Nr.2/1998
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In ganz Europa hoechstens 35 Stunden

von Angela Klein & Francois Vercammen

Europa hat jetzt eine "soziale Seite" -- gerade soviel wie noetig, um der
Oeffentlichkeit glaubhaft zu machen, dass auf EU-Ebene auch
Beschaeftigungspolitik betrieben wuerde, und um die Nationalstaaten daran
zu hindern, oeffentliche Beschaeftigungsprogramme aufzulegen.

Auf dem "Beschaeftigungsgipfel" in Luxemburg -- der besser "Flexi-Gipfel"
genannt wuerde -- am 21. und 22.November 1997 beschlossen die Staats- und
Regierungschefs der EU eine "koordinierte Strategie fuer Beschaeftigung".
Vier Leitlinien wurden erarbeitet: berufliche Eingliederung, neuer
Unternehmergeist, Anpassung der Unternehmen und Erwerbstaetigen an den
Arbeitsmarkt, Chancengleichheit.

Die erste ist die wichtigste: die Faehigkeit zur beruflichen Eingliederung
(engl.: "employability", Beschaeftigungsfaehigkeit -- mit diesem Begriff
hat der britische Labour-Fuehrer und Premierminister Tony Blair seine
Spuren in Luxemburg hinterlassen) soll verbessert werden. Jugendliche
werden vor Ablauf von 6 Monaten Arbeitslosigkeit in besondere
Ausbildungsprogramme gesteckt, fuer Erwachsene ist die Grenze ein Jahr. 20
Prozent der Erwerbslosen sollen in den naechsten 5 Jahren von diesem
Programm erfasst werden. Der Pferdefuss dabei ist ein alter: die
Ausbildung sichert keinen Arbeitsplatz und -- anders als bei den
Haushaltskriterien der Maastrichter Vertraege -- sind Kriterien zur
Schaffung von Arbeitsplaetzen weder allgemein anerkannt noch gesetzlich
verpflichtend.

Das Luxemburger Abkommen stellt staatliche Beschaeftigungspolitik ganz
und gar in einen neoliberalen Rahmen. Es zielt darauf ab, "die
Erwerbslosen anzuregen, wirklich eine Beschaeftigung oder Ausbildung zu
suchen oder anzunehmen" -- d.h., es waelzt die Verantwortung fuer den
Zustand der Erwerbslosigkeit ganz und gar auf die Betroffenen ab. Tony
Blair erfand dafuer den Spruch: "Die Gesellschaft beruht nicht nur auf
Rechten, sondern auch auf Pflichten." Gegenueber dem frueheren Spruch von
Margaret Thatcher: "Die Gesellschaft gibt es nicht", ein bemerkenswerter
Fortschritt.

Ein zweiter Komplex kreist um den Gedanken, die unteren Loehne zu senken
und den Mindestlohn abzuschaffen, die hohen Loehne hingegen weiter zu
erhoehen und die "Arbeitskosten" fuer die Unternehmer, d.h. die
Lohnnebenkosten, zu senken -- was die Sozalversicherung weiter aushoehlt.

Gefordert wird eine Reorganisation der Arbeitsmaerkte und Massnahmen, die
Unternehmen "produktiv und wettbewerbsfaehig" zu machen. Der Luxemburger
Gipfel laedt die "Sozialpartner" ein, Abkommen ueber eine "jaehrliche
Arbeitszeit, die Kuerzung von Arbeitszeit und Ueberstunden, den Ausbau der
Teilzeitarbeit, lebenslanges Lernen und Unterbrechungen in der beruflichen
Laufbahn" abzuschliessen.

Im Kern ist dies eine Kopie des niederlaendischen Modells, das auch
Kanzler Kohl zur Nachahmung empfohlen hat.

