Mao Werke


Mao Tse-tung:

DER WENDEPUNKT IM ZWEITEN WELTKRIEG*

 

(12. Oktober 1942)

 

* Ein von Genossen Mao Tse-tung für die Yenaner Tageszeitung Djidfang Jibao beschriebener Leitartikel.

Die Schlacht bei Stalingrad wird von englischen und amerikanischen Zeitungen mit der Schlacht bei Verdun verglichen. Der Ruhm des "Roten Verdun" ging durch die ganze Welt. Aber dieser Vergleich ist hier nicht am Platz. Die Schlacht bei Stalingrad, die jetzt im Gange ist, unterscheidet sich ihrem Charakter nach von der Schlacht bei Verdun im ersten Weltkrieg. Doch eins ist ihnen gemeinsam: Heute wie damals sind viele Menschen durch die Angriffsoperationen Deutschlands irregeführt und nehmen an, daß Deutschland noch den Sieg davontragen könne. Der erste Weltkrieg endete im Winter 1918, und noch im Jahre 1916 unternahm die deutsche Armee mehrmals Angriffe auf die französische Festung Verdun. Oberbefehlshaber dieser Operation war der deutsche Kronprinz, in die Schlacht wurden die Eliteeinheiten der deutschen Armee geworfen. Die Schlacht bei Verdun war entscheidend. Die deutsche Armee konnte trotz heftiger Angriffe die Festung nicht erstürmen, und das gesamte deutsch-österreichischtürkisch-bulgarische Lager fand keinen Ausweg mehr. Seine Schwierigkeiten wurden von Tag zu Tag größer, Rebellion kam auf, ein Zerfallsprozeß setzte ein, und schließlich kam es zum völligen Zusammenbruch. Damals hatte jedoch das englisch-amerikanisch-französische Lager diese Situation noch nicht erkannt, hielt deshalb die deutsche Armee nach wie vor für ungemein mächtig und wußte nicht, daß sein eigener Sieg schon nahe ist. Wie die Geschichte der Menschheit zeigt, führten stets die hart vor ihrem Untergang stehenden reaktionären Kräfte einen letzten Verzweiflungskampf gegen die revolutionären Kräfte, und es ließen sich wiederholt manche Revolutionäre eine Zeitlang dadurch irreführen, daß der innerlich Schwache äußerlich stark erscheint, und sie erkannten nicht das Wesen der Sache, daß nämlich der Feind seiner Vernichtung, sie selbst aber ihrem Triumph entgegengingen. Das Auftreten der gesamten faschistischen Kräfte und die von ihnen seit mehreren Jahren geführten Aggressionskriege stellen eben diesen letzten Verzweiflungskampf dar; im gegenwärtigen Krieg ist die Offensive gegen Stalingrad ihr letzter Verzweiflungskampf. An diesem historischen Wendepunkt lassen sich in der antifaschistischen Weltfront ebenfalls viele Menschen durch die grimmige Fratze des Faschismus irreführen und erkennen nicht sein wahres Wesen. Angefangen mit dem 23. August, als die deutschen Truppen den Übergang über den Donbogen beendet hatten und zum Generalangriff gegen Stalingrad antraten - ein Teil drang am y. September in den Industriebezirk im Nordwestteil der Stadt ein -, bis zum 9. Oktober, als das sowjetische Informationsbüro bekanntgab, daß die Rote Armee die Einkreisungslinie der deutschen Truppen in diesem Bezirk durchbrochen hatte, tobte achtundvierzig Tage lang ein erbitterter Kampf, der in der Geschichte der Menschheit nicht seinesgleichen hat. Die sowjetische Armee gewann endlich den Sieg in dieser Schlacht. Während dieser achtundvierzig Tage warteten Dutzende und Hunderte von Millionen Menschen mit atemberaubender Spannung auf die täglichen Meldungen über Sieg oder Rückschlag, die aus dieser Stadt kamen und den Menschen Freude oder Kummer bereiteten. Diese Schlacht ist nicht nur der Wendepunkt im sowjetisch-deutschen Krieg und nicht nur der Wendepunkt im gegenwärtigen Weltkrieg gegen den Faschismus, sondern auch ein Wendepunkt in der gesamten Menschheitsgeschichte. Während dieser achtundvierzig Tage war die Aufmerksamkeit der Völker der ganzen Welt noch mehr auf Stalingrad konzentriert als im Oktober vorigen Jahres auf Moskau.

