Die Beiträge, die wir
gestern gehört haben, haben ein helles Licht auf die
gesellschaftlichen und politischen Widersprüche
geworfen, die in den sozialistischen oder sogenannten
»sozialistischen« Ländern bestehen. Sie haben auch
konkret gezeigt, wie die Verschärfung dieser
Widersprüche zu verschiedenen Formen der Repression
durch den Staatsapparat führt. Diese repressiven Akte
sind keine »Zufälle« oder »Fehler« der
Herrschaftsausübung, sie sind vielmehr an objektive
Antagonismen und an die objektive Stellung der
Staatsmacht im Gesamtzusammenhang der ökonomischen
und sozialen Verhältnisse gebunden.
Damit stellt sich die Frage
nach der Natur der in diesen Ländern dominierenden
ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Sie zu prüfen ist
um so dringlicher, als es eine - sich als marxistische
verstehende - Interpretation gibt, die behauptet, nach der
Abschaffung des juristischen Privateigentums an den
Produktionsmitteln könne es keine Ausbeutungsverhältnisse
mehr geben, sondern nur noch Klassen (es wird vielmehr von
»sozialen Gruppen« gesprochen), die geschwisterliche
Beziehungen miteinander unterhalten. Eine typische
Formulierung dieser Auffassung findet sich in der Rede
Stalins vom 25. November 1936, in der er den neuen
Verfassungsentwurf vorstellte. In dieser Rede beschreibt
Stalin das Verschwinden des Privateigentums an den
Produktionsmitteln in der UdSSR und setzt es mit dem
Verschwinden des Kapitalismus gleich. Aus dieser
Beschreibung folgert er dann, daß es in der UdSSR keine
Ausbeuterklasse mehr gebe, sondern nur noch zwei
befreundete Klassen, Arbeiter und Bauern, und eine soziale
Gruppe: die »Intellektuellen«. Er fügt hinzu, die
Intellektuellen stünden in einem dienenden Verhältnis zu
den Arbeitern und Bauern, es gebe keine anderen Klassen,
denen sie untergeordnet seien.
Die Wirklichkeit hat diese
naiv-optimistische Vision widerlegt. Seitdem haben weitere
Analysen eine dialektischere Auffassung begründet. Das
gilt für die nach 1956 verfaßten Texte Mao Tse-tungs, die
die Fortführung des Klassenkampfs unter der Diktatur des
Proletariats behandeln, besonders für seine Untersuchung
über die Widersprüche im Volk, und später vor allem für
seine Aufsätze aus der Periode der Kulturrevolution. In
diesen Aufsätzen ist die Rede vom Fortleben der
Bourgeoisie im Schoß der Partei und von der Gefahr einer
Umwandlung der Kommunistischen Partei in ihr genaues
Gegenteil, eine faschistische Partei, wie es in der
Sowjetunion geschah. Analysen von solcher Bedeutung
widersprechen offen einer Reihe simpler Formulierungen,
die in Europa in großer Zahl verbreitet wurden - unter
Europa verstehe ich sowohl West- als auch Osteuropa.
Ich möchte ein paar
Anmerkungen zu den theoretischen Konzepten machen, die den
Anspruch erheben, diese simplen Formulierungen zu
fundieren. Sie beruhen auf einem Postulat und einer
Folgerung. Das Postulat besagt, die ökonomische Basis der
Gesellschaftsformation der sogenannten »sozialistischen
Länder« (ich werde hauptsächlich von der UdSSR sprechen)
sei eine sozialistische ökonomische Basis. Die Folgerung
besagt, daß auf dieser Basis kein Platz mehr sei für
antagonistische Klassen, deshalb bestehe die Rolle des
Staates vor allem in der Organisierung der
gesellschaftlichen Produktion und in der Verteidigung des
Landes gegen äußere und innere Feinde. Die inneren Feinde
sind keine feindliche Klasse, sondern konterrevolutionäre
»Elemente« oder »Individuen«, auf denen noch das Erbe der
Vergangenheit lastet, oder »ausländische Agenten«. Mit
diesem geschlossenen, gegen die Wirklichkeit abgedichteten
»Erklärungsschema« fällt es zunehmend leichter, alle
diejenigen zu »Söldnern im Dienst des Imperialismus« zu
stempeln, die eine Abweichung von der Politik der Partei
oder des Staats bekunden oder empfehlen. Die Negation (der
Existenz) innerer Widersprüche - die faktisch jedoch
bestehen - tendiert somit zur »Legitimierung« einer
strengen Repression im Namen der »Verteidigung des Landes«
oder der »Verteidigung der Revolution«.
