Nr.1/1998
i

IWF pleite?
Asiens Finanzkrise und die Versuche, sie einzugrenzen

von Winfried Wolf/Angela Klein

Drei Ereignisse in der Woche vor Weihnachten warfen erneut grelle
Schlaglichter auf die Labilitaet des internationalen Finanzsektors und
unterstrichen die grosse Gefahr, die fuer die Weltwirtschaft besteht.
Die Orte der Geschehens waren Washington D.C., Tokyo und Seoul
.

Mittwoch, 17.Dezember, Washington DC

Exakt eine Woche vor Heiligabend betrat unangemeldet der Chef der US-
Notenbank das Allerheiligste der Weltmacht Nr.1, den Capitol Hill. In
Alan Greenspans Gefolge befanden sich Robert Rubin, der
US-Finanzminister, und William Colzen, der US-Verteidigungsminister.
Das Meeting, in das die drei "wie eine Kohorte" (Financial Times)
einbrachen, war eine Versammlung einflussreicher Fuehrer der
Republikanischen Partei. Greenspan trug dort eine "sehr offene
Beschreibung" des "bemitleidenswerten Zustands der internationalen
Finanzmaerkte in Folge der asiatischen Waehrungskrisen vor.
Insbesondere forderte er die Republikaner auf, ihren Widerstand gegen
eine Aufstockung der finanziellen Ausstattung des Internationalen
Waehrungsfonds (IWF) aufzugeben. Nur der IWF koenne die gegenwaertige
Krise in Asien bewaeltigen; doch dafuer seien auch die IWF-Mittel
nicht mehr ausreichend. Kurzfristig sollen die USA dem IWF 18
Milliarden US- Dollar zuschiessen. Zwei Tage zuvor hatte IWF-Chef
Michel Camdessus von mehr als dem Zehnfachen, von 200 Milliarden
US-Dollar, gesprochen, die der IWF benoetigen wuerde, um seinen
Aufgaben gerecht zu werden.

Die Financial Times bilanzierte Greenspans Auftritt mit den
dramatischen Worten: "Selbst wenn der IWF die gegenwaertige Krise
ueberlebt, koennte die Faehigkeit des Fonds, eine massgebliche Rolle
in zukuenftigen Krisen zu spielen, doch erheblich beschaedigt worden
sein, und zwar einerseits durch den Verlust an Glaubwuerdigkeit, den
er in der gegenwaertigen Krise erleidet, und zum anderen durch die
unzureichenden, verbleibenden Ressourcen, ueber die er nach der
Asien-Krise noch verfuegt."

18.Dezember, Tokyo, Kabuto Cho (Boerse)

Am Morgen dieses Tages praesentierte die japanische Regierung das lang
angekuendigte Programm zur Stabilisierung des japanischen
Bankensektors. Der Zusammenbruch dreier grosser Finanzinstitute im
November -- darunter mit Hokkaido Takushoku die zehntgroesste Bank
und mit Yamaichi der drittgroesste Boersenhaendler -- hatte Anlass zu
weltweiter Sorge gegeben. Doch obgleich die Tokyoter Regierung
Steuersenkungen und die Aufnahme von Anleihen versprach, die der
Stabilisierung des Finanzsektor dienen sollten, reagierte die Boerse
nur maessig positiv.

Elektrisiert wurden hingegen am nachmittag die Geruechte aufgesogen,
das Nahrungsmittel-Grosshandelsunternehmen Toshoku stehe vor der
Pleite, weswegen dessen Hausbank, die Grossbank Sakura, umgerechnet
1,7 Milliarden Mark an faulen Krediten abzuschreiben habe. Tags
darauf, als die Meldung bestaetigt war, kam es am Kabuto Cho zum
drittgroessten Einbruch des Jahres (--5,2%) -- und zum
zweitniedrigsten Stand des Aktienindexes Nikkei (15315).

Erneut strahlte das Tokyoter Beben auf alle internationalen Boersen
aus: Hongkong --3,2%; Sydney --1,4%; Sïo Paulo --4,3%. Der bankrott
gegangene Lebensmittelgrosshaendler, den ausserhalb Japans bis dahin
kaum jemand gekannt hatte, ging posthum in die Boersianersprache mit
dem Zungenbrecher Toshoku shock ein.

Freitag, 19.Dezember, Seouler Satellitenvorstadt Ilsan

Zehntausende Menschen waren "Kim Dae-Jung" skandierend bereits in der
Nacht vor die Backsteinvilla des neu gewaehlten Praesidenten gezogen.
Doch Kim wandte sich als erstes an die Journalisten; in frueher
Morgenstunde -- vor der Oeffnung der Boerse in Seoul -- gab er seine
erste Pressekonferenz. Der zentrale Satz lautete: "Meine Regierung
wird eng mit dem IWF zusammenarbeiten; ich respektiere das
ausgehandelte Abkommen."