Neudefinition von Beschaeftigungspolitik

Alle Beteiligten zeigten sich mit dem Ergebnis des Gipfels zufrieden: das
EU-Establishment, weil eine Klippe umschifft worden war (die Forderung
nach einem Beschaeftigungsprogramm der EU); die Regierungschefs, weil das
laestige Versprechen von Amsterdam (ein Sondergipfel zum Thema
Beschaeftigung) damit abgearbeitet wurde; der Europaeische
Gewerkschaftsbund (EGB), weil es ihm gelungen war, 30.000 Menschen auf die
Strasse zu bringen und weil er die Beschluesse als einen "Schritt in
Richtung Sozialunion" wertete. Nicht zufrieden waren die Erwerbslosen und
Armen. Sie haben sich eher hinter dem Motto der Euromaersche
widergefunden: "Wer Elend saet, wird Wut ernten."

Die Quintessenz dieser Stiluebungen ist eine Neudefinition von staatlicher
Beschaeftigungspolitik: Darunter versteht man nun nicht mehr, wie der Name
nahelegt, die Schaffung neuer Arbeitsplaetze durch die Regierung, sondern
die Schaffung und den Erhalt der "Beschaeftigungsfaehigkeit" von
Erwerbslosen. Nicht der rabiate, durch die privatkapitalistische
Konkurrenz diktierte Arbeitsplatzabbau ist damit fuer die Erwerbslosigkeit
verantwortlich, sondern die fehlende Anpassung der Erwerbslosen an die
"Beduerfnisse des Marktes".

"Sozialpartnerschaft" besteht unter diesen Bedingungen darin, dass
Gewerkschaften, Unternehmer und Regierungen alle dasselbe Lied von der
Flexibilitaet singen. Dann sind auch Arbeitszeitverkuerzungen denkbar.

Von den alten sozialdemokratischen Forderungen nach staatlichen bzw. EU-
weiten Beschaeftigungsprogrammen war auf dem Luxemburger Gipfel nichts zu
spueren. Die franzoesische Linksregierung hatte den Gipfel zwar verlangt
und durchgesetzt. Sie hat sich jedoch schliesslich in den Chor der anderen
sozialdemokratischen Regierungen eingereiht (insbesondere der britischen)
und die Forderung nach handfesten Kompetenzen fuer einen "Wirtschaftsrat"
der EU, der unabhaengig von der Europaeischen Zentralbank
wirtschaftspolitische Leitlinien durchsetzen koennte, fallengelassen.

Ihren eigenen Gesetzesentwurf, der jetzt im Januar vorgelegt werden soll,
macht die franzoesische Regierung von einem Abkommen zwischen den
Tarifparteien abhaengig; unter aehnlichen Bedingungen legt die
italienische Regierung ein Gesetz zur Einfuehrung der 35-Stunden-Woche
vor, ohne Angaben zum Lohnausgleich zu machen.

Der EGB vereinbarte vor dem Luxemburger Gipfel, am 17.11., mit dem
europaeischen Unternehmerverband UNICE ein Abkommen, in dem jeder Hinweis
auf eine Arbeitszeitverkuerzung fehlt. Das Europa-Parlament (EP) stimmte
mit knapper Mehrheit gegen die 35-Stunden-Woche; dabei enthielt sich auch
ein Gutteil der sozialistischen Abgeordneten der Stimme. Parallel zum
Luxemburger Gipfel traf sich die Spitze der Europaeischen Sozialistischen
Partei (waehrend der Demonstration des EGB). 8 von 15 Regierungschefs der
EU waren anwesend. Einen Tag spaeter erklaerten sie vor der Presse, dass
sie vor allem auf die Flexibilisierung der Arbeit setzten. Die Mehrheit
der Mitglieder der EU-Kommission hat das Parteibuch einer sozialistischen
bzw. sozialdemokratischen Partei in der Tasche.

Die europaeische Sozialdemokratie steht heute selbst im Mittelpunkt
neoliberaler Politikansaetze. Sie ist doppelt gebunden: durch ihre
Unterstuetzung der EU im Namen des vereinten Europa ... und durch das
Gegenteil, die Konkurrenz zwischen den Mitgliedslaendern (am offensten hat
sich wieder einmal Gerhard Schroeder geaeussert: "Die 35-Stunden-Woche in
Frankreich -- welche Chance fuer die deutsche Wirtschaft!"). In beiden
Faellen ist sie Gegnerin eines Europa, das vor allem auf soziale
Verpflichtungen festgelegt ist.

