Nr.2/1998
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IG Metall und Flaechentarif
Konzessionen und mangelnde Demokratie

Auf der juengsten Tarifkonferenz der IG Metall zum Flaechentarifvertrag
hat schon das Wort "Reform" Proteste ausgeloest. Der Muenchener
Bezirksleiter Neugebauer hat es auf den Punkt gebracht: Wenn die
Kolleginnen und Kollegen "Reform" hoeren, halten sie ihren Geldbeutel
fest, weil sie danach immer einen Fuenfziger oder Hunderter weniger haben.
Die Erfahrung der letzten Jahre in den Betrieben ist die, dass Aenderungen
am Tarifsystem immer auch mit mehr Leistung und Geldverlust verbunden
waren. Zugleich nehmen sich Unternehmerverbaende und Betriebe immer oefter
das "Recht", Tarifvertraege offen zu brechen, Tarifvereinbarungen zu
unterlaufen oder schleichend von innen auszuhoehlen.

In einem Sonderheft der IG Metall ("direkt") im vergangenen Jahr hiess es
auf Seite 1: Ende November 1997 wird die IG Metall mit der Konferenz
"Tarifautonomie oder Flaechentarifvertrag" den Kurs fuers naechste
Jahrzehnt bestimmen. Die Konferenz fand in Darmstadt statt. 450 Personen
nahmen teil, darunter auch der ehemalige Vorsitzende der IG Metall, Franz
Steinkuehler.

Kann eine tarifpolitische Konferenz bestimmen, wie die Tarifpolitik im
naechsten Jahrzehnt auszusehen hat? Die Diskussion ueber die Zukunft der
Lohnpolitik gehoert in die Tarifkommissionen der Bezirke und auf die
Gewerkschaftstage! Ausserdem darf die betriebliche Basis nicht von der
Diskussion ausgeschlossen werden, wie es die IG Metall in letzter Zeit
mehrfach getan hat.

Nach der Konferenz im November 1997 wurde beschlossen in zwei
Pilotbezirken, Baden-Wuerttemberg und Nordrhein-Westfalen, mit
Verhandlungen ueber die Reform des Flaechentarifvertrags zu beginnen. In
NRW finden die ersten Gespraeche am 16.Januar statt.

Die staendigen Forderungen nach Senkung der Lohnnebenkosten, das Gerede
von der Flexibilisierung der Arbeitszeit und die hinzugekommenen
Diskussionen ueber eine "Reform" des Flaechentarifvertrags haben die
Belegschaften in hohem Masse verunsichert. Dabei verdienen die grossen
Konzerne wieder praechtig, vor allem, weil sie Hunderttausende entlassen
haben. Der Produktivitaetsanstieg ist gigantisch, die Belegschaften
schrumpfen weiter. Der Personalabbau trifft nicht nur Krisenbetriebe,
sondern auch solche, die fette Gewinne machen. Die Aktienkurse steigen,
wenn eine Unternehmensleitung massiven Arbeitsplatzabbau anordnet. Die
Tarifabschluesse lagen 1997 ueberwiegend bei mageren 1,3 bis 1,5 Prozent
und blieben damit deutlich hinter dem gesamtgesellschaftlichen
Produktivitaetszuwachs zurueck.

"Flaechentarifvertrag" ist ein Begriff, der bis vor kurzem in der
Oeffentlichkeit kaum eine Rolle spielte. Glaubt man der Meinungsmache,
dann koennte die "Reform" des Flaechentarifs allerlei wirtschaftliche und
soziale Probleme loesen, gar die Massenerwerbslosigkeit bekaempfen.
Dahinter verbergen sich aber handfeste materielle Interessen der
Kapitalseite.

