
des Lesens und Schreibens unkundig war, sich
erretten wollen. Die Schule für Erwachsene muß
einen weiteren Raum in dem Plane des
Volksunterrichts einnehmen.
Unterricht und
Bildung
Es muß der
Unterschied zwischen Unterricht und Bildung
unterstrichen werden. Unterricht ist die
Übertragung fertiger Kenntnisse auf den Schüler.
Bildung ist ein schöpferischer Prozeß. Das ganze
Leben hindurch „bildet sich" die Persönlichkeit
eines Menschen, erweitert sich, bereichert sich,
verstärkt und vervollkommnet sich.
Die arbeitenden
Volksmassen, die Arbeiter, Soldaten, Bauern lechzen
danach, lesen und schreiben zu können und die
verschiedensten Wissensgebiete sich zu erschließen.
Sie lechzen aber auch nach Bildung. Diese kann
ihnen weder der Staat, noch die Intelligenz, noch
irgendwelche Macht außerhalb ihrer Person geben.
Schule, Bücher, Theater, Museum usw. können hier
nur Hilfsmittel sein. Die Volksmassen werden selbst
ihre Kultur bewußt oder unbewußt ausarbeiten. Sie
haben ihre eigenen durch ihre soziale Lage
geschaffenen Ideen, die sich sehr von der Lage
unterscheiden, die bisher die Kultur der
herrschenden Klassen und der Intelligenz
geschaffen hat; ihre eigenen Ideen, ihre eigenen
Empfindungen, ihr eigenes Herantreten an alle
Aufgaben der Person und der Gesellschaft, der
städtische Arbeiter nach seiner Art, der auf dem
Lande Arbeitende auf seine Art werden ihre lichte,
von dem Klassenbewußtsein des Arbeiters
durchdrungene Weltanschauung sich bilden. Es gibt
keine erhabenere und schönere Erscheinung als die,
deren Zeugen und Beteiligte die nächsten
Generationen sein werden: das Aufbauen des eigenen
gemeinsamen reichen und freien Seelenlebens durch
gemeinschaftliche Arbeit.
Der Unterricht ist
hier ein wichtiges, aber kein entscheidendes
Element. Hier ist die Kritik und die schöpferische
Kraft der Massen selbst wichtiger; denn Kunst und
Wissenschaft haben nur in einigen ihrer Teile eine
allgemein menschliche Bedeutung: sie erleiden
wesentliche Änderungen bei jeder tiefgreifenden
Klassenumwälzung.
Überall in Rußland,
besonders unter den städtischen Arbeitern, aber
auch unter den Bauern, erhob sich eine mächtige
Welle der aufklärenden Kulturbewegung, vornehmlich
zahllos die Arbeiterund Soldaten-Organisationen
dieser Art: ihnen entgegenkommen, sie auf jede
Weise stützen, den Weg vor ihnen freimachen, ist
die erste Aufgabe der revolutionären Volksregierung
auf dem Gebiete der Volksbildung.
Dezentralisation
Die Staatskommission
für Volksaufklärung ist keineswegs eine
Zentralgewalt, die die Lehr- und Bildungsanstalten
verwaltet. Umgekehrt muß das gesamte Schulwesen auf
die Organe der örtlichen Selbstverwaltung
übergehen. Die selbständige Arbeit der aus eigenem
Antrieb entstandenen, kulturell aufklärenden
Klassenorganisationen der Arbeiter, Soldaten und
Bauern muß volle Autonomie genießen sowohl
gegenüber dem staatlichen Zentrum, als auch
gegenüber den Munizipalzentren.
Sache der
Staatskommission ist es, Bindeglied und Gehilfe zu
sein, die Quellen der materiellen, ideellen und
moralischen Unterstützung für die munizipalen und
privaten, besonders aber für die Arbeiter- und
Klassenbildungsanstalten imr. allgemein
staatlichen Maßstabe zu organisieren.
Das
Staatskomitee für Volksbildung
Eine ganze Reihe
wertvoller Gesetzentwürfe ist seit Beginn der
Revolution vom Staatskomitee für Volksbildung
ausgearbeitet worden, das in seiner Zusammensetzung
recht demokratisch und an erfahrenen Spezialisten
reich ist. Die Staatskommission wünscht aufrichtig
das planmäßige Hand-in-Hand-arbeiten mit diesem
Komitee.
Sie wird sich an das
Büro des Komitees mit der Bitte wenden, sofort eine
Sondersitzung des Komitees zur Ausführung des
folgenden Programms anzuberaumen:
1)
Prüfung der Normen für die Vertretung im
Komitee im Sinne seiner noch weiteren
Demokratisierung.
