Nr.1/1998
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Einer Idee wird der Prozess gemacht
Das "Schwarzbuch des Kommunismus": ein ideologisches Machwerk
von Daniel Bensaid

Im Jahr 1995, sechs Jahre nach dem Fall der Mauer, verfasste der
franzoesische Historiker Franìois Furet einen dicken Schinken, den er
als Grabstein fuer den verstorbenen Kommunismus verstanden wissen
wollte: "Die Vergangenheit einer Illusion. Essay ueber die
kommunistische Idee im 20.Jahrhundert". 1997 veroeffentlichte eine
Gruppe von Historikern unter der Leitung von Stephane Courtois ein
noch monumentaleres Werk, das "Schwarzbuch des Kommunismus.
Verbrechen, Terror, Repression". 800 Seiten, um die weltweiten
Verbrechen des "Kommunismus" aufzulisten und die Leichen zu zaehlen,
mit denen seine Geschichte gepflastert ist. Diesmal musste der
Kommunismus wieder ausgegraben werden, um ihn noch einmal zu richten.
Aus Angst, er koenne immer noch als Gespenst umgehen... Der
Nationalsozialismus hat sein Nuernberg gehabt. "Wann kommt endlich das
Nuernberger Tribunal des Kommunismus?", fragen die Historiker und
Autoren des Buchs, die sich zu Richtern der Geschichte aufgeschwungen
haben und deren Urteil schon feststeht: Der Kommunismus, untrennbar
mit dem Stalinismus verbunden, war mindestens so kriminell wie der
Nationalsozialismus. Dabei werden Orientierungspunkte verwischt,
Ueberzeugungen aus der Fassung gebracht und ein Geschichtsbild
entworfen, wonach das 20.Jahrhundert nicht mehr als eine Ansammlung
von Leichen, die Okterberrevolution ein fuerchterlicher Irrweg und
das kommunistische Ideal ein verhaengnisvolles Ungeheuer gewesen sei.
Damit Geschichte sich nicht allein auf Repression reduziert, die
Vernunft nicht unter der Raserei begraben wird und Opfer und Taeter
nicht verwechselt werden, muss vor allem die Oktoberrevolution
studiert werden, damit daraus Lehren fuer die Zukunft gezogen werden
koennen. Ein Ereignis, das viel zu bedeutend war, als dass es von ein
paar Historikern, selbsternannten Inquisitoren, eingestampft werden
koennte. Aus einer Broschuere mit dem Titel "Kommunismus und
Stalinismus", die in Frankreich als Beilage zu "Rouge", der
Wochenzeitung der franzÜsischen Sektion der IV.Internationale.
erschienen ist, veroeffentlichen wir hier den ersten Teil.*


Im Jahre 1798, inmitten einer Periode der Reaktion, schrieb Immanuel
Kant ueber die Franzoesische Revolution, ein solches Ereignis werde,
trotz Niederlagen und Rueckschlaege, nicht in Vergessenheit geraten.
Denn die zerrissene Zeit habe auch fluechtig den Blick auf das
Versprechen einer Befreiung der Menschheit freigegeben. Kant hatte
recht. Unser Problem heute ist herauszufinden, ob das grosse
Versprechen, das mit dem Namen der Oktoberrevolution verbunden ist,
dieses Ereignis, das die Welt erschuetterte und als Licht aus der
Finsternis emporstieg zum Zeitpunkt des ersten weltweiten
Abschlachtens der Menschheit, ebenfalls "dem Gedaechtnis der Voelker
anheimgegeben" werden kann. Es geht darum, Erinnerungsarbeit zu
leisten und um dieses Gedaechtnis zu kaempfen.

