Mao Werke


Mao Tse-Tung: 

Über den Widerspruch

 


III. Die Besonderheit des Widerspruchs

Wie schon oben gesagt, besteht der allgemeine und absolute Charakter des Widerspruchs darin, daß in den Entwicklungsprozessen aller Dinge Widersprüche existieren und die Widersprüche den Entwicklungsprozeß jedes Dinges von Anfang bis Ende durchdringen. Betrachten wir jetzt die Besonderheit und Relativität des Widerspruchs.

Diese Frage muß auf verschiedenen Ebenen untersucht werden.

Vor allem haben die Widersprüche in all den verschiedenen Bewegungsformen der Materie jeweils einen besonderen Charakter. Die Erkenntnis der Materie durch den Menschen ist die Erkenntnis der Bewegungsformen der Materie; denn in der Welt existiert nichts außer der sich bewegenden Materie, und die Bewegung der Materie muß bestimmte Formen annehmen. Bei der Betrachtung jeder Bewegungsform der Materie muß das im Auge behalten werden, was sie mit den anderen Bewegungsformen gemeinsam hat. Noch wichtiger aber ist es – und das bildet die Grundlage unserer Erkenntnis der Dinge –, das Besondere in Betracht zu ziehen, das jeder Bewegungsform eigentümlich ist, das heißt, die qualitativen Unterschiede zwischen dieser und den anderen Bewegungsformen zu beachten. Nur auf diese Weise kann man ein Ding von dem anderen unterscheiden. Jede Bewegungsform enthält ihre eigenen besonderen Widersprüche. Diese besonderen Widersprüche bilden das besondere Wesen eines Dinges, das dieses von anderen Dingen unterscheidet. Hierin besteht die innere Ursache oder, wie man es auch nennen kann, die Grundlage der unendlichen Vielfalt der Dinge in der Welt. In der Natur gibt es viele Bewegungsformen: mechanische Bewegung, Schall, Licht, Wärme, Elektrizität, Dissoziation, Verbindung usw. Alle diese Bewegungsformen der Materie befinden sich in wechselseitiger Abhängigkeit, doch sind sie ihrem Wesen nach voneinander verschieden. Das besondere Wesen jeder Bewegungsform der Materie wird durch die besonderen Widersprüche bestimmt, die dieser Form innewohnen. So verhält es sich nicht bloß in der Natur, sondern gleichermaßen auch in den Erscheinungen der Gesellschaft und des Denkens. Jede Form
|376| der Gesellschaft und jede Form des Denkens hat ihre besonderen Widersprüche und ihr besonderes Wesen.

Die Abgrenzung der verschiedenen Wissenschaften voneinander beruht gerade auf den besonderen Widersprüchen, die ihren Forschungsobjekten innewohnen. Daher bildet ein bestimmter Widerspruch, der nur der Sphäre einer bestimmten Erscheinung eigentümlich ist, das Forschungsobjekt einer bestimmten Wissenschaft. Zum Beispiel Plus und Minus in der Mathematik, Wirkung und Gegenwirkung in der Mechanik, negative und positive Elektrizität in der Physik, Dissoziation und Verbindung in der Chemie, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Klassen und Klassenkampf in den Gesellschaftswissenschaften, Angriff und Verteidigung in der Militärwissenschaft, Idealismus und Materialismus, metaphysische und dialektische Anschauung in der Philosophie usw. – das alles hat jeweils seinen besonderen Widerspruch und sein besonderes Wesen und bildet deshalb auch Forschungsobjekte verschiedener Wissenschaften. Gewiß ist es ohne Erkenntnis der Allgemeinheit des Widerspruchs unmöglich, die allgemeinen Ursachen oder die allgemeinen Grundlagen der Bewegung oder Entwicklung der Dinge aufzudecken. Doch ohne Untersuchung des Besonderen im Widerspruch ist es unmöglich, das besondere Wesen, das ein Ding von den anderen unterscheidet, zu bestimmen, ist es unmöglich, die besonderen Ursachen oder besonderen Grundlagen der Bewegung oder Entwicklung der Dinge aufzudecken, ist es auch unmöglich, die Dinge voneinander zu unterscheiden und die wissenschaftlichen Forschungsgebiete voneinander abzugrenzen.