2)
Prüfung der Befugnisse des Komitees im Sinne
einer Erweiterung derselben und seiner Umwandlung
in ein Hauptstaatsdnstitut für die Ausarbeitung von
Gesetzentwürfen für vollständige Reorganisation des
Volksunterrichts und der Volksbildung in Rußland
auf demokratischer Grundlage.
3)
Eine gemeinsam mit der neuen
Staatskommission vorzunehmende Prüfung der vom
Komitee schon angefertigten
Gesetzentwürfe, da bei deren Abfassung das Komitee
auf den bourgeoisen Geist der früheren Ministerien
Rücksicht nahm, die sie übrigens auch in dieser
verengerten Gestalt hemmten.
Nach dieser Prüfung
werden die Gesetzentwürfe ohne alle bürokratische
Verschleppung in revolutionärer Art durchgeführt
werden.
Die Pädagogen und
Gesellschaften
Die Staatskommission
begrüßt die Pädagogen auf der Arena der lichten und
ehrenvollen Arbeit der Aufklärung des Volkes — des
Beherrschers des Landes. Keine Maßnahme auf dem
Gebiete der Volksaufklärung darf von irgendeiner
Behörde ohne aufmerksame Abwägung der Stimme der
Vertreter der pädagogischen Welt ergriffen werden.
Andererseits können
die Entscheidungen keineswegs ausschließlich durch
eine Körperschaft von Spezialisten getroffen
werden. Das bezieht sich auch auf die Reformen der
allgemeinen Bildungsanstalten.
Die Mitarbeiterschaft
der Pädagogen und der sozialen Kräfte — das ist es,
was die Kommission bei ihrer Zusammensetzung im
Staatskomitee wie in ihrer gesamten Tätigkeit
anstreben wird.
Als ihre allererste
Aufgabe erachtet die Kommission die Verbesserung
der Lage der Lehrer und vor allem der enterbten und
nahezu wichtigsten Arbeiter am Kulturwerke, der
Volkslehrer der Elementarschulen. Ihre gerechten
Forderungen müssen unverzüglich und unter allen
Umständen befriedigt werden. Das Proletariat der
Schule verlangte vergeblich eine Erhöhung des
Verdienstes auf 100 Rubel monatlich. Es wäre eine
Schande, die Lehrer der ungeheuren Mehrheit der
russischen Kinder in Armut zu halten.
Die
Konstituierende Versammlung
Zweifellos wird die
Konstituierende Versammlung bald ihre Arbeit
beginnen. Nur sie wird dauernd die Ordnung des
staatlichen und Gemeinlebens in unserem Lande,
dabei auch den allgemeinen Charakter der
Organisation der Volksaufklärung festsetzen.
Jetzt aber ist mit
dem Übergange der Macht an die Sowjets der wahre
Volkscharakter der Konstituierenden Versammlung
gewährleistet. Die Linie, die von der
Staatskommission, gestützt auf das Staatskomitee,
gezogen wird, wird unter dem Einfluß der
Konstituierenden Versammlung kaum wesentlich
verändert werden. Ohne vorzugreifen, hält sich die
neue Volksregierung für berechtigt, auch auf diesem
Gebiete eine Reihe von Maßnahmen durchzuführen,
die eine möglichst rasche Bereicherung und
Aufhellung des geistigen Lebens des Landes
bezwecken.
Das Ministerium
Die laufenden
Geschäfte müssen vorläufig ihren Gang durch das
Ministerium der Volksaufklärung
nehmen. Über alle unmittelbar notwendigen
Änderungen in seiner Zusammensetzung und
Einrichtung werden die vom Exekutiv-Komitee der
Sowjets gewählte Staatskommission und das
Staatskomitee entscheiden. Die endgültige Ordnung
der staatlichen Leitung auf dem Gebiete der
Volksbildung wird selbstverständlich von der
Konstituierenden Versammlung festgesetzt werden.
Bis dahin muß das Ministerium die Rolle des
ausführenden Organs bei der Staatskommission für
Volksaufklärung und dem Staatskomitee für
Volksbildung spielen.
Die Gewähr der
Rettung des Landes liegt in der Mitarbeit ihrer
lebendigen und wahrhaft demokratischen Kräfte.
Wir vertrauen, daß
die vereinigten Anstrengungen des arbeitenden
Volkes und der ehrlichen, aufgeklärten Intelligenz
das Land aus der qualvollen Krise hinaus und durch
die völlige Volksherrschaft in das Reich des
Sozialismus und der Verbrüderung der Völker führen
werden.
Petrograd, den 29.
Okt./ll. Nov. 1917.
(Veröffentl. in Nr. 3 der Ztg. der Arbeiter- und
Bauern-Reg. vom 1. 14. Nov. 1917.)
Quelle:
Illustrierte
Geschichte der russischen Revolution, Berlin
1928, S.488 -490 |