Der 80.Jahrestag der Oktoberrevolution waere fast unbemerkt
voruebergegangen. Dem Schwarzbuch des Kommunismus kommt zumindest das
Verdienst zu, die "Frage des Oktober", eine jener grossen
Streitfragen, ueber die man sich nie einigen wird, erneut aufs Tapet
gebracht zu haben. Das Ziel der Operation, vom Projektleiter Stephane
Courtois klar verkuendet, ist dabei, eine strikte Kontinuitaet,
vollendete Kohaerenz zwischen Kommunismus und Stalinismus, zwischen
Lenin und Stalin, dem Leuchtfeuer der beginnenden Revolution und der
eisigen Daemmerung des Gulag herzustellen: "Stalinist und Kommunist,
das ist dasselbe", schreibt er am 9.11. im "Journal de Dimanche". Es
ist unerlaesslich, die Frage zu beantworten, die der grosse
sowjetische Historiker Michail Guefter aufgeworfen hat: "Diesen
Knoten gilt es zu loesen: Ist der Gang der Ereignisse tatsaechlich
ein Kontinuum, oder handelt es sich um zwei Ereignisstraenge, die eng
miteinander verschlungen sind, aber trotz allem auf verschiedene
Ursachen verweisen, auf zwei verschiedene politische und moralische
Welten?" ("Stalin ist gestern gestorben", "L'Homme et la societe",
Nr.2/3, 1988.) Eine zentrale Frage, von der sowohl die Faehigkeit
abhaengt, das zu Ende gehende Jahrhundert zu verstehen, wie auch
unsere Handlungslinien in dem aufgewuehlten Zeitalter, das vor uns
liegt. Wenn der Stalinismus -- wie viele behaupten -- nicht mehr
gewesen ist als eine einfache "Abweichung" von oder "eine tragische
Fortsetzung" der kommunistischen Idee, dann muessten daraus andere,
radikalere Schlussfolgerung hinsichtlich dieser Idee selbst gezogen
werden.

Das Gespenst geht wieder um

Das ist es auch, worauf die Autoren des Schwarzbuchs hinaus wollen.
Zunaechst verwundert an ihnen der anachronistische Ton des Kalten
Kriegers, den Stephane Courtois und einige in der Presse erschienene
Artikel anschlagen. Waehrend der Kapitalismus, der schamhaft in
"marktwirtschaftliche Demokratie" umgetauft wird, sich nach dem
Zerfall der Sowjetunion gern als Gesellschaftsordnung ohne
Alternative und absoluter Sieger am Ende dieses Jahrhunderts
darstellt, enthuellt die Verbissenheit der Autoren in Wirklichkeit
eine grosse verdraengte Angst: die Angst, es koennten die
Verderbheiten und Plagen des uebriggebliebenen Systems umso greller
hervortreten, als es mit seinem buerokratischen Double auch sein
bestes Alibi verloren hat. Es kommt also darauf an, vorsorglich alles
zu verteufeln, was auf eine moegliche andere Zukunft verweist. Denn
jetzt, wo die stalinistische Faelschung untergegangen ist, wo die
kommunistische Idee nicht laenger buerokratisch usurpiert werden kann,
kann letztere erneut als Richtschnur dienen, als Gespenst umgehen...
Wieviele gluehende alte Stalinisten haben aufgehoert, Kommunisten zu
sein, weil sie zwischen Stalinismus und Kommunismus nicht zu
unterscheiden vermochten, und haben sich mit dem Feuereifer von
Konvertiten der liberalen Sache angeschlossen? Stalinismus und
Kommunismus sind nicht nur zwei verschiedene, sondern auch zwei
gegensaetzliche Dinge. Dies in Erinnerung zu rufen, ist nicht die
geringste Aufgabe, die wir den zahlreichen kommunistischen Opfern des
Stalinismus schulden. Der Stalinismus ist nicht eine Variante des
Kommunismus, sondern die Bezeichnung fuer die buerokratische
Konterrevolution. Dass aufrichtige Kaempfer gegen den
Nationalsozialismus oder gegen die Folgen der weltweiten Krise
zwischen den beiden grossen Kriegen davon nicht immer ein Bewusstsein
hatten und ihre manchmal zweifelnden, zerrissenen Existenzen weiter
in den Dienst der Sache stellten, aendert daran nichts. Es handelte
sich trotzdem um "zwei verschiedene und unversoehnliche politische und
moralische Welten". Diese Antwort ist der von Stephane Courtois
entgegengesetzt.