Nachzudenken ist vor allem
über das Postulat, die ökonomische Basis eines Landes wie
der Sowjetunion sei sozialistisch bzw. sie sei bereits
seit 1935 oder 1936 sozialistisch. Einerseits stellt
dieses Postulat das rechtliche Verhältnis (das
Staatseigentum), das zum Überbau gehört, einem
Produktionsverhältnis gleich, das zur ökonomischen Basis
gehört. Andererseits impliziert es eine Gleichsetzung von
Staatseigentum (oder Kooperativen- oder Kolchoseeigentum)
mit dem sogenannten »sozialistischen Eigentum«. Dieses
Postulat faßt das Staatseigentum als eine Form der
gesellschaftlichen Aneignung, von der unterstellt wird,
sie habe das Proletariat zum Verschwinden gebracht.
Eben dies behauptete Stalin
in seiner Rede von 1936 als er erklärte, die sowjetische
Arbeiterklasse sei eine völlig neue Klasse und kein
Proletariat mehr, weil sie die Produktionsmittel mit dem
ganzen Volk gemeinsam besitze. Abstrakt ausgedrückt: Es
wird also behauptet, daß das Staatseigentum den
Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der
Produktivkräfte und dem Privateigentum einer Klasse
»auflöse«. Wir haben es hier mit einem ideologischen
System zu tun, das mit dem Dialektischen Materialismus
überhaupt nichts zu tun hat. Dieses System geht von
folgenden Voraussetzungen aus:
a)
Staatseigentum = gesellschaftliches Eigentum
= sozialistisches Eigentum;
b)
das Eigentum sei die Grundlage der
Produktionsverhältnisse.
Es unterstellt somit, daß,
weil es »sozialistisches Staatseigentum gibt,
Produktionsverhältnisse herrschten, die ebenfalls
sozialistisch seien, und folgert daraus, das Verhältnis
der Lohnabhängigkeit sei eine »leere« Form, die »völlig
neue gesellschaftliche Verhältnisse« berge (das wird zum
Beispiel im Handbuch der Politischen Ökonomie der Akademie
der Wissenschaften deutlich, das 1954 in der UdSSR
veröffentlicht wurde; es faßt die von Stalin zu den
gleichen Problemen geäußerten Behauptungen aus dem Jahr
1952 zusammen). Solche Thesen sind nun allerdings nicht
minder idealistisch als die bürgerliche Rechtsideologie.
Materialistisch jedenfalls sind sie in keiner Faser. Das
wird an der Schlüsselrolle erkennbar, die dem
Staatseigentum, d. h. der rechtlichen Form des Eigentums,
zukommt. Dahinter steht der Schatten des Proudhonismus
oder des Lassalleanismus.
Bereits 1848 hatte Marx in
einem Brief an Annenkow die Inkonsistenz eines Konzepts
nachgewiesen, das dem rechtlichen Eigentum eine
Schlüsselrolle zuweist: »Das Eigentum bildet schließlich
die letzte Kategorie im System des Herrn Proudhon. In der
realen Welt dagegen sind die Arbeitsteilung und alle
übrigen Kategorien des Herrn Proudhon gesellschaftliche
Beziehungen, deren Gesamtheit das bildet, was man heute
das Eigentum nennt: außerhalb dieser Beziehungen ist das
bürgerliche Eigentum nichts als eine metaphysische oder
juristische Illusion. [...] Wenn Herr Proudhon das
Eigentum als eine selbständige Beziehung darstellt, begeht
er mehr als nur einen Fehler der Methode: er beweist klar,
daß er nicht das Band erfaßt hat, das alle Formen der
bürgerlichen Produktion verknüpft, [...] daß er den
historischen und vorübergehenden Charakter der
Produktionsformen in einer bestimmten Epoche nicht
begriffen hat«. (K. Marx, Brief an P. W. Annenkow vom 28.
Dezember 1846; MEW4, S. 551-552). Dieser Text sagt mit
großer Klarheit, daß Eigentum im genauen Sinn des Worts
keine rein juristische Kategorie ist, sondern das Produkt
aus der Gesamtheit aller gesellschaftlichen Beziehungen,
vor allem der Arbeitsteilung. Nun sind aber die
gesellschaftlichen Verhältnisse, die die UdSSR
charakterisieren, im Grunde die gleichen wie bei der
kapitalistischen Produktionsweise.
Der Begriff des
»sozialistischen Eigentums, als juristischer Begriff,
abstrahiert vom realen Aneignungsprozeß, an dem
Produzenten und Nichtproduzenten beteiligt sind. Er
abstrahiert von den gesellschaftlichen Beziehungen, die
sich in diesem Prozeß und auf seiner Grundlage bilden.
Diese Beziehungen können nur auf dem Weg einer konkreten
Analyse erkannt werden; sie lassen sich nicht aus der Form
des juristischen Eigentums »ableiten«.