Der 2.Vorsitzende der IG Metall, Walter Riester, will mit "modernen
Tarifvertraegen" den Unternehmern entgegenkommen und damit Arbeitsplaetze
retten. Riester gilt als Anhaenger flexibler Loesungen, die den
Handlungsspielraum der Betriebe und angeblich auch den der "Mitarbeiter"
ausweiten sollen. Diese Position wird auch von einem Teil der
hauptamtlichen Funktionaere auf Bezirksebene vertreten. Dafuer gibt es
Gruende: In vielen kleineren und mittleren Unternehmen werden die
Tarifvertraege nicht mehr eingehalten; oft kommt es in ihnen zum offenen
Tarifbruch; Austritte aus dem Unternehmerverband und Ausgliederungen von
Unternehmensteilen ebnen haeufig den Weg dafuer. Der geltende Tarifvertrag
verkommt so immer mehr zur Fassade. Auf betrieblicher Ebene sind die
Betriebsraete zugleich erheblichem Druck ausgesetzt.

Teile des hauptamtlichen Apparats wollen daher Zugestaendnisse etwa durch
Oeffnungsklauseln und Arbeitszeitkorridore machen, um
Flaechentarifvertraege fuer die Kapitalseite annehmbar zu gestalten und so
die offene wie die versteckte Tarifflucht zu bremsen. Das ist
verstaendlich, aber sicherlich der falsche Weg. Wenn es schon die
Gewerkschaften nicht schaffen, die Schutzfunktion kollektiver
Vereinbarungen fuer die abhaengig Beschaeftigten durchzusetzen, dann
werden die Betriebsraete in aller Regel noch viel weniger dazu in der Lage
sein. Den Flaechentarifvertrag kann man nicht dadurch retten, dass man ihn
bis zur Unwirksamkeit aushoehlt. Die vielfaeltigen Angriffe der letzten
Jahre haben eine Intensitaet erreicht, die ernsthafte Sorge um die Zukunft
des gesamten Tarifsystems rechtfertigt.

Der Vorsitzende der IG Metall, Klaus Zwickel, fordert hingegen die
Einfuehrung der 32-Stunden-Woche, wie er auf dem Berliner DGB-
Beschaeftigungsgipfel im April 1997 verkuendet hat. Dieser Vorstoss war
weder mit den Gremien der IG Metall noch denjenigen des DGB abgesprochen.
Zwickels Position ist auch in der IG Metall heftig umstritten. Der NRW-
Bezirksleiter der IG Metall, Harald Schartau, hat oeffentlich dagegen
Stellung genommen und schliesst nicht aus, dass die Organisation Klaus
Zwickels Vorschlag ablehnen koennte. Schartau aeussert sich seit laengerem
skeptisch zu einer weiteren allgemeinen Arbeitszeitverkuerzung und
unterstuetzt Riesters Position zum Flaechentarif.

Riesters tarifpolitische Abteilung hat innerhalb der Organisation eine
Arbeitsunterlage und Materialien zur Diskussion ueber "Den
Flaechentarifvertrag gestalten" verschickt. In dem Reader finden sich
Reden und Zeitungsartikel der Herren Professoren Kittner und Zachert,
Reden der DGB-Tarifexperten Bispink und Bahnmueller sowie Zeitungsartikel
des BDI-Praesidenten Henkel und des Praesidenten des Verbands Deutscher
Maschinen- und Anlagenbauer, Michael Rogowski. Ausserdem Artikel von Graf
Lambsdorff und dem stellvertretenden Vorsitzenden der Bundestagsfraktion
der CDU/CSU, Rupert Scholz. Henkel klagt ueber die Macht der
Gewerkschaften. Rogowski befuerwortet die 50-Stunden-Woche und etliche
Nullrunden in Sachen Lohn. Aehnlich die Vorstellungen der anderen
Nichtmitglieder, die da organisationsintern zu Wort kommen.