Was die Reihenfolge der Bewegung der menschlichen Erkenntnis betrifft, so erweitert sich diese stets allmählich von der Erkenntnis des Einzelnen und Besonderen zur Erkenntnis des Allgemeinen. Die Menschen beginnen immer zuerst mit der Erkenntnis des besonderen Wesens der vielen verschiedenen Dinge; erst dann können sie zur Verallgemeinerung übergehen und das gemeinsame Wesen der Dinge erkennen. Nachdem die Menschen dieses gemeinsame Wesen erkannt haben, gehen sie weiter und studieren, geleitet von dieser Erkenntnis des Gemeinsamen, die verschiedenen konkreten Dinge, die noch nicht oder nicht gründlich erforscht sind, und finden das besondere Wesen jedes Dinges heraus. Nur auf diese Weise können sie die Erkenntnis des gemeinsamen Wesens vervollständigen, bereichern und entwickeln, so daß diese Erkenntnis nicht welk und leblos wird. Das sind die beiden Prozesse der Erkenntnis: der eine führt vom Besonderen zum Allgemeinen, der andere vom Allgemeinen zum Besonderen. Die
|377| Entwicklung der menschlichen Erkenntnis stellt stets eine solche spiralförmige Bewegung dar, wobei jede Windung die menschliche Erkenntnis auf eine höhere Stufe hebt und sie beständig vertieft (jedoch nur dann, wenn dabei die wissenschaftliche Methode streng eingehalten wird). Der Fehler unserer Dogmatiker in dieser Frage besteht in folgendem: Einerseits verstehen sie nicht, daß man die Allgemeinheit des Widerspruchs und das gemeinsame Wesen der Dinge nur dann in vollem Maße erkennen kann, wenn man zuvor die Besonderheit des Widerspruchs erforscht und das besondere Wesen der einzelnen Dinge erkannt hat; andererseits verstehen sie nicht, daß wir, sobald das gemeinsame Wesen der Dinge erkannt ist, unbedingt weitergehen und jene konkreten Dinge studieren müssen, die noch nicht gründlich erforscht sind oder zum erstenmal in Erscheinung treten. Unsere Dogmatiker sind faule Kerle, die jede mühselige Forschungsarbeit an konkreten Dingen ablehnen; sie betrachten die allgemeinen Wahrheiten als etwas vom Himmel Gefallenes, verwandeln sie in unfaßbare, rein abstrakte Formeln, negieren total die normale Reihenfolge der Erkenntnis der Wahrheit durch den Menschen und stellen sie auf den Kopf. Ebensowenig verstehen sie die wechselseitige Verbundenheit zwischen den beiden Prozessen der menschlichen Erkenntnis: vom Besonderen zum Allgemeinen und vom Allgemeinen zum Besonderen. Sie verstehen überhaupt nicht die marxistische Erkenntnistheorie.

Es ist nicht nur notwendig, die besondere Widersprüchlichkeit und das durch sie bestimmte Wesen jedes großen Systems der Bewegungsformen der Materie zu studieren, sondern man muß auch den besonderen Widerspruch und das Wesen jedes einzelnen Prozesses auf dem langen Entwicklungsweg jeder Bewegungsform der Materie untersuchen. In allen Bewegungsformen ist jeder wirkliche und nicht eingebildete Entwicklungsprozeß qualitativ unterschiedlich. In unserer Forschungsarbeit müssen wir diesem Punkt größte Aufmerksamkeit zuwenden, ja, wir müssen von ihm ausgehen.

Qualitativ verschiedene Widersprüche können nur mit qualitativ verschiedenen Methoden gelöst werden. So ist zum Beispiel der Widerspruch zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie mit der Methode der sozialistischen Revolution zu lösen. Der Widerspruch zwischen den Volksmassen und dem Feudalsystem ist mit der Methode der demokratischen Revolution zu lösen. Der Widerspruch zwischen den Kolonien und dem Imperialismus ist mit der Methode des revolutionären nationalen Krieges zu lösen. Der Widerspruch zwischen der
|378| Arbeiterklasse und der Bauernschaft in der sozialistischen Gesellschaft ist mit der Methode der Kollektivierung und Mechanisierung der Landwirtschaft zu lösen. Die Widersprüche innerhalb der Kommunistischen Partei sind mit der Methode der Kritik und Selbstkritik zu lösen. Die Widersprüche zwischen Gesellschaft und Natur sind mit der Methode der Entwicklung der Produktivkräfte zu lösen. Die Prozesse verändern sich, alte Prozesse und alte Widersprüche verschwinden, neue Prozesse und neue Widersprüche entstehen, und dementsprechend verändern sich auch die Methoden zur Lösung der Widersprüche. Die Widersprüche, die in der Februar- und in der Oktoberrevolution in Rußland gelöst wurden, und die zu ihrer Lösung angewandten Methoden sind voneinander grundverschieden. Die Lösung verschiedener Widersprüche mit Hilfe verschiedener Methoden – das ist ein Prinzip, das die Marxisten-Leninisten streng einhalten müssen. Die Dogmatiker halten dieses Prinzip nicht ein, sie verstehen nicht die Verschiedenheit der Bedingungen, unter denen die verschiedenen Revolutionen vor sich gehen, folglich verstehen sie auch nicht, daß die verschiedenen Widersprüche mit Hilfe verschiedener Methoden gelöst werden müssen; sie wenden überall willkürlich dieselbe Schablone an, die sie für unabänderlich halten, was nur dazu führen kann, daß die Revolution Rückschläge erleidet oder daß eine aussichtsreiche Sache zu Schanden gemacht wird.