Wie Marx im Kapital betont,
bleibt die kapitalistische Produktionsweise erhalten,
solange die Produktionsmittel weiterhin als fremdes
Eigentum allen in der Produktion aktiven Individuen
gegenüberstehen. Daß kapitalistische
Produktionsverhältnisse auf der Basis des Staatseigentums
aufrechterhalten werden, zeigt sich ganz deutlich in der
Reproduktion der Lohnabhängigkeit. Diese Abhängigkeit
bedeutet, daß die ökonomische Basis der sowjetischen
Gesellschaftsformation immer noch von kapitalistischen
Produktionsverhältnissen bestimmt wird. Wie Marx
hervorhebt, »[unterstellt] der Arbeitslohn die Lohnarbeit,
der Profit das Kapital. [...] Die kapitalistische
Verteilung ist verschieden von den Verteilungsformen, die
aus andren Produktionsweisen entspringen, und jede
Verteilungsform verschwindet mit der bestimmten Form der
Produktion, der sie entstammt und entspricht.« (MEW25, S.
889-90)
Bereits in den Grundrissen
hatte Marx dargelegt, die Existenz der Wertform auf der
Verteilungsebene (also die Existenz der Lohnform) beweise,
daß die Produktion noch nicht unmittelbar gesellschaftlich
ist: »Die Notwendigkeit selbst, das Produkt oder die
Tätigkeit der Individuen erst in die Form des Tauschwerts,
in Geld, zu verwandeln, dass sie in dieser sachlichen Form
ihre gesellschaftliche Macht erhalten, und beweisen,
beweist zweierlei: 1) daß die Individuen nur noch für die
Gesellschaft und in der Gesellschaft produzieren; daß ihre
Produktion nicht unmittelbar gesellschaftlich ist, nicht
the offspring of association, die
die Arbeit unter sich verteilt. Die Individuen sind unter
die gesellschaftliche Produktion subsumiert, die als ein
Verhängnis außer ihnen existiert; aber die
gesellschaftliche Produktion ist nicht unter die
Individuen subsumiert, die sie als ihr gemeinsames
Vermögen handhaben.« (Grundrisse, S. 76) Sowohl die Form
des Produktionsprozesses als auch die Form des
Distributionsprozesses bezeugen, daß in den sowjetischen
Betrieben kapitalistische Produktionsverhältnisse
reproduziert werden.
Wenn die Sowjetunion
sozialistische Strukturen herausgebildet hat, dann nicht
wegen der Transformation ihrer ökonomischen Basis, sondern
- unmittelbar nach der Oktoberrevolution -aufgrund der
Besonderheit einer politischen Macht, die den Kampf für
die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse
aufnahm und die Arbeiter im Hinblick auf diese Veränderung
vereinte. Als dieser Kampf aufgegeben wurde, vor allem als
die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als
»abgeschlossen« verkündet wurde, obwohl sie es nicht war,
verlor die sowjetische Gesellschaftsformation ihren
sozialistischen Charakter. Die Preisgabe des Kampfs machte
offenbar, daß sich im Kräfteverhältnis zwischen den
Klassen eine Wende vollzogen hatte, die die
Wiederherstellung kapitalistischer Produktionsverhältnisse
zuließ und sicherte.
Diese Einsicht wird durch
eine Ideologie verstellt, die das Phantom einer
»sozialistischen Produktionsweise« erfunden hat. Der
Sozialismus ist keine Produktionsweise. Er ist der
Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. Die Ideologie
der »sozialistischen Produktionsweise«, die übrigens einen
großen Teil der Arbeiterbewegung in der Welt korrumpiert,
erfüllt eine offensichtlich apologetische Funktion. In der
Sowjetunion fungiert sie als Rechtfertigung des
bestehenden Zustands, als Theorie, die darauf abzielt, die
Verstärkung des Staats und der Repression zu »begründen«.
Sie negiert die Existenz eines Proletariats in der UdSSR.
Damit negiert sie die Existenz des proletarischen
Klassenkampfs und privilegiert die Belange jener, die über
die Staatsmacht verfügen und die durch deren Vermittlung
über die Produktionsmittel verfügen, d. h. sie
privilegiert den Staatsbourgeoisie um die Erhaltung der
Macht. Eine solche Ideologie erlaubt es, diejenigen als
»Konterrevolutionäre« zu beschuldigen, die sich dieser
Macht widersetzen, während es gerade diese Macht selber
ist, die reaktionär ist.
Der Staatskapitalismus, wie
er in der UdSSR vorliegt, ist ein tief widersprüchliches
Phänomen. Einerseits sichert er die Reproduktion des
Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat,
andererseits erzeugt er eine permanente Krise - sie
artikuliert sich in der übermäßigen Ausbeutung der
Bevölkerung und in der Unzufriedenheit all jener, die den
Widerspruch zwischen der Sprache der Macht und der
Realität wahrnehmen. Deshalb ist diese Macht
notwendigerweise repressiv. Allein der Kampf zur
Überwindung dieses Staats und der kapitalistischen
Arbeitsteilung ist mit der Entwicklung der Demokratie für
die Massen vereinbar.
Quelle:
Bettelheim,
Charles: Über die Natur der sowjetischen Gesellschaft.
In: Bettelheim, Meszaros,
Rossanda u.a.: Macht und Opposition in den
nachrevolutionären Gesellschaften. Suhrkamp Vertag,
Frankfurt a.M. 1979,
S. 101-106