Nr.16 onlineversion
Mitte Januar wurde ein Mordanschlag auf eine tuerkische Seminarteilnehmerin der Jugendbildungsstaette des DGB in Flecken Zechlin bei Neuruppin veruebt. Die Mittagspause waehrend des Seminars nutzten die SchuelerInnen fuer einen Besuch in der Kaufhalle in Flecken Zechlin. Auf dem Rueckweg begegneten ihnen drei 'Trabbis'. Der Fahrer des ersten Wagens raste auf einmal direkt auf eine junge tuerkische Frau zu. Sie blieb nur unverletzt, weil ein Mitschueler sie noch zur Seite reissen konnte.
Danach kam es vor der Bildungsstaette zu einer weiteren Begegnung, bei der
die Insassen der drei Autos die SchuelerInnen mit rassistischen und sexistischen
Spruechen anpoebelten.
Erst im Anschluss an diese Auseinandersetzung erfuhren die MitarbeiterInnen
der Bildungsstaette von der vorherigen Attacke und verstaendigten die Polizei.
Der 19jaehrige Fahrer, der versucht hatte die Schuelerin umzufahren, wurde kurz
darauf festgenommen. Er gestand sowohl die Tat als auch seine
auslaenderfeindliche Einstellung. Der Staatsanwalt berichtete auf einer
Pressekonferenz, dass der Beschuldigte nach eigenen Aussagen den Tod der jungen
Frau in Kauf genommen haette. Er wurde des versuchten Mordes angeklagt und in
Untersuchungshaft genommen. In Flecken Zechlin ist die Welt nicht mehr in
Ordnung, schrieb die Maerkische Allgemeine Zeitung, es herrsche Wut, Angst und
Fassungslosigkeit. Seit dem rassistisch motivierten Mordanschlag gab es im Ort
mehrere Treffen, an denen neben dem Bildungsstaettenleiter, dem Pfarrer, dem
Rektor, LehrerInnen und VertreterInnen der Amtsverwaltung auch Eltern und
Jugendliche teilnahmen. Dabei kam zutage, dass schon seit laengerem im Sommer
vom See her rechtsradikale Parolen zu hoeren waren - von Fremden. Allerdings
seit den letzten Monaten auch von den Jugendlichen aus Flecken Zechlin.
Erwachsene aeusserten selbstkritisch, dass sie versagt haetten. Den Jugendlichen
sei im Dorf zwar ein Raum zur Verfuegung gestellt worden, danach hatten sie
jedoch keine Unterstuetzung erfahren. In zwei Artikeln thematisieren wir die
Reaktionen sowohl der Gewerkschaftsgremien als auch der Bildungsstaette. Der
UEbergriff koennte Anlass fuer eine gemeinsame Diskussion von Moeglichkeiten und
Schwierigkeiten einer Bildungsstaette im Umgang mit rechten Jugendlichen sein.
Wie reagierten die Gewerkschaften?
Die Informationen ueber den rassistischen Mordanschlag an einer Seminarteilnehmerin der DGB-Bildungsstaette erhielten alle erst ueber die Presse, auch die Einzelgewerkschaften und Gremienmitglieder des DGB. Der Landesbezirksjugendausschuss (LBJA) konnte auf seiner regulaeren Sitzung, neun Tage nach dem Mordversuch, genauere Einzelheiten und die Reaktionen der Bildungsstaette zur Kenntnis nehmen. Im Verlauf einer kontroversen Diskussion ueber den Umgang mit dem Vorfall wurde beschlossen, dass:
- eine breite innergewerkschaftliche Diskussion initiiert werden soll und dafuer Artikel in den Zeitungen der Einzelgewerkschaften veroeffentlicht werden,
- ein Flugblatt der DGB-Jugend in Flecken-Zechlin verteilt werden soll,
- versucht werden soll, die EinwohnerInnen von Flecken-Zechlin fuer kuenftige Schutzmassnahmen, z.B. Telefonketten, zu gewinnen und zu pruefen, ob sie bereit waeren, eine solche Massnahme oeffentlich zu machen.
Diese Punkte sollten auf einem Initiativtreffen mit allen interessierten
GewerkschafterInnen diskutiert und konkretisiert werden.