Um die Besonderheiten der Widersprüche im Entwicklungsprozeß eines Dinges in ihrer Gesamtheit oder ihrer wechselseitigen Verbundenheit aufzudecken, das heißt, um das Wesen dieses Prozesses bloßzulegen, muß man die Besonderheiten aller Seiten der in diesem Prozeß enthaltenen Widersprüche aufdecken; anderenfalls wird es unmöglich sein, das Wesen des Prozesses zu enthüllen. Auch darauf müssen wir bei unserer Forschungsarbeit besonderes Augenmerk richten.

Ein Ding von größerer Dimension enthält im Prozeß seiner Entwicklung eine Anzahl von Widersprüchen. So existieren beispielsweise im Prozeß der bürgerlich-demokratischen Revolution in China der Widerspruch zwischen den verschiedenen unterdrückten Klassen der chinesischen Gesellschaft und dem Imperialismus, der Widerspruch zwischen den Volksmassen und dem Feudalsystem, der Widerspruch zwischen Proletariat und Bourgeoisie, der Widerspruch zwischen der Bauernschaft und dem städtischen Kleinbürgertum einerseits und der Bourgeoisie andererseits, die Widersprüche zwischen den verschiedenen reaktionären herrschenden Cliquen usw.; die Lage ist hier außer-
|379| ordentlich kompliziert. Nun hat nicht nur jeder dieser Widersprüche seine Besonderheit und es können nicht alle auf ein und dieselbe Weise behandelt werden, sondern die beiden Seiten eines jeden Widerspruchs haben wiederum jede ihre eigenen Besonderheiten, und man darf an sie ebenfalls nicht in gleicher Weise herangehen. Wir, die wir für die Sache der chinesischen Revolution tätig sind, müssen die Besonderheit der Widersprüche nicht nur in ihrer Gesamtheit, das heißt in ihrer wechselseitigen Verbundenheit begreifen, sondern wir können die Gesamtheit der Widersprüche nur dann verstehen, wenn wir beide Seiten eines jeden Widerspruchs studieren. Beide Seiten eines jeden Widerspruchs verstehen heißt verstehen, welche spezifische Position jede Seite einnimmt, heißt verstehen, in welchen konkreten Formen die beiden Seiten voneinander abhängen und zueinander im Gegensatz stehen und mit welchen konkreten Methoden sie während ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Gegensätzlichkeit und nach dem Bruch des Abhängigkeitsverhältnisses miteinander kämpfen. Das Studium dieser Fragen ist äußerst wichtig. Das gerade hatte Lenin im Auge, als er sagte, daß das innerste Wesen, die lebendige Seele des Marxismus in der konkreten Analyse einer konkreten Situation besteht. [10] Unsere Dogmatiker verstoßen gegen diesen Hinweis Lenins, sie strengen niemals den Kopf an, um irgendetwas konkret zu analysieren, sondern käuen in ihren Artikeln und Reden beständig ein und dieselben hohlen Phrasen nach einer Schablone wieder und schaffen damit in unserer Partei einen äußerst schlechten Arbeitsstil.

