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Rechtsextremistische Straftaten
ein Schattenbericht von 2002
Eine Studie für die AG Innen- und Rechtspolitik der PDS-Bundestagsfraktion zu den Widersprüchen und Mängeln offizieller Statistiken über rechte Straf- und Gewalttaten

Von Winnie Sellkens und Michael Wilde

Vorwort der Herausgeber
 
Im Sommer 2000 war nach dem rassistischen Mord an Alberto Adriano in Dessau und dem Bombenattentat auf eine Gruppe jüdischer Einwanderer in Düsseldorf die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber neofaschistischen Bedrohungen so groß war wie seit den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock, den Morden von Mölln und Solingen nicht mehr. Als daraufhin Bundeskanzler Schröder im Oktober den „Aufstand der Anständigen“ proklamierte, legten „Frankfurter Rundschau“ und „Tagesspiegel“ eine Chronik über die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 vor. Die von ihnen gezählten damals 93 Todesopfer übertrafen die offizielle Statistik der Bundesregierung um ein Vielfaches. 2 von 3 Todesopfern wurden von der amtlichen Statistik nicht erfasst.

Die nicht zuletzt durch die Dokumentation dieser erschreckend hohen Zahl von Todesopfern losgetretene Debatte um die Zuverlässigkeit der offiziellen Statistiken über rechte Straf- und Gewalttaten mündete zunächst in der Überprüfung der amtlich zugegebenen Zahlen über Todesopfer rechter Gewalt. Zögernd wurde daraufhin die Zahl auf 36 Tote nach oben korrigiert.
Danach konnten die offiziellen Stellen nicht mehr umhin, die jahrelangen Erfassungs-defizite zuzugeben. So beschloss die Innenminsterkonferenz im Mai 2001, rechte Straftaten nicht mehr nach dem engen Kriterium „extremistisch“ zu erfassen, sondern diesen durch den weitgehenderen Begriff „politisch motiviert“ zu ersetzen. In weiten Teilen der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik war damit die Hoffnung verbunden, nun endlich ein zuverlässigeres und realitätsgetreueres Abbild rechter Gewalt in der amtlichen Statistik zu erhalten.
 
Doch kaum eingeführt, stellten sich immer offenkundigere Mängel auch in den auf der neuen Zählweise basierenden Statistiken für das Jahr 2001 heraus: Bei den monatlichen Statistiken sind irritierend hohe Differenzen zwischen den vom Bund und den von den Ländern vorgelegten Zahlen offenkundig geworden.

Fragen werfen auch Vergleiche zwischen den Länderstatistiken auf: Während einzelne Länder – wie z.B. Mecklenburg-Vorpommern – in keinem Monat mehr als zehn rechtsextrem motivierte Straftaten meldeten, erfasste beispielsweise Sachsen kontinuierlich durchschnittlich hundert rechte Delikte.

Todesfälle, die entsprechend der Definition der „politisch motivierten“ Tat zweifelsfrei als rechtsextreme Delikte einzuordnen wären, finden nach wie vor keinen Eingang in die offiziellen Statistiken von Bund und Ländern. Dieselben Opfergruppen – insbesondere Obdachlose und Punks – fallen auch noch mit der reformierten Zählweise aus der Statistik heraus.
 
Somit sind die alten Fragen weiter ungelöst: Folgt die Erfassungspraxis der Polizeibehörden vor Ort noch immer dem Muster von Wegschauen, Bagatellisierung, Ignoranz und dem Bestreben, den eigenen Dienstbezirk nicht als „rechte Hochburg“ in Verruf bringen zu wollen? Wird das Anzeigeverhalten von Opfern und Zeugen rechter Gewalt weiter von Angst und Einschüchterung geleitet? Geben die örtlichen Polizeibehörden rechte Straftaten nicht vollständig an die Landeskriminalämter weiter und/oder „verschwindet“ eine nicht unerhebliche Zahl rechter Straf- und Gewalttaten auf dem Weg von der Landes- in die Bundesstatistik? Oder nimmt das Bundeskriminalamt nicht alle von den LKAs gemeldeten Fälle in seine – schließlich an das Bundesinnenministerium weitergegebene – Statistik auf?