Von diesem Initiativtreffen wurde berichtet, dass nichts davon angesprochen
wurde. Dies bestaetigt auch die schriftliche Einschaetzung des
Bildungsstaettenleiters gegenueber der Vorsitzenden des DGB-Berlin-Brandenburg:
"...Briefwurfsendungen, Kundgebungen oder dergleichen wurden nicht einmal
mehr diskutiert, statt dessen bewegte sich die Diskussion mehr im Rahmen der von
uns eingeleiteten Initiativen. ..."
Als einzige Einzelgewerkschaft meldete sich die HBV zu Wort. In einem
Schreiben an die Vorsitzende des DGB-Berlin-Brandenburg, Christiane Bretz,
kritisierte sie u.a. die fehlende Information an die Gewerkschaften, die
fehlende Einbeziehung in die Diskussion um den weiteren Umgang und die
ausbleibende oeffentliche Stellungnahme des DGB zu dem rassistischen Anschlag.
HBV verlangte darueber eine Diskussion auf der Sitzung des
Landesbezirksvorstands. Unseres Wissens fand diese auch statt, allerdings sind
wir nicht ueber deren Verlauf informiert.
Worueber nichts zu lesen ist...
Die Konflikte in der Bildungsstaette bahnten sich seit langem an und es gab
Anzeichen dafuer, dass es ein Potential von rechten Jugendlichen in der Region
gibt. Dafuer sprach nicht nur die Tatsache, dass es einige Projekte fuer rechte
Jugendliche in der naeheren Umgebung gibt. SeminarteilnehmerInnen fuehlten sich
durch die Jugendlichen aus dem Dorf, die schon lange die Freizeiteinrichtungen
der Bildungsstaette mitbenutzten, verunsichert, begruendeten dies allerdings nur
mit deren Aussehen, z.B. kahlgeschorene Koepfe, Bomberjacke. Es gab jedoch
bereits mehrere Auseinandersetzungen mit rechtsextremistischen Jugendlichen. In
einem Fall wurden tuerkische Frauen rassistisch und sexistisch angepoebelt und
nach einem Einbruch in der Bildungsstaette im letzten Jahr war nicht nur einiges
verschwunden, es wurden auch Hakenkreuze an die Waende geschmiert.
Ausserdem stellte sich bei den verschiedenen Treffen in Flecken Zechlin
heraus, dass ein gewisser 'Opa Lange' dort war, Kontakt zu den Jugendlichen
aufgenommen hat und bevor er verschwand, eine kleine Spende hinterliess. Wer
'Opa Lange' ist? Angeblich ein ehemaliger NPD-Abgeordneter aus
Nordrhein-Westfalen, der sich heute um Jugendliche aus den neuen Bundeslaendern
bemueht. Das Geld wurde zwischenzeitlich an 'Opa Lange' zurueckgegeben, aber
mindestens zwei Jugendliche sollen Briefkontakt mit ihm pflegen.
Wir als Berliner Gewerkschaftsgruppe, die ueber hundert Kilometer von
Flecken Zechlin entfernt sitzt, massen uns nicht an, die richtige Reaktion auf
den rassistischen Mordanschlag zu kennen. Aber wir werden auch weiterhin unsere
Kritik und unsere Fragen formulieren.
Wir halten es fuer politisch fatal, dass sich der DGB, der von einem
rassistischen Anschlag direkt betroffen war, in hartnaeckiges Schweigen
gegenueber der OEffentlichkeit huellt. Die Vorsitzende des
DGB-Berlin-Brandenburg erklaert zu diesem Vorwurf in einem Schreiben an den
LBJA, dass sie wegen der "raschen und engagierten Reaktion der oertlichen
Polizei" und der Zukunft der Bildungsstaette die "nur in einer
konstruktiven und solidarischen Verankerung im oertlichen Gemeinwesen liegen
kann, (...) von spektakulaeren, oeffentlichen Erklaerungen Abstand genommen"
habe. Was hat das Verhalten der Polizei mit einer Presseerklaerung zu tun? Warum
steht eine Presseerklaerung alternativ zu einer konstruktiven und solidarischen
Verankerung? Ist denn eine Verankerung nicht moeglich, wenn der DGB seine
politischen Positionen klar darlegt? Wurden deshalb auch die Beschluesse des
LBJA ignoriert?
Wir erwarten, dass die Situation vor Ort ehrlich und mit allen ihren
Schattierungen benannt wird. Denn nur das kann die Grundlage fuer eine Loesung
der Probleme sein.