Beim Studium irgendeiner Frage muß man sich vor Subjektivismus, Einseitigkeit und Oberflächlichkeit hüten. Subjektivismus – das ist das Unvermögen, an eine Sache objektiv, das heißt materialistisch heranzugehen, worüber ich schon in der Arbeit "Über die Praxis" gesprochen habe. Einseitigkeit besteht darin, daß man nicht versteht, eine Frage von jeder Seite zu betrachten. Man begreift zum Beispiel nur China, aber nicht Japan, nur die Kommunistische Partei, aber nicht die Kuomintang, nur das Proletariat, aber nicht die Bourgeoisie, nur die Bauernschaft, aber nicht die Grundherren, nur die günstigen Bedingungen, aber nicht die schwierigen, nur die Vergangenheit, aber nicht die Zukunft, nur das Einzelne, aber nicht die Gesamtheit, nur die Mängel, aber nicht die Erfolge, nur den Kläger, aber nicht den Angeklagten, nur die illegale revolutionäre Arbeit, aber nicht die offene revolutionäre Arbeit usw. – kurz gesagt: man versteht nicht die Besonderheiten der beiden Seiten des Widerspruchs. Das bedeutet eben, eine Frage einseitig zu betrachten oder mit anderen Worten,
|380| nur den Teil, aber nicht das Ganze, nur die einzelnen Bäume, aber nicht den Wald zu sehen. Bei solcher Art des Vorgehens ist es unmöglich, die Methoden zur Lösung der Widersprüche zu finden, ist es unmöglich, die Aufgaben der Revolution zu erfüllen, ist es unmöglich, die einem aufgetragene Arbeit gut zu verrichten, ist es unmöglich, den ideologischen Kampf innerhalb der Partei richtig zu entwickeln. Über die Kriegskunst sagte Sun Dsi: "Kennst du den Feind und kennst du dich selbst – hundert Schlachten ohne Schlappe". [11] Er sprach von zwei kriegführenden Seiten. We Dscheng, der zur Zeit der Tang-Dynastie lebte, tat den Ausspruch: "Hörst du alle an, dann bist du dir im klaren, schenkst du nur einem Glauben, wirst du im dunkeln tappen." [12] Auch er verstand, daß Einseitigkeit falsch ist. Unsere Genossen gehen jedoch oft einseitig an die Fragen heran und holen sich dabei immer wieder Beulen. Im Roman Die Helden vom Liangschan-Moor griff Sung Djiang dreimal das Dorf Dschu an [13], erlitt jedoch die beiden ersten Male eine Niederlage, weil er die lokalen Verhältnisse nicht kannte und nach einer falschen Methode vorging. Danach änderte er seine Methode; als erstes erkundete er die Lage, so fand er sich in dem Labyrinth von Wegen zurecht, sprengte das Bündnis zwischen den Dörfern Li, Hu und Dschu, legte einen Hinterhalt in das Lager des Feindes, indem er eine ähnliche Methode anwendete, wie sie in der ausländischen Sage vom Trojanischen Pferd berichtet wird, und sein dritter Angriff war von Erfolg gekrönt. In diesem Roman gibt es eine ganze Reihe von Beispielen für die Anwendung der materialistischen Dialektik, unter denen der dreimalige Angriff auf das Dorf Dschu wohl das beste ist. Lenin sagt:

"Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und "Vermittelungen" erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Forderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren." [14]

Wir müssen uns diese Worte Lenins merken. Die Oberflächlichkeit besteht darin, daß man weder die Besonderheiten des Widerspruchs als Ganzes noch die Besonderheiten seiner Seiten in Betracht zieht, daß man die Notwendigkeit leugnet, tief in das Wesen der Dinge einzudringen und die Besonderheiten des Widerspruchs sorgfältig zu studieren, daß man sich mit einer Beobachtung aus der Ferne begnügt, den Widerspruch in groben Umrissen nach der Methode des Über-den-Daumen-Peilens bestimmt und ihn hierauf sofort zu lösen versucht (Fragen zu
|381| beantworten, Meinungsstreitigkeiten zu entscheiden, Arbeiten zu verrichten, militärische Operationen zu leiten). Ein solches Vorgehen kann nur üble Folgen nach sich ziehen. Jene chinesischen Genossen, die an Dogmatismus und Empirismus kranken, begehen deshalb Fehler, weil sie subjektiv, einseitig und oberflächlich die Dinge betrachten. Einseitigkeit ist ebenso wie Oberflächlichkeit zugleich auch Subjektivismus. Da alle objektiv existierenden Dinge miteinander zusammenhängen und ihre inneren Gesetzmäßigkeiten haben, so ist die Methode derjenigen, die diese Tatsache nicht wahrheitsgetreu widerspiegeln, sondern die Dinge nur einseitig oder oberflächlich betrachten und deren wechselseitigen Zusammenhang und innere Gesetzmäßigkeiten nicht kennen, notwendigerweise subjektivistisch.

Nicht nur die Besonderheiten der Bewegung der Widersprüche im gesamten Entwicklungsprozeß der Dinge – sowohl hinsichtlich ihrer wechselseitigen Verbundenheit als auch des Zustands jeder ihrer Seiten – müssen wir beachten; auch die einzelnen Etappen dieses Prozesses haben ihre eigenen Besonderheiten, die wir ebenfalls im Auge behalten müssen.