Ist es „nur“ Unfähigkeit und Inkompetenz die verantwortlich sind für ein kaum mehr überschaubares Zahlenchaos oder stecken politische Absichten, steckt „System“, dahinter?
Fragen, die auch der vorliegende Bericht nicht abschließend zu beantworten vermag. Detailliert aber weist die Autorin nach, wo nach wie vor unwiderlegbar Todesfälle keinen Eingang in die offiziellen Statistiken fanden, an deren rechtsextremer Motivation selbst Richter und Staatsanwälte keinen Zweifel ließen, wo sich selbst die offiziellen Statistiken im Bund- Ländervergleich in erschreckendem Maße widersprechen, wo Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt – am deutlichsten wird dies am Beispiel Sachsens – mehr rechte Straf- und Gewalttaten zählen als die offiziellen Bilanzen.
 
Die politischen Konsequenzen, die zu ziehen das Ergebnis der vorliegenden Arbeit empfiehlt, sind deutlich, ihre Umsetzung dringend nötig. Amtliche Statistiken über das Ausmaß rechter Gewalt haben grundlegend versagt. An dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Eine zivilgesellschaftliche Beobachtungsstelle, die offen und unabhängig und in enger Kooperation mit örtlichen Initiativen, Opferberatungsstellen, Flüchtlings- und Antifagruppen rechte Straf- und Gewalttaten erfasst, muss schnellstmöglich eingerichtet werden. Der Bundestag hat im März 2001 in einem interfraktionellen Antrag die Bundesregierung aufgefordert, die Einrichtung einer solchen Beobachtungsstelle zu prüfen – doch Innenminister Schily blieb bis heute tatenlos.
Die Opferberatungsstellen, die durch das 2001 erstmals eingerichtete Bundesprogramm CIVITAS in den neuen Bundesländern finanziert werden und die im September 2001 ihre Arbeit aufnehmen konnten, haben zur Zeit de facto die Funktion, die eigentlich einer solchen zentralen Beobachtungsstelle zukäme: unabhängig und frei von tagespolitischen Interessen das tatsächliche Ausmaß rechter Gewalt zu dokumentieren.

Wo nach wie vor eine Stimmung getreu dem Motto „was nicht sein darf, das nicht sein kann“ vorherrscht und das Verhalten von Polizei, Justiz und örtlicher Bevölkerung bestimmt, wird den (potentiellen) Opfern rechter Gewalt Schutz und Unterstützung entzogen, fühlen sich rechte Schläger eher ermutigt als eingeschüchtert, gelten antirassistische und antifaschistische Initiativen weiter als Nestbeschmutzer statt als Vorbild für Zivilcourage. Kurz: können sich rechte Tendenzen weiter ungehindert ausbreiten und zu einer wirklichen Bedrohung für Demokratie und eine offene Gesellschaft entwickeln. Die Antwort darauf muss sein, lokalen Initiativen gegen Rechts eine langfristig sichere finanzielle Basis zu verschaffen und ihr Engagement uneingeschränkt und öffentlich zu würdigen. Den Opfern rechter Gewalt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu geben, ist ein Gebot der Menschenwürde und wäre zudem ein Signal an die rechten Schläger, dass sie mit ihren Taten das genaue Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich erreichen wollen. Die wichtige und dringend nötige Arbeit der Opferberatungsstellen muss langfristig abgesichert werden; die Ausweitung des CIVITAS-Programms auf die alten Länder ist angesichts der auch in den westlichen Bundesländern anhaltend hohen Zahlen rechter Gewalttaten dringend geboten.

Ulla Jelpke
Innenpolitische Sprecherin der PDS-Bundestagsfraktion

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Internetquelle:
http://www.pds-im-bundestag.de/themen/anti/faschismus/schattenbericht.pdf

 
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