Dabei wurde Kim auch deshalb ueberraschender Wahlsieger, weil er als
einziger aussichtsreicher Kandidat vor der Wahl "Neuverhandlungen"
ueber die rueden Massnahmen verlangt hatte, mit denen der IWF seinen
5,5- Milliarden-Dollar-Kredit fuer Suedkorea verbunden hatte. Doch so
ehrlich Kims Kapitulation vor dem IWF gemeint sein duerfte -- der
"Markt" faellte ein anderes Urteil. Die Kurse an der Seouler Boerse
brachen erneut auf breiter Front -- um 5% -- ein. In internationalen
Finanzkreisen wird davon ausgegangen, dass unter Kim die
Gewerkschaften die IWF-Auflagen mit Streiks beantworten werden.

Hinter der ersten Meldung verbirgt sich die eigentliche Sensation: Das
Geldvolumen, das die Flickschusterei fuer die Tigerstaaten vom IWF
abverlangt, uebersteigt dessen Finanzkraft -- das
Feuerwehr-Finanzinstitut IWF koennte selbst pleite gehen, wenn die
von der Krise noch nicht betroffenen Industriestaaten nicht Dutzende
Milliarden Dollar zuschiessen.

Die zweite Meldung besagt: Im zweitmaechtigsten Industrieland der Welt
setzt sich die Finanzkrise trotz des neuen Milliardenprogramms, mit
dem die Regierung die Banken stuetzen will, fort. Das wurde am
darauffolgenden Montag, dem 22.12., als der Nikkei sogar unter die
15.000-Punkte-Schranke sank, deutlich.

Die dritte Meldung bringt am deutlichsten die soziale Dimension der
Krise zum Ausdruck: Letzten Endes geht es nicht primaer um Geld, es
geht um Arbeitsplaetze und Lebensstandard. Mit den Auflagen des IWF
fuer Suedkorea ist -- vom IWF unwidersprochen -- ein Hochschnellen
der Arbeitslosigkeit im Land um eine Million verbunden.

In den ersten zwei Meldungen findet der klassische Zielkonflikt in
kapitalistischen Finanzkrisen seinen Ausdruck; zwei Lehrmeinungen
stehen sich gegenueber. Die Dialektik will es, dass jede recht und
unrecht hat.

Position 1 vertritt: Die Finanzkrise ist Ausdruck der vorausgegangenen
zu grosszuegigen Kreditvergabe. Fortgesetzte Kredite verschieben das
Problem und vergroessern das spaeter aufbrechende Konfliktpotential.
Bankrotte von Banken, wie sie in Japan erfolgen, bzw. Schliessungen,
wie vom IWF in Indonesien und Suedkorea durchgesetzt, wirken
"reinigend".

Position 2 besagt: Wenn wir jetzt keine neuen Kredite vergeben, wenn
die Kredite gar durch strengere Auflagen fuer die Banken eingeengt
werden, dann gibt es einen Schneeballeffekt, wo Banken Unternehmen
mitreissen -- und ein solcher Kladderadatsch koennte die
Weltwirtschaft in eine tiefe Krise mit nicht absehbaren Folgen
ziehen.

Wie so oft bei unaufloeslichen Widerspruechen wird von jeder Position
ein Teil umgesetzt. Das wird beim IWF selbst deutlich, der mit neuen
Krediten die Auslandsschuld der betreffenden Laender steigert, jedoch
gleichzeitig mit seinen Auflagen die innere Krise vorantreibt.
Dasselbe unternimmt jedoch auch Japans Regierung: deren neues
Konjunkturprogramm ist mit strengeren Auflagen fuer die Kreditvergabe
der Banken und fuer deren Bilanzierungspratiken verbunden. Wenn diese
1998 in Kraft treten, duerften eine Reihe von Banken und Brokern
Konkurs anmelden und die mit ihnen verbundenen Unternehmen in den
Ruin ziehen.