Der Grundwiderspruch im Entwicklungsprozeß eines Dinges und das durch diesen Grundwiderspruch bedingte Wesen des Prozesses verschwinden nicht, solange der Prozeß nicht abgeschlossen ist; doch weisen die Umstände in den einzelnen Etappen dieses langen Entwicklungsprozesses oft Unterschiede auf. Das ergibt sich daraus, daß der Grundwiderspruch im Entwicklungsprozeß des betreffenden Dinges, obgleich sich sein Charakter und das Wesen dieses Prozesses nicht ändern, in den einzelnen Entwicklungsetappen des langen Prozesses immer schärfere Formen annimmt. Mehr noch, unter den größeren und kleineren Widersprüchen, die durch den Grundwiderspruch bedingt sind oder sich unter seinem Einfluß befinden, verschärfen sich die einen, während andere zeitweilig oder teilweise gelöst oder gemildert werden und wieder andere, neue Widersprüche entstehen. Daher tritt ja der Prozeß etappenweise in Erscheinung. Wer auf die Etappen des Entwicklungsprozesses eines Dinges nicht achtet, ist nicht imstande, die dem Ding innewohnenden Widersprüche in angemessener Weise zu behandeln.

Als beispielsweise der Kapitalismus der Epoche der freien Konkurrenz in den Imperialismus überging, erfuhren weder der Charakter der beiden Klassen, die im antagonistischen Widerspruch zueinander stehen – Proletariat und Bourgeoisie –, noch das kapitalistische Wesen der bestehenden Gesellschaft irgendeine Änderung; es verschärf-
|382| ten sich aber die Widersprüche zwischen diesen beiden Klassen, es entstanden Widersprüche zwischen dem monopolistischen und dem nichtmonopolistischen Kapital, die Widersprüche zwischen den Metropolen und den Kolonien verschärften sich, und besonders scharf kamen die Widersprüche unter den kapitalistischen Ländern zum Ausdruck, Widersprüche, die durch die ungleichmäßige Entwicklung der verschiedenen Länder hervorgerufen wurden. So entstand ein besonderes Stadium des Kapitalismus: das Stadium des Imperialismus. Der Leninismus wurde gerade deshalb der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution, weil Lenin und Stalin diese Widersprüche richtig erklärt und die richtige Theorie und Taktik der zur Lösung dieser Widersprüche berufenen proletarischen Revolution ausgearbeitet haben.

Nimmt man den Prozeß der bürgerlich-demokratischen Revolution in China, der mit der Revolution von 1911 begann, so findet man hier gleichfalls mehrere spezifische Etappen. Insbesondere stellen die Periode, da die Bourgeoisie die Revolution führte, und die Periode der Führung der Revolution durch das Proletariat zwei historische Etappen dar, die sich voneinander in sehr hohem Maße unterscheiden. Mit anderen Worten, die Führung durch das Proletariat änderte das Antlitz der Revolution von Grund auf, führte zu einer Umgruppierung der Klassenkräfte, zur breiten Entfaltung der bäuerlichen Revolution, verlieh der antiimperialistischen und antifeudalistischen Revolution einen konsequenten Charakter, schuf die Möglichkeit des Hinüberwachsens der demokratischen Revolution in die sozialistische Revolution usw. Das alles war in der Periode, da die Bourgeoisie die Revolution führte, unmöglich. Obwohl sich der Charakter des Grundwiderspruchs im Gesamtprozeß – das heißt der Charakter dieses Prozesses als der einer antiimperialistischen und antifeudalistischen demokratischen Revolution (die andere Seite dieses Widerspruchs ist der halbkoloniale und halbfeudale Charakter) – in keiner Weise änderte, durchlief der Prozeß dennoch im Verlauf dieser langen Periode von mehr als 20 Jahren mehrere Entwicklungsetappen, wo so bedeutsame Ereignisse vor sich gingen wie die Niederlage der Revolution von 1911, die Errichtung der Herrschaft der Militärmachthaber des Nordens, die Herstellung der ersten nationalen Einheitsfront und die Revolution von 1924-1927, der Bruch der Einheitsfront und der Obergang der Bourgeoisie ins Lager der Konterrevolution, die Kriege der neuen Militärmachthaber untereinander, der Agrarrevolutionäre Krieg, die Bildung der zweiten nationalen Einheitsfront
|383| und der Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression. Diese Entwicklungsetappen waren durch besondere Umstände gekennzeichnet, wie dadurch, daß sich gewisse Widersprüche verschärften (z. B. der Agrarrevolutionäre Krieg und der Einfall Japans in die vier nordöstlichen Provinzen), andere teilweise oder zeitweilig gelöst wurden (z.B. die Liquidierung der Militärmachthaber des Nordens und die von uns durchgeführte Beschlagnahme des Bodens der Grundherren), wieder andere neu entstanden (z.B. der Kampf zwischen den neuen Militärmachthabern, die Rücknahme des enteigneten Bodens durch die Grundherren, nachdem wir die revolutionären Stützpunktgebiete in Südchina verloren hatten), usw.