Aufgrund der Tagung der IG Metall NRW zum Thema "Die Zukunft des
Flaechentarifvertrags" vom April 1997 wurden ebenfalls umfangreiche
Materialien verschickt -- ueber 100 Seiten liegen dazu auf dem Tisch. Sie
sind so geschrieben, dass die Mehrzahl der beitragszahlenden Mitglieder
sie nicht verstehen kann -- gedacht sind sie offenbar nur fuer
Tarifexperten, Arbeitsrechtler und Betriebsratsfuersten. Die Darmstaedter
Konferenz forderte die Mobilisierung der betroffenen Basis. Das
vorliegende Material zu Altersteilzeit, zu einem Tarifvertrag fuer
Erwerbsarbeitslose, zu flexibler Arbeitszeit wird das nicht leisten. Im
Gegenteil, falls es doch jemand lesen sollte, wird nur die Angst vor
"Reformen" wachsen.

Die Tarifvertraege ueber die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurden mit
Abstrichen beim Weihnachtsgeld und z.T. auch beim Urlaubsgeld bezahlt. In
Darmstadt wurde Walter Riester dafuer scharf kritisiert. Vorwuerfe gab es
auch wegen des Altersteilzeitvertrags. Er sei schlampig gerechnet und fuer
Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte bis zum 62.Lebensjahr seien nur
freiwillige Betriebsvereinbarungen vorgesehen. Kein Wunder, so hiess es,
wenn Gesamtmetall dieses Machwerk zum Modell fuer den Flaechentarifvertrag
der Zukunft hochjubelt.

Die Diskussion um das Tarifvertragssystem wie ueber einen moeglichen
Abschluss 1998 darf nicht beendet sein, sie steht noch bevor. Wir duerfen
nicht zulassen, dass der Flaechentarifvertrag auf Mindestbedingungen
zurechtgestutzt wird. Und wenn es um Arbeitszeitkorridore zwischen 30 und
40 Stunden geht, die zwischen Betriebsleitungen und Betriebsraeten
ausgehandelt werden sollen, dann muss die Organisation anprangern, wie
Betriebsraete heute in den Unternehmen erpresst werden.

Was sich in den Betrieben wirklich abspielt, ist oeffentlich kaum bekannt.
Es gibt eine Menge negativer Erfahrungen. Die IG Metall ist dem Tarifbruch
nicht entschieden genug entgegengetreten:

-- Im April 1997 nahm eine Arbeitsgruppe von Betriebsraeten in
Mittelhessen 24 Flexivereinbarungen aus der Region unter die Lupe. Fast
alle waren auf Betreiben der Unternehmer zustandegekommen und enthielten
keine Klauseln zur Beschaeftigungssicherung. Fazit der Betriebsraete: Was
frueher Ueberstunden genannt wurde, heisst heute Zeitguthaben.

-- Zwei Wissenschaftler des Instituts fuer Arbeit und Technik in
Gelsenkirchen haben nachgewiesen, dass flexible Arbeitszeitmodelle
zugleich "Rationalisierungsinstrumente" sind, die immer auch Stellenabbau
mit sich bringen.

-- Christiane Lindeck und Steffen Lehndorf haben 109
Betriebsvereinbarungen aus Industrie und Dienstleistungsbetrieben
untersucht. Flexible Arbeitszeiten dienen, so fanden sie heraus, den
Firmen vor allem dazu, ihre Wettbewerbssituation zu verbessern und die
Arbeitszeiten an die schwankende Auftragslage anzupassen. Der Betrieb
spart so das Personal, das er sonst fuer Auftragsspitzen vorhalten
muesste. Selten enthalten Betriebsvereinbarungen Regelungen, die den
Anspruch Arbeitsplaetze zu schaffen, praktisch umzusetzen erlauben. Nur in
25 Prozent der Betriebe koennen die Betriebsraete kontrollieren, was mit
den Zeitguthaben geschieht. Nur drei (!) Betriebsvereinbarungen
verpflichten das Unternehmen zu Verhandlungen ueber Neueinstellungen, wenn
die Zeitguthaben ueber lange Zeit dicke Guthaben ausweisen. Je weniger
Betriebsvereinbarungen regeln, so Lindeck und Lehndorf, desto groesser ist
die Gefahr, dass flexible Arbeitszeiten zu Jobkillern werden.