Geschichte auf Zahlen reduziert

Courtois wehrt sich manchmal dagegen, er habe ein Nuernberg des
Kommunismus gefordert, wahrscheinlich weil diese Forderung gern von
Jean- Marie Le Pen vorgetragen wird und ihn dies stoert. Aber das
Schwarzbuch macht nicht nur keinen Unterschied zwischen
Nationalsozialismus und Kommunismus, es banalisiert den
Nationalsozialismus, indem es einen angeblich strikt "objektiven"
Vergleichsmassstab einfuehrt, die Zahl der Opfer, und diese angeblich
zugunsten des ersteren spricht: 25 Millionen Tote gegen 100
Millionen, 20 Jahre Terror gegen 60 Jahre. Der erste Buchumschlag
kuendigte noch reisserisch 100 Millionen Tote an. In seiner
Aufzaehlung kommt Stephane Courtois auf 85 Millionen. Auf 15
Millionen mehr oder weniger soll es nicht ankommen. Die Zaehlmethode
ist aeusserst fragwuerdig. Diese makabre Grossistenrechnung, die
Laender, Epochen, Ursachen und Lager ohne Unterschied
durcheinanderwirft, hat etwas Zynisches und zutiefst
Verachtungsvolles gegenueber den tatsaechlichen Opfern. Fuer die
Sowjetunion kommt die Rechnung auf 20 Millionen Opfer, ohne dass
gesagt wird, wer genau dazu gezaehlt wird. In dem Artikel, den Nicolas
Werth zum Schwarzbuch dazugesteuert hat (mit 300 Seiten ein Buch im
Buch!), werden die annaehernden Schaetzwerte eher nach unten
korrigiert. Er schreibt, dass Historiker heute, auf der Grundlage von
genauem Archivmaterial, die Zahl der Opfer der grossen Saeuberungen
der Jahre 1936 bis 1938 mit 690.000 angeben. Das ist schon enorm und
muss nicht zusaetzlich aufgeblaeht werden. Er schaetzt ausserdem die
Zahl der Haeftlinge im Gulag auf durchschnittlich 2 Millionen pro
Jahr -- davon konnte ein groesserer Teil befreit werden, als bisher
angenommen wurde. Um auf 20 Millionen zu kommen, muss er also zu den
Opfern der Saeuberungen und des Gulags auch die der beiden grossen
Hungersnoete (5 Millionen 1921/ 22 und 6 Millionen 1932/33) und die
des Buergerkriegs dazuzaehlen, kann aber nicht beweisen, dass es sich
hierbei um "Opfer des Kommunismus" handelte, also um eine
kaltbluetige Vernichtung. Bei dieser Methode ist es nicht schwer, ein
"Rotbuch der Verbrechen des Kapitalismus" zu verfassen, das die Opfer
der Pluenderungen und Voelkermorde in den Kolonien, der Weltkriege,
die Opfer von Arbeitsunfaellen, Epidemien und Hungersnoeten
zusammenzaehlt -- und nicht nur die von gestern, sondern auch die von
heute. Allein fuer das 20.Jahrhundert kaeme man dabei ohne
Schwierigkeiten auf mehrere hundert Millionen Opfer. Im zweiten Teil
ihrer allzu oft in Vergessenheit geratenen Trilogie erblickte Hannah
Arendt im modernen Imperialismus den Praegestempel des Totalitarismus
und in den Konzentrationslagern der Kolonialzeit in Afrika das
Vorspiel zu ganz anderen Lagern ("Der Ursprung des Totalitarismus",
Bd.2: Der Imperialismus). Wenn es nicht mehr darum geht, sich mit
einem konkreten Regime, einer Periode oder konkreten Konflikten
auseinanderzusetzen, sondern eine Idee abzustempeln, wieviel Tote
haben dann, im Lauf der Jahrhunderte, das Christentum und seine
Evangelien, oder der Liberalismus und seine Laissez- faire-Ideologie
auf dem Gewissen? Selbst wenn man die fantastischen Rechnungen
akzeptieren wollte, die Stephane Courtois anstellt, haette der
Kapitalismus waehrend der beiden Weltkriege in diesem Jahrhundert in
Russland erheblich mehr als 20 Millionen Tote verursacht.