Vor allem droht der fortgesetzte Verfall der Aktienkurse, eine
Kettenreaktion auszuloesen. So stehen in den Bilanzen der grossen
japanischen Banken (und Konzerne) Aktienpakete auf der Passivaseite.
Damit haengt die Kreditvergabe u.a. von der Hoehe der Aktienkurse ab.
Eine aktuelle Rechnung vom Mitsubishi Research Institute lautet: Wenn
im Maerz 1998, am Ende des offiziellen Finanzjahres, der Nikkei-Index
unter 16.000 liegen sollte, muessten die Banken ihr Kreditvolumen um
umgerechnet 220 Milliarden Mark -- das entspricht 2,7% des
japanischen Bruttoinlandprodukts -- reduzieren. Das muesste eine
tiefe Krise ausloesen. Nun lag der Nikkei wiederholt unter 16.000, am
22.12. sogar bei 14.799 Punkten.

In den ersten Monaten der internationalen Finanzkrise wurde wiederholt
behauptet, die Vorgaenge bei Boersen und Banken seien mit
Nullsummenspielen gleichzusetzen; Auswirkungen auf die materielle
Produktion gebe es nicht. Diese Aussaqe ist bereits jetzt widerlegt.
Branchen, die eng mit Suedostasien verknuepft sind -- z.B.
australische Wolle, die in Suedkorea verarbeitet wird -- erleiden
bereits jetzt massive Einbrueche. Unternehmen, die in Suedostasien
grosse Auftraege in den Buechern stehen hatten -- wie ABB, Mannheim,
oder Voith, Heidenheim, reagieren mit Abbau der Belegschaft oder
Forderungen nach "mehr Flexibilisierung". Das Wachstum der
Weltwirtschaft wird nach IWF-Prognosen vom 21.12.1997 aufgrund der
Krise in Asien 1998 um 0,8% geringer ausfallen als vorhergesagt --
was umgerechnet 3--5 Millionen Jobs gleichkommt.

"Waehrend der letzten fuenf Monate wurden zig Milliarden Dollar an
Devisenreserven der Zentralbanken suedostasiatischer Laender
(Thailand, Indonesien, Malaysia, Philippinen) von Spekulanten
aufgesogen und auf private Finanzinstitute transferiert.
Investitionsbanken und Maklergesellschaften haben wissentlich den
Aktien- und Devisenmarkt manipuliert. Paradoxerweise sind es haeufig
dieselben westlichen Finanzinstitute, die erst die Barbestaende aus
den Zentralbanken der Entwicklungslaender abgezogen und dann
angeboten haben, den Waehrungshuetern Suedostasiens 'zu Hilfe zu
eilen'", schreibt Michel Chossudowsky, ein international fuer sein
Engagement fuer die Schuldenstreichung bekannter Professor fuer
Oekonomie an der Universitaet Ottawa in Le Monde Diplomatique
(12/97).

Seit der Ausserkraftsetzung des 1944 in Bretton Woods geschaffenen
Systems fester Wechselkurse im Jahr 1971 hat sich die internationale
Finanzwelt voellig umstrukturiert und dabei ein ungeheure Anhaeufung
privaten Reichtums beschleunigt. "Institutionelle Spekulanten" sind
als einflussreiche Akteure aufgetaucht, die taeglich einen groesseren
Umfang an Geldkapital bewegen, als Banken besitzen. "1995 war der
taegliche Devisenumsatz (1500 Mrd. Dollar) hoeher als die Summe der
Devisenreserven aller Zentralbanken weltweit. Mit anderen Worten: Der
Einfluss der 'institutionellen Spekulanten' auf die Devisenreserven
ist groesser als der der Emissionsbanken, die weder jede fuer sich
noch gemeinsam in der Lage sind, gegen die Spekulation vorzugehen."

Die Spekulationskrise in Asien bedeutet nach der Analyse von
Chossudowsky einen Angriff auf die Zentralbanken, mit dem die
Finanzkrise eine voellig neue Dimension gewinnt. Private Anleger
"wissen nicht nur, wie man Aktienkurse manipuliert; sie haben auch
gelernt, die Devisenreseven der Zentralbanken zu pluendern, und auf
diese Weise ganze Volkswirtschaften aus dem Lot gebracht".

Die im Verlauf der letzten Jahre in den Boersenhandel eingebauten
"Sicherungen" helfen im Ernstfall nicht mehr. Die Einzelstaaten
(Notenbanken) scheiden als lender of last resort mehr und mehr aus;
deren Rolle hat der Internationale Waehrungsfonds uebernommen. Aber
dessen Funktionieren haengt davon ab, dass die Mitgliedstaaten bereit
sind, das erforderliche Kapital bereitzustellen (das Executive Board
des IWF hat am 22.12. offiziell den Antrag gestellt, sein Kapital um
45% aufzustocken, das sind 287 Mrd. Dollar). Das passiert nur
solange, wie sie ein gemeinsames und gleich starkes Interesse haben,
die Krise abzuwenden.