Bis zu seinen Siegen an der Westfront schien Hitler Vorsicht an den Tag zu legen. Beim Angriff auf Polen, auf Norwegen, auf Holland, Belgien und Frankreich, beim Angriff auf den Balkan konzentrierte er jedesmal alle seine Kräfte auf ein Ziel und wagte nicht, sie zu zersplittern. Die Siege an der Westfront stiegen ihm zu Kopf, und er gedachte, die Sowjetunion in drei Monaten zu zerschlagen. Er unternahm den Angriff auf das mächtige sozialistische Riesenland an der ganzen Front von Murmansk im Norden bis zur Krim im Süden und zersplitterte auf diese Weise seine Kräfte. Mit dem Scheitern seines Angriffs gegen Moskau im Oktober vorigen Jahres endete das erste Stadium des sowjetisch-deutschen Krieges, und der erste strategische Plan Hitlers hatte Schiffbruch erlitten. Die Rote Armee brachte den vorjährigen Angriff der deutschen Truppen zum Stehen und unternahm im Winter eine Gegenoffensive an der ganzen Front. Das war das zweite Stadium des sowjetisch-deutschen Krieges. Hitler ging zum Rückzug und zur Verteidigung über. In dieser Zeit setzte Hitler seinen Oberbefehlshaber Brauchitsch ab, übernahm selbst den Befehl über die Truppen an der Front, beschloß, auf den Plan einer Offensive an der ganzen Front zu verzichten, und sammelte alle verfügbaren Kräfte aus Europa, um zu seinem letzten Angriff zu rüsten, der sich zwar auf die Südfront beschränken sollte, indessen als ein Schlag gegen die lebenswichtigen Zentren der Sowjetunion angesehen wurde. Da dieser Angriff den Charakter der letzten Offensive trug und von ihm die Existenz des Faschismus abhing, konzentrierte Hitler kolossale Kräfte und schaffte sogar einen Teil der Flugzeuge und Panzer heran, die in Nordafrika operiert hatten. Mit dem Angriff der deutschen Faschisten gegen Kertsch und Sewastopol im Mai dieses Jahres trat der Krieg in sein drittes Stadium. Nachdem Hitler eine Armee von mehr als 1500000 Mann zusammengezogen und ihr die Hauptmasse seiner Luft- und Panzerwaffe zugeteilt hatte, unternahm er einen ungemein erbitterten Angriff auf Stalingrad und den Kaukasus. Er versuchte, sich rasch Stalingrads und des Kaukasus zu bemächtigen, wobei er zwei Ziele verfolgte: die Wolga zu sperren und Baku in seinen Besitz zu bringen, um dann im Norden den Angriff auf Moskau zu unternehmen und im Süden zum Golf von Persien durchzubrechen. Dabei ließ er die japanischen Faschisten ihre militärischen Kräfte in der Mandschurei konzentrieren und darauf rüsten, nach Einnahme von Stalingrad Sibirien anzugreifen. Hitler ist von einer Wahnidee besessen: die Macht der Sowjetunion so weit zu schwächen, daß die Hauptkräfte der deutschen Armee an der sowjetischen Front frei werden und für den Fall einer englisch-amerikanischen Offensive an die Westfront geworfen werden könnten, daß der Nahe Osten mit seinen Hilfsquellen ausgeplündert werden und man die unmittelbare Verbindung mit Japan herstellen könnte; das würde gleichzeitig den Hauptkräften der japanischen Armee die Möglichkeit bieten, sich im Norden freizumachen und mit einem nunmehr gesicherten Hinterland nach dem Westen und Süden gegen unser Land bzw. gegen England und die USA vorzustoßen. Hitler beabsichtigte, auf diese Art und Weise den Sieg des faschistischen Lagers zu erringen. Was ist jedoch die reale Lage in dem gegebenen Stadium des Krieges? Hitler stieß auf eine für ihn verhängnisvolle Taktik der Sowjetunion. Die Sowjetunion nahm Kurs darauf, den Feind zuerst in die Tiefe ihres Landes zu locken und ihm dann hartnäckigen Widerstand zu leisten. In fünfmonatigen Kämpfen ist es der deutschen Armee weder gelungen, sich zu den Erdölgebieten des Kaukasus durchzuschlagen, noch vermochte sie, Stalingrad einzunehmen. Hitler wurde gezwungen, seine Truppen vor den hohen Bergen und vor den Mauern der uneinnehmbaren Stadt zu lassen, wo sie weder vor noch zurück können, riesige Verluste erleiden und in eine ausweglose Lage geraten sind. Wir schreiben bereits Oktober, der Winter naht, das dritte Stadium des Krieges ist bald zu Ende, und es wird das vierte Stadium beginnen. Ausnahmslos alle strategischen Pläne Hitlers gegen die Sowjetunion haben Schiffbruch erlitten. Während dieses Stadiums konzentrierte Hitler, in Anbetracht des Mißerfolgs, den er im vergangenen Sommer infolge der Zersplitterung seiner Kräfte erlitten hatte, seine Kräfte an der Südfront. Doch da er immer noch danach strebt, im Osten die Wolga zu sperren und im Süden sich des Kaukasus zu bemächtigen, das heißt mit einem Schlag zwei Ziele zu erreichen, zersplittert er nach wie vor seine Kräfte. Er gibt sich noch keine Rechenschaft über das Mißverhältnis, das zwischen seinen realen Kräften und seinen Gelüsten besteht, und ist daher jetzt in eine Sackgasse geraten: "Wenn die Lasten an beiden Enden der Tragstange nicht festgemacht sind, rutschen sie ab." Die Sowjetunion aber wird, umgekehrt, im Verlauf des Krieges immer stärker. Die weise strategische Führung Stalins hat voll und ganz die Initiative inne und treibt überall Hitler in den Untergang. Das vierte Stadium des Krieges, das in diesem Winter beginnt, wird Hitler ins Grab bringen.