Beim Studium der Besonderheiten der Widersprüche in den einzelnen Etappen des Entwicklungsprozesses eines Dinges genügt es nicht, die Widersprüche in ihrer wechselseitigen Verbundenheit oder in ihrer Gesamtheit zu betrachten; man muß sich in jeder Entwicklungsetappe auch die beiden Seiten eines jeden Widerspruchs ansehen.

Nehmen wir beispielsweise die Kuomintang und die Kommunistische Partei. Zunächst die Kuomintang als die eine Seite. In der Periode der ersten Einheitsfront war die Kuomintang, da sie die drei politischen Hauptrichtlinien Sun Yat-sens – Bündnis mit Rußland, Bündnis mit der Kommunistischen Partei und Unterstützung der Arbeiter und Bauern – durchführte, revolutionär, hatte sie Lebenskraft und verkörperte sie das Bündnis verschiedener Klassen für die demokratische Revolution. Nach 1927 verwandelte sich die Kuomintang in ihr Gegenteil, sie wurde zu einem reaktionären Block der Grundherren und der Großbourgeoisie. Nach den Sian-Ereignissen im Dezember 1936 setzte in der Kuomintang abermals eine Wendung ein, und zwar in der Richtung auf Beendigung des Bürgerkriegs und auf ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei für den gemeinsamen Kampf gegen den japanischen Imperialismus. Das sind die Besonderheiten der Kuomintang in diesen drei Stadien. Das Auftreten dieser Besonderheiten wurde selbstverständlich durch eine Reihe von Ursachen bewirkt. Nun die andere Seite: die Kommunistische Partei Chinas. In der Periode der ersten Einheitsfront steckte sie noch in den Kinderschuhen und bekundete, obwohl sie die Revolution von 1924-1927 heldenhaft leitete, ihre Unreife in bezug auf das Verständnis des Charakters, der Aufgaben und der Methoden der Revolution. Infolgedessen konnte der Tschenduhsiuismus, der in der letzten Periode dieser Revolution aufkam, seine Rolle spielen, und dadurch wurde die Niederlage der Revolution herbeigeführt. Seit 1927 leitete
|384| die Partei heroisch den Agrarrevolutionären Krieg und schuf eine revolutionäre Armee und revolutionäre Stützpunktgebiete; sie beging aber auch Fehler, die den Charakter des Abenteurertums trugen und zur Folge hatten, daß der Armee und den Stützpunktgebieten sehr schwere Verluste zugefügt wurden. 1935 begann die Kommunistische Partei diese Fehler zu überwinden, nahm die Führung der neuen, antijapanischen Einheitsfront in die Hand, und dieser große Kampf ist derzeit gerade in der Entwicklung begriffen. Im gegenwärtigen Stadium ist die Kommunistische Partei eine Partei, die bereits die Prüfungen zweier Revolutionen hinter sich hat und über reiche Erfahrungen verfügt. Das sind die Besonderheiten der Kommunistischen Partei Chinas in diesen drei Stadien. Das Auftreten dieser Besonderheiten wurde gleichfalls durch eine Reihe von Ursachen bewirkt. Ohne diese Besonderheiten der beiden Seiten zu studieren, ist es unmöglich, die besonderen Wechselbeziehungen zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung zu verstehen: Bildung der Einheitsfront, Bruch der Einheitsfront, Herstellung der neuen Einheitsfront. Um aber die einzelnen Besonderheiten dieser beiden Parteien zu studieren, muß man, was noch fundamentaler ist, ihre Klassenbasis sowie die in den verschiedenen Zeitperioden auf dieser Grundlage entstandenen Widersprüche zwischen jeder dieser Parteien und anderen Faktoren studieren. So stand zum Beispiel die Kuomintang in der Periode ihres ersten Bündnisses mit der Kommunistischen Partei einerseits im Widerspruch zu den ausländischen Imperialisten, weshalb sie auch gegen den Imperialismus auftrat, und andererseits im Widerspruch zu den Volksmassen im eigenen Land: Obwohl sie mit Worten den Werktätigen sehr viel Gutes versprach, gab sie ihnen jedoch tatsächlich nur sehr wenig oder buchstäblich nichts. In der Periode des Krieges, den sie gegen die Kommunisten führte, kämpfte sie im Bunde mit dem Imperialismus und dem Feudalismus gegen die Volksmassen, hob mit einem Federstrich alle Rechte auf, die sich die Volksmassen in der Revolution erobert hatten, und verschärfte so ihren Widerspruch zu ihnen. Jetzt, in der Periode des Widerstandskriegs gegen die japanische Aggression, steht die Kuomintang im Widerspruch zum japanischen Imperialismus und will mit der Kommunistischen Partei zusammenarbeiten; zugleich läßt sie aber nicht nach, die Kommunistische Partei und das Volk zu bekämpfen und zu unterdrücken. Die Kommunistische Partei hingegen steht in jeder Periode immer an der Seite der Volksmassen im Kampf gegen
|385| Imperialismus und Feudalismus; in der gegenwärtigen Periode des Widerstandskriegs hat sie jedoch eine gemäßigte Politik gegenüber der Kuomintang und den einheimischen Feudalkräften eingeleitet, da sich die Kuomintang für den Widerstand gegen die japanische Aggression ausgesprochen hat. Alle diese Umstände ergeben, daß zwischen diesen beiden Parteien einmal ein Bündnis geschlossen wird, ein andermal der Kampf entbrennt, wobei sich selbst in den Perioden des Bündnisses eine komplizierte Situation herausbildet, da Bündnis und Kampf gleichzeitig existieren. Ohne die Besonderheiten der beiden Seiten des Widerspruchs zu studieren, können wir weder die Beziehungen jeder dieser Parteien mit anderen Faktoren noch die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Parteien selbst verstehen.