Spurenverwischung

Die Verbrechen des Stalinismus sind schrecklich genug, gross genug,
als dass man noch welche dazu erfinden muss. Es sei denn, man will
bewusst geschichtliche Spuren verwischen, wie man es auch schon
anlaesslich des 200.Jahrestags der Franzoesischen Revolution versucht
hat, als gewisse Historiker die Revolution gern nicht nur fuer den
Terror oder die Vendee, sondern auch fuer die Toten des weissen
Terrors, des Krieges gegen die Interventionsmaechte oder gar fuer die
Opfer der napoleonischen Kriege verantwortlich machten! Vergleiche
zwischen dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus sind legitim und
manchmal nuetzlich, das ist nicht neu. Aber Vergleiche sind keine
Argumente, und auf die Unterschiede kommt es dabei ebenso an wie auf
die Aehnlichkeiten. Das nazistische Regime hat sein Programm erfuellt
und seine unheilvollen Versprechen gehalten. Das stalinistische
Regime hat sich gegen das Emanzipationsprojekt des Kommunismus
durchgesetzt. Es musste dafuer seine Anhaenger brechen. Wieviele
Dissidenten und Oppositionelle zwischen den beiden Kriegen legen
Zeugnis ab fuer diese tragische Beugung? Selbstmoerder wie
Majakowski, Joffe, Tucholsky, Benjamin und viele andere? Lassen sich
solche Gewissenskonflikte wegen eines verratenen und entstellten
Ideals bei den Nazis finden? Hitlerdeutschland musste nicht wie
Stalins Russland in ein "Land der grossen Luege" verwandelt werden;
die Nazis waren stolz auf ihr Werk, aber die stalinistischen
Buerokraten konnten nicht in den Spiegel des urspruenglichen
Kommunismus schauen. Wenn die konkrete Geschichte auf diese Weise in
Raum und Zeit aufgeloest und bewusst durch die Wahl einer bestimmten
Methode entpolitisiert wird (Nicolas Werth fordert ganz offen, die
"politische Geschichte in die zweite Reihe zu verbannen", um dem
roten Faden einer aus dem Zusammenhang gerissenen und allein auf die
Repression reduzierten Geschichte besser folgen zu koennen), bleibt
nur noch ein Schattentheater uebrig. Dann gilt der Prozess nicht mehr
einem Regime, einer Epoche oder konkreten Taetern, sondern einer
Idee: die Idee, die toetet. Einige Journalisten haben diesen Faden
begeistert weiter gesponnen. Jacques Amalric z.B. (langjaehriger
Mitarbeiter von "Le Monde") schreibt von der "Realitaet, die von
einer totbringenden Utopie geboren wurde" ("Liberation", 6.11.).
Philippe Cusin erfindet ein konzeptionelles Erbgut: "In den Genen des
Kommunismus ist es eingeschrieben: es ist natuerlich zu toeten" ("Le
Figaro", 5.11.). Wann wird die Euthanasie gegen das Gen des
Verbrechens gefordert? Wer nicht den Tatsachen, konkreten Verbrechen,
sondern einer Idee den Prozess machen will, schafft unweigerlich die
Kollektivschuld und das Meinungsdelikt. Laut Courtois ist das
Tribunal der Geschichte nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit
wirksam. Es wirkt in gefaehrlicher Weise auch vorbeugend, wenn er
feststellt, dass "die Trauerarbeit bezogen auf die Idee der
Revolution noch lange nicht vollendet ist", und sich darueber
empoert, dass "offen revolutionaere Gruppen aktiv sind und sich ganz
legal aeussern koennen"! Reue ist derzeit modern. Dass die Herren
Furet, Le Roy Laduric oder Courtois oder auch Madame Kriegel mit
ihrer Trauerarbeit niemals zu Ende gekommen sind, dass sie als
gewendete Stalinisten ihr schlechtes Gewissen wie eine schwere Kugel
hinter sich herschleppen, dass ihre Busse in der Rache kocht, ist
ihre Sache. Aber diejenigen, die Kommunisten geblieben sind, ohne
jemals den kleinen Vater der Voelker gefeiert oder das kleine rote
Buch des grossen Steuermanns heruntergebetet zu haben, was sollen die
denn bereuen? Sicher haben sie sich manches Mal geirrt. Aber schaut
man sich den Lauf der Dinge an, haben sie sich mit Sicherheit weder
in der Sache noch im Gegner geirrt. Um die Tragoedien des ausgehenden
Jahrhunderts zu begreifen und daraus nuetzliche Lehren fuer die
Zukunft zu ziehen, muss man den Boden der Ideologie und seine
Schatten verlassen und in die Tiefen der Geschichte hinabsteigen, um
die politischen Konflikte und die sich daraus ergebenden
verschiedenen Entscheidungsmoeglichkeiten nachzuvollziehen.

*Daniel Bensaid, Communisme et stalinisme. Une Reponse au Livre noir
du communisme (Supplement a Rouge ní1755, hebdomadaire de la Ligue
Communiste Revolutionnaire).