Bei einem Vergleich der Lage Hitlers in dem ersten und in dem dritten Stadium des Krieges kann man sehen, daß er an der Schwelle der endgültigen Niederlage steht. Gegenwärtig hat die Rote Armee sowohl an der Stalingrader als auch an der Kaukasus-Front den Angriff der deutschen Armee tatsächlich schon zum Stehen gebracht, Hitler hat bereits den Atem verloren, und sein Angriff gegen Stalingrad und den Kaukasus ist gescheitert. Die militärischen Kräfte, die es ihm während der gesamten Winterperiode, seit Dezember vorigen Jahres bis Mai dieses Jahres, zusammenzuziehen gelang, sind bereits verbraucht. An der sowjetisch-deutschen Front wird der Winter in einem knappen Monat anbrechen, und Hitler muß eilig zur Verteidigung übergehen. Der ganze Raum westlich und südlich des Don ist für ihn höchst gefährlich, und die Rote Armee wird hier zum Gegenangriff übergehen. Von der Furcht vor dem Untergang gepeitscht, wird Hitler in diesem Winter wieder darauf aus sein, seine Truppen zu reorganisieren. Vielleicht gelingt es ihm auch, wenn er die jämmerlichen Überreste seiner Kräfte zusammenkehrt, noch einige neue Divisionen auszurüsten. Außerdem wird er sich an seine faschistischen Partner Italien, Rumänien und Ungarn - wenden und aus ihnen eine gewisse Menge Kanonenfutter herauspressen, um mit seiner gefährlichen Lage an der Ost- und Westfront fertig zu werden. Jedoch muß Hitler auf gewaltige Verluste im Winterfeldzug an der Ostfront und auf die Eröffnung der zweiten Front im Westen gefaßt sein; Italien, Rumänien und Ungarn indessen werden, wegen des unvermeidlichen Zusammenbruchs Hitlers pessimistisch gestimmt, mit jedem Tag immer weiter von ihm abrücken. Kurzum, nach dem 9. Oktober bleibt Hitler nur ein einziger Weg - der Weg ins Grab.