Daraus folgt, daß bei dem Studium der Besonderheiten beliebiger Widersprüche – der Widersprüche in jeder Bewegungsform der Materie, der Widersprüche in jedem Entwicklungsprozeß einer jeden Bewegungsforrn, der beiden Seiten eines jeden Widerspruchs in diesen oder jenen Entwicklungsprozessen, der Widersprüche in den verschiedenen Etappen jedes Entwicklungsprozesses und der beiden Seiten jedes der Widersprüche in den einzelnen Etappen-, daß beim Studium aller dieser Besonderheiten der Widersprüche subjektive Willkür unzulässig ist und eine konkrete Analyse vorgenommen werden muß. Ohne eine konkrete Analyse ist es unmöglich, die Besonderheiten irgendeines Widerspruchs zu erkennen. Wir müssen immer an die Worte Lenins denken: konkrete Analyse einer konkreten Situation.

Marx und Engels waren die ersten, die uns ausgezeichnete Beispiele einer solchen konkreten Analyse gaben.

Als Marx und Engels das Gesetz des den Dingen innewohnenden Widerspruchs auf das Studium des gesellschaftlich-historischen Prozesses anwandten, erkannten sie den Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, den Widerspruch zwischen den Ausbeuterklassen und den Klassen der Ausgebeuteten sowie den dadurch hervorgerufenen Widerspruch zwischen der ökonomischen Basis und ihrem Überbau (Politik, Ideologie usw.). Und sie fanden heraus, daß diese Widersprüche in den verschiedenen Klassengesellschaften unvermeidlich zu sozialen Revolutionen verschiedener Art führen.

Als Marx dieses Gesetz auf das Studium der ökonomischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft anwandte, entdeckte er, daß der grundlegende Widerspruch dieser Gesellschaft der Widerspruch
|386| zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung ist. Dieser Widerspruch tritt im Widerspruch zwischen dem organisierten Charakter der Produktion in den einzelnen Betrieben und dem unorganisierten Charakter der Produktion in der Gesellschaft als Ganzem zutage. In den Beziehungen der Klassen bekundet sich dieser Widerspruch als Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Infolge der außerordentlichen Vielfalt der Dinge und der Unbegrenztheit ihrer Entwicklung verwandelt sich das, was in einem bestimmten Fall das Allgemeine ist, in einem anderen bestimmten Fall in das Besondere. Umgekehrt: was in einem bestimmten Fall das Besondere ist, wird in einem anderen bestimmten Fall zum Allgemeinen. Der dem kapitalistischen System innewohnende Widerspruch zwischen der Vergesellschaftung der Produktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ist allen Ländern gemeinsam, in denen der Kapitalismus existiert und sich entwickelt; für den Kapitalismus ist das der allgemeine Charakter des Widerspruchs. Doch stellt der erwähnte Widerspruch des Kapitalismus eine Erscheinung dar, die nur einer bestimmten historischen Periode der Entwicklung der Klassengesellschaft überhaupt eigen ist, und vom Gesichtspunkt des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der Klassengesellschaft überhaupt offenbart sich hierin die Besonderheit des Widerspruchs. Aber dadurch, daß Marx die Besonderheit aller Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft herausarbeitete, hat er noch weitgehender, noch umfassender, noch vollständiger den allgemeinen Charakter des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der Klassengesellschaft überhaupt klargestellt.