Neben der Verankerung der Bildungsstaette vor Ort, die ohne Zweifel
notwendig ist, erwarten wir aber auch eine Verankerung im DGB. Das bedingt
sowohl die Bereitschaft zu Diskussionen als auch die kritische
Auseinandersetzung mit der Arbeit und den Zielen der Bildungsstaette - und diese
vermissen wir noch.
(Redaktion RAG)
von Hermann Nehls, Leiter der DGB-Jugendbildungsstaette in Flecken Zechlin
Der oben beschriebenen Vorfall koennte der oft halsbrecherischen Fahrweise von jungen Erwachsenen zugeschrieben werden, die durch ihr Fahrverhalten einfach die Sau raushaengen lassen wollten. Doch bei seiner spaeteren polizeilichen Vernehmung gab der Fahrer klar ein auslaenderfeindliches Motiv fuer sein Verhalten an: Das beinahe angefahrene Maedchen hat tuerkische Eltern.
Der Jugendliche ist zwei Tage nach seiner Tat inhaftiert worden, gegen ihn laeuft ein Verfahren wegen versuchten Mordes. Die Polizei hat schnell und beweissichernd reagiert - eine Schlappe, wie bei den Ermittlungen um den Brandanschlag auf eine Baracke des KZ-Sachsenhausen sollte nicht noch einmal passieren.
Spaetestens durch die Reaktion der Polizei wurde den Jugendlichen aus der Region vor Augen gefuehrt, mit welchen Folgen sie bei einem solchen Verhalten zu rechnen haben. Fuer versuchten Mord drohen bis zu zehn Jahre Knast. Das hat vielen Jugendlichen einen echten Schreck eingejagt.
Gleichzeitig wurden aber auch Angebote von Seiten der Jugendbildungsstaette gemacht und Initiativen gefoerdert, die Jugendlichen in der Region Treff- und Begegnungsmoeglichkeiten eroeffnen sollen. Auf einem Wochenendseminar, das auf ihren Wunsch zum Thema 'Auslaenderfeindlichkeit und Rassismus' durchgefuehrt wurde, wurden Vorschlaege fuer eine kontrollierte OEffnung der Bildungsstaette entwickelt. Darueber hinaus wurde ein Verein gegruendet, der einen Jugendclub in Flecken Zechlin foerdern soll. Denn eins ist offensichtlich: Da es in der Region so gut wie keine Moeglichkeiten fuer Jugendliche gibt, kulturelle Angebote wahrzunehmen, oder einfach nicht auf der Strasse rumhaengen zu muessen, kommt es darauf an, hier entsprechende Voraussetzungen zu foerdern.
In diesem Zusammenhang werden natuerlich auch laengerfristige Fragen fuer die Arbeit der DGB-Jugendbildungsstaette aufgeworfen. Wie kann z.B. ein Umgang zwischen Jugendlichen aus der Region und Gaesten der Bildungsstaette sinnvoll gestaltet werden? Gibt es Moeglichkeiten, Interesse oder zumindest Neugierde aneinander zu foerdern? Hier wird ein Grenzbereich thematisiert, der sich mit politischer Jugendbildungsarbeit nicht mehr abdecken laesst, der UEbergang zu politischer Jugendarbeit ist fliessend. Ohne eine entsprechende personelle Aufstockung ist diese sicher nur schwer leistbar.
Doch hierin liegt auch eine ungeheure Chance fuer die Arbeit der Bildungsstaette. Liegen die anderen Bildungsstaetten in Brandenburg auf der 'gruenen Wiese', ist diese DGB-Jugendbildungsstaette direkt an eine doerfliche Struktur angebunden. Auf dem flachen Land kann hier gewerkschaftliche Arbeit ueberhaupt erfahrbar gemacht und die Moeglichkeit weiterer regionaler Einbindung der DGB-Jugendbildungsarbeit moeglich werden. Ein Erfolg durch diese neue Entwicklung kann schon gemeldet werden. Durch das konsequente Auftreten im Zusammenhang mit dem rassistischen Anschlag auf das tuerkische Maedchen hat die Arbeit neue Akzeptanz gefunden, es ist ein besserer Kontakt zu den Jugendlichen aus der Region entstanden. Als Gaeste der Bildungsstaette Maedchen aus dem Dorf anmachten, sie schon 'ihre Jungs' verstaendigt hatten und ein neuer Konflikt aufzubrechen drohte, kamen sie in die Bildungsstaette und beschwerten sich direkt ueber das Verhalten der Berliner. Ein daran anschliessendes Streitgespraech mit den Betroffenen hat zur Klaerung beigetragen.