Die Verteidigung Stalingrads, das von der Roten Armee nun bereits achtundvierzig Tage behauptet wird, und die Verteidigung Moskaus im vergangenen Jahr haben etwas Gemeinsames. Das heißt, daß die Verteidigung Stalingrads die Pläne Hitlers für dieses Jahr ebenso durchkreuzt, wie die Verteidigung Moskaus seine vorjährigen Pläne über den Haufen warf. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß die Rote Armee zwar eine Winter-Gegenoffensive gleich nach der Verteidigungsschlacht um Moskau unternahm, aber noch einer Sommeroffensive der deutschen Truppen in diesem Jahr begegnen mußte; denn erstens hatten Deutschland und seine europäischen Partner noch gewisse Kräfte zur Verfügung und zweitens schoben England und die USA die Eröffnung der zweiten Front hinaus. Doch nach der Verteidigungsschlacht um Stalingrad wird die Lage ganz anders aussehen als die im vergangenen Jahr. Einerseits wird die Sowjetunion zu einer zweiten Winter-Gegenoffensive von riesigen Ausmaßen schreiten, werden England und die USA die Eröffnung der zweiten Front nicht länger hinausschieben können (obwohl noch immer nicht konkret festzustellen ist, wann sie eröffnet wird) und werden die Völker Europas ihrerseits bereit sein, darauf mit einem Aufstand zu reagieren. Andererseits haben Deutschland und seine europäischen Partner keine Kräfte mehr für einen Großangriff, und Hitler bleibt nichts anderes übrig als seine gesamte Linie auf die strategische Verteidigung umzustellen. Sobald aber Hitler gezwungen sein wird, zur strategischen Verteidigung überzugehen, wird es mit der Existenz des Faschismus vorbei sein. Das politische und militärische Leben eines faschistischen Staates, wie es der Hitlerstaat ist, beruht von dem Tag an, da er auf die Welt kommt, auf dem Angriff, und mit der Beendigung des Angriffs endet auch sein Leben. Die Stalingrader Schlacht wird den faschistischen Angriff zum Stehen bringen und hat daher entscheidenden Charakter. Dieser Charakter ist für den gesamten Weltkrieg von entscheidender Bedeutung.

Hitler stehen drei mächtige Feinde gegenüber: die Sowjetunion, England und die USA sowie die Volksmassen in den von den deutschen Faschisten okkupierten Gebieten. Wie eine unzerstörbare Mauer steht an der Ostfront die Rote Armee, deren Gegenoffensive den ganzen zweiten Winter andauern und auch weiterhin fortgesetzt werden wird. Das sind Kräfte, die für den ganzen Krieg und für die Geschicke der Menschheit von entscheidender Bedeutung sind. Mögen an der Westfront England und die USA immer noch die Politik des Abwartens und Zögerns befolgen; sobald die Zeit gekommen ist, da man auf den bereits erlegten Tiger einschlagen kann, wird immerhin die zweite Front eröffnet werden. Hitler steht auch noch eine innere Front gegenüber, und zwar der große Volksaufstand, der in Deutschland, Frankreich und in anderen Teilen Europas heranreift. Sobald die allgemeine Gegenoffensive der Sowjetunion beginnt und die Geschütze an der zweiten Front losdonnern, werden die Völker Europas darauf mit einer dritten Front reagieren. Der zangenförmige Angriff gegen Hitler von diesen drei Fronten her - das wird der große historische Prozeß sein, der sich nach der Schlacht bei Stalingrad vollziehen wird.

Das politische Leben Napoleons endete bei Waterloo, aber der entscheidende Wendepunkt war seine Niederlage in Moskau.1 Jetzt geht Hitler den Weg Napoleons, und es ist die Schlacht bei Stalingrad, die seinen Untergang vorausbestimmt.

Eine solche Lage wird sich unmittelbar auf den Fernen Osten auswirken. Das kommende Jahr verheißt auch dem japanischen Faschismus nichts Gutes. Es wird ihm von Tag zu Tag immer mehr Kopfschmerzen bereiten, bis auch er schließlich ins Grab sinken wird.

Jeder, der die internationale Lage pessimistisch einschätzt, muß seine Ansichten ändern.

ANMERKUNGEN

 

1) Im Juni 1815 kam es bei Waterloo im Süden Belgiens zu einer erbitterten Schlacht zwischen der Armee Napoleons und den vereinigten englisch-preußischen Truppen. Napoleon erlitt eine Niederlage und wurde auf die Insel St. Helena im Südteil des Atlantischen Ozeans verbannt, wo er im Jahre 1821 starb. Napoleon hatte im Verlauf seines Lebens eine Reihe europäischer Staaten bezwungen, erlitt aber 1812 im Laufe seines Feldzugs gegen Rußland eine gewaltige Niederlage in Moskau. Die Elitetruppen seiner Armee wurden fast völlig vernichtet. Von diesem Schlag konnte sich Napoleon nicht mehr erholen. Über die Niederlage Napoleons in Moskau siehe Anmerkung zu der Arbeit "Über den langwierigen Krieg", Ausgewählte Werke Mao Tse-tungs, Bd. II, S. 228.

 

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