Infolge der Tatsache, daß das Besondere mit dem Allgemeinen verbunden ist, daß jedem Ding nicht nur der besondere, sondern auch der allgemeine Charakter des Widerspruchs innewohnt, und daß die Allgemeinheit in der Besonderheit existiert, muß man beim Studium eines bestimmten Dinges diese beiden Aspekte und ihre wechselseitige Verbundenheit aufdecken, muß man das Besondere und das Allgemeine im Innern eines Dinges und die wechselseitige Verbundenheit dieser beiden Aspekte sowie den Zusammenhang zwischen dem betreffenden Ding und den zahlreichen anderen Dingen außerhalb seiner selbst aufdecken. In seinem berühmten Werk Über die Grundlagen des Leninismus analysiert Stalin bei der Darlegung der historischen Wurzeln des Leninismus die internationale Situation, in der der
|387| Leninismus entstanden ist, sowie die Widersprüche des Kapitalismus, die unter den Bedingungen des Imperialismus ihren Kulminationspunkt erreicht haben; er zeigt gleichzeitig, wie diese Widersprüche dazu geführt haben, daß die proletarische Revolution zu einer Frage der unmittelbaren Praxis geworden ist und daß günstige Bedingungen für einen direkten Sturm auf den Kapitalismus geschaffen worden sind. Mehr noch, er zeigt durch seine Analyse, warum Rußland zur Wiege des Leninismus wurde, warum das zaristische Rußland damals der Konzentrationspunkt aller Widersprüche des Imperialismus war und warum gerade das russische Proletariat zur Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats werden konnte. Indem Stalin also das Allgemeine der Widersprüche analysiert, die dem Imperialismus innewohnen, zeigt er, daß der Leninismus der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution ist; indem er gleichzeitig die Besonderheit dieser allgemeinen Widersprüche, die dem Imperialismus des zaristischen Rußland eigentümlich war, analysiert, macht er klar, daß Rußland die Heimat der Theorie und Taktik der proletarischen Revolution wurde und daß die Allgemeinheit der Widersprüche gerade in dieser Besonderheit enthalten ist. Diese Stalinsche Analyse ist für uns ein Musterbeispiel der Erkenntnis der Besonderheit und der Allgemeinheit in den Widersprüchen und ihrer wechselseitigen Verbundenheit.

Marx und Engels sowie auch Lenin und Stalin haben in der Frage, wie die Dialektik auf das Studium objektiver Erscheinungen angewandt werden sollte, stets darauf hingewiesen, daß jede subjektive Willkür unzulässig ist, daß man von den konkreten Bedingungen, die der realen objektiven Bewegung innewohnen, ausgehen muß, um in diesen Erscheinungen die konkreten Widersprüche, die konkrete Stellung der beiden Seiten jedes Widerspruchs und die konkreten Wechselbeziehungen zwischen den Widersprüchen aufzufinden. Gerade weil unseren Dogmatikern ein solches Herangehen fremd ist, erleiden sie ständig Schiffbruch. Wir müssen aus der Niederlage der Dogmatiker die Lehren ziehen und diese Methode des wissenschaftlichen Herangehens an die Dinge meistern, denn dies ist die einzig richtige Forschungsmethode.

Die Beziehung zwischen der Allgemeinheit und der Besonderheit des Widerspruchs ist die Beziehung zwischen dem Gemeinsamen und dem Einzelnen im Widerspruch. Das Gemeinsame besteht darin, daß Widersprüche in allen Prozessen existieren, daß sie alle Prozesse von Anfang bis Ende durchdringen: Widerspruch – das ist die Bewe-
|388| gung, das Ding, der Prozeß und auch das Denken. Den Widerspruch in den Dingen verneinen hieße alles verneinen. Das ist eine allgemeine Wahrheit, gültig für alle Zeiten und alle Länder ohne Ausnahme. Hieraus entsteht der Charakter des Gemeinsamen, des Absoluten. Dieses Gemeinsame ist aber in allem Einzelnen enthalten, ohne das Einzelne kann es kein Gemeinsames geben. Kann das Gemeinsame bestehen, wenn alles Einzelne ausgeschlossen wird? Das Einzelne entsteht dadurch, daß jeder Widerspruch seine Besonderheit hat. Alles Einzelne ist bedingt, zeitweilig und daher relativ.

Diese Wahrheit vom Gemeinsamen und Einzelnen, Absoluten und Relativen ist die Quintessenz des Problems der den Dingen innewohnenden Widersprüche; diese Wahrheit nicht verstehen heißt die Dialektik ablehnen.

 


Mao Werke