Kann es die Aufgabe einer Gewerkschaft sein, ihren Mitgliedern zu
erklaeren, warum sie auf Einkommen verzichten sollen? Genau das macht
Harald Schartau in NRW. Er fordert die Koppelung von
Einkommensbestandteilen an Betriebsergebnisse. Fuer die Beschaeftigten in
den Metallbetrieben in NRW ist die Position des Bezirksleiters Schartau
nicht mehr verstaendlich. Staendig vetritt er oeffentlich Dinge, die weder
mit der Organisation noch mit der grossen Tarifkommission abgesprochen
sind.

Am 13.Februar 1997 meldete die WAZ, die IG Metall und der Verband
Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer wollten ein Buendnis fuer
Innovationen in NRW schmieden. Der Arbeitsplatzabbau der mit 250.000
Beschaeftigten in NRW wichtigsten Branche solle mit Hilfe des Landes
gestoppt werden. Laut Harald Schartau sei die IG Metall zu weitreichenden
Tarifregelungen bereit. Im Oktober meldet die WAZ auf der Titelseite, die
IG Metall werbe (das ist fuer die Organisation eine Premiere in
Deutschland) mit einem neuen Tarifpaket -- mit massgeschneiderten
Tarifangeboten fuer Investoren aus dem In- und Ausland. Bestandteile davon
sind Arbeitsorganisation, Arbeitszeit, Einkommenshoehe und
Einarbeitungsfragen.

Harald Schartau verweist auf bisherige "Erfolge" an Rhein und Ruhr. Bei
den Vereinigten Schmiedewerken, bei Krupp, Thyssen und Kloeckner habe die
IG Metall per Tarifvertrag der Aussetzung von Weihnachtsgeld zugestimmt.
Damit sei einer "Jobkatastrophe" zuvorgekommen worden. Bei der deutschen
Babcock sei eine "mustergueltige" Konzernvereinbarung abgeschlossen
worden, um ein Sanierungskonzept mit Beteiligung der Beschaeftigten zu
sichern. Sobald 1997 keine uebertariflichen Lohnbestandteile mehr
existieren, sind demnach auch Eingriffe ins tarifliche Urlaubsgeld
erlaubt.

Auch beim KHD-Konzern habe die IG Metall Opfer der Belegschaft rechtlich
mitgetragen. Lohnverzicht gab es auch fuer die 3400 Beschaeftigten der KWU
in Muelheim.

Bei den Lohnturbulenzen geht es nicht um ein paar Mark, sondern oft um das
Eingemachte. Klassisches Beispiel dafuer ist Opel Bochum. Dort legten 3000
Beschaeftigte in der ersten Juliwoche die Arbeit fuer zwei Tage nieder,
weil die Geschaeftsleitung eine Betriebsvereinbarung zum Praemienlohn
gekuendigt hatte. Laut dem Betriebsratsvorsitzenden Peter Jaszczyk waeren
damit 10 DM pro Stunde verloren gegangen!

Nach der eingeschlagenen Marschrichtung versucht die IG Metall, die
Unternehmer durch "intelligentes Nachgeben" von der Flucht aus der
Tarifbindung abzuhalten. Niederlagen und Verluste der Beschaeftigten
scheinen dabei einkalkuliert zu sein. Auf dem letzten Gewerkschaftstag gab
es aber keinen einzigen Antrag -- geschweige denn einen Beschluss --, der
ein Abweichen vom bisherigen prinzipiellen Standpunkt zum
Flaechentarifvertrag zuliesse. Trotzdem stehen erkaempfte Positionen der
Gewerkschaft aus der Nachkriegsgeschichte offenbar zur Disposition. Ohne
nennenswerten Widerstand geben die Gewerkschaften soziale und
tarifpolitische Errungenschaften auf.

Eine demokratische innergewerkschaftliche Meinungsbildung findet nicht
mehr statt, wenn einerseits Beschluesse nicht mehr fuer die Fuehrung
gelten und andererseits die Vorschlaege der Fuehrung an der Basis nicht
mehr verstanden werden.

Willi Scherer