Das Problem einer Alternative zur EU ist deshalb nicht nur ein
institutionelles (wie die Kompetenzen der Gremien und die Mechanismen der
Willensbildung aussehen), sondern vor allem ein politisches. Deshalb muss
in erster Linie das Kraefteverhaeltnis vor Ort geaendert werden.

Die Initiativen der franzoesischen und italienischen Regierung haben nicht
nur die Seite, dass sie eine populaere Forderung zur Bekaempfung der
Erwerbslosigkeit in die Kanaele der Flexibilisierung und der
Kompatibilitaet mit Unternehmerinteressen zu lenken versuchen. Sie haben
auch die Seite, dass sie eine Forderung aufgreifen, die laengst nicht mehr
dem Zeitgeist zu entsprechen scheint, und damit einen Erwartungshorizont
schaffen, der gesellschaftlichen Bewegungen Spielraum fuer unabhaengige
Initiativen verschafft. Aus diesem Grund haben die Unternehmerverbaende in
Frankreich und Italien so wuetend reagiert.

Eine neue Bresche

Es gibt, bedingt durch die beiden Regierungsinitiativen, derzeit wieder
die Chance, die radikale Arbeitszeitverkuerzung zu einer gemeinsamen
europaweiten Perspektive der Erwerbstaetigen und Erwerbslosen zu machen.
Die nationalen Gewerkschaftsverbaende allerdings tun alles, um die in
Frankreich eroeffnete Bresche nicht fuer einen gemeinsamen europaweiten
Kampf nutzbar zu machen.

Fuer die Gewerkschaftslinke indes ist dies eine guenstige Gelegenheit: es
beginnt sich eine alternative gesellschaftspolitische Linie zum
gewerkschaftsoffiziellen Kurs abzuzeichnen, die verschiedentlich -- auf
Demonstrationen, Kongressen, in Erklaerungen, sogar Streiks -- zum
Ausdruck kommt, wenn sie bislang auch nur von Minderheiten vorgetragen
wird. Um das Ruder herumzureissen, beduerfte es einer allgemeinen Bewegung
fuer eine radikale und allgemeine Verkuerzung der Arbeitszeit, die das Los
der abhaengig Beschaeftigten wirklich verbessert: ohne Lohnverlust und mit
entsprechenden Neueinstellungen, mit massiver Einschraenkung der
Ueberstunden und strikter Freiwilligkeit von Teilzeitarbeit, schliesslich
auch mit tatsaechlicher Souveraenitaet der Beschaeftigten ueber ihre
Arbeitszeit.

Fuer eine solche Wende bedarf es des gemeinsamen europaweiten Kampfes und
der Aufhebung der Konkurrenz unter den Lohnabhaengigen. Sonst setzt sich
fort, was seit 15 Jahren und in wachsendem Mass mit Arbeitszeitverkuerzung
verbunden ist: Senkung der Loehne, Fruehverrentung fuer Maenner und
Teilzeitarbeit fuer Frauen, phantastische Zunahme der Produktivitaet,
Entkopplung der Loehne davon und Zunahme der Arbeitsintensitaet.

Die vereinheitlichte Durchsetzung dieser Politik in allen EU-Staaten durch
die Maastrichter Vertraege hat auch die Bedingungen fuer eine europaweite
Verstaendigung zwischen Erwerbstaetigen, ungeschuetzt Beschaeftigten und
Erwerbslosen geschaffen, die der Vorstellung, dass Massenarbeitslosigkeit
durch massive und schnelle Arbeitszeitverkuerzung abgebaut werden kann,
neue Bahn bricht. Dass eine solche Stroemung wieder an die Oeffentlichkeit
draengt, erschuettert das neoliberale Konzept in seinem Kern und treibt
die Unternehmer deshalb in Rage.

Arbeitszeitverkuerzung ist eine Konfliktstrategie. Das lehren 150 Jahre
Geschichte der Arbeiterbewegung. Dieser Konflikt steht heute im Zentrum
des Klassenkampfs.