Arbeitskreis des AStA der Universität
Bremen
Abschrift eines Vortragmitschnittes
Sabine Kebir
Ursprünglich war gewünscht, daß ich über Gramscis
Konzept der organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse spreche. Das habe ich
jetzt schon umgeändert, weil wir den Begriff der Arbeiterklasse heute völlig
anders definieren müssen als es zu Gramscis Zeiten möglich war.
Ich möchte aber trotzdem nicht darauf verzichten, Gramscis Konzept
historisch darzustellen. Das halte ich für ausgesprochen wichtig, um vor überschnellen
Aktualisierungen zu warnen. Der Mann ist immerhin schon über 50 Jahre tot.
Die Gefängnishefte entstanden im faschistischen Kerker. Die Phase der
politischen Aktivität Gramscis liegt noch weiter zurück. Seit dem hat
sich in der Welt ja einiges vollzogen. Trotzdem hat es wenig Zweck, das jetzt so
in abstrakto gleich darzustellen, was vielleicht heute noch aktuell ist
Ich möchte vielleicht nur einige Axiome vorausschicken, die Gramsci selber
aufstellt, die man sozusagen schon im Hinterkopf haben sollte, wenn man das hört,
was ich da noch erzähle.
Gramsci hebt die traditionelle, heute auch
noch übliche Teilung der Menschen in Intellektuelle und Nichtintellektuelle
auf. Er sagt, von Intellektuellen würde man in dem Sinne nur sprechen
sollen im Zusammenhang mit einer sozialen Funktion. Aber an sich ist jedes
menschliche Leben und jede menschliche Tätigkeit eine intellektuelle Tätigkeit
und insofern ist jeder Mensch befähigt, autonom und intellektuell zu
denken. Das ist ganz wichtig. diese Aufhebung macht er ja auch für die
Philosophie an sich. Er sagt ja auch, daß jeder Mensch ein Philosoph ist.
Damit trat er nicht nur gegen das gesamte traditionelle Denken auf, sondern
auch gegen ein ganz spezielles Vorurteil, daß im Zusammenhang mit dem
Niveau der Industrialisierung zu seiner Zeit stand, nämlich mit der Einführung
des Fließbandsystems, des Taylorsystems - darüber schreibt er auch
eine ganze Menge - und auch des Fordismus. Es bestand die Vorstellung oder auch
die Sorge, daß der Mensch, der am Fließband oder überhaupt in
immer mehr automatisierten Systemen arbeitet, ein sogenannter dressierter
Gorilla wird; nur noch ein Bestandteil der Maschine, der nur noch darauf
reagiert, was die Maschine ihm sagt. Das hält Gramsci prinzipiell als
Gedanken für nicht akzeptabel. Er sagt, daß auch der Mensch, der in
diese Arbeitszusammenhänge verwickelt ist, nicht endgültig zum
dressierten Tier wird, sondern Mensch bleibt mit der Potentialität, autonom
über sich und seine Umwelt, natürlich auch über seine Arbeit,
nachzudenken. Das ist sozusagen die optimistische Grundlage, auf der Gramscis
Denken von vornherein steht.
Das ist der demokratische Kern, denn, wie
gesagt, Intellektuelle werden auf diese Weise nicht prinzipiell als abgehobene
Kaste gedacht, sondern es wird ein fließender Übergang innerhalb der
menschlichen Gattung geschaffen; einen Weg, den jeder Mensch beschreiten kann.
Zum Denken über die Gesellschaft, über die Situation, in der man ist
und auch zum Nachdenken, wie die Welt verändert werden kann.
Dem
stehen natürlich schon damals und auch seit Gramscis Tod gewichtige
Theorien entgegen. Für Deutschland ganz besonders das Denken, was aus der
Frankfurter Schule, insbesondere in vulgarisierter Form, hervorgegangen und auch
weit verbreitet ist - also der Kulturpessimismus. Daß nicht nur der das
Denken verkrüppelnde Arbeitsprozess selbst, sondern auch die manipulativen
Gewalten durch die Medienherrschaft und so weiter das Denken der Menschen nicht
im emanzipativen Sinne, sondern im sytemstabilisierenden Sinne entwickeln, und
daß es da gar kein Ausbrechen mehr gäbe.
Gramsci befasste sich
auch schon mit dem modernen Medienapparat. Er sah diese Gefahr auch, daß
von ihm große manipulative Gewalten ausgehen, die das Denken
systemstabilisierend errichten. Er hält aber diese optimistische Öffnung
dar, daß es doch Möglichkeiten gibt, daß sich das Denken anders
entwickelt. Wie kann das aber anders organisiert werden, wie kreativ werden? Das
ist natürlich dasselbe Problem, vor dem wir heute nach wie vor stehen.
Vielleicht noch einmal kurz zur Begriffsklärung. Unter organischen
Intellektuellen versteht er die Intellektuellen, die sich mit ihrer Konzeption
eng an die Interessen einer Klasse binden. Historisch bringen nach Gramsci viele
Klassen, nicht alle, eine Schicht von Intellektuellen hervor, die sowohl die
bestehende Situation als auch die Perspektivsituation dieser Klasse versuchen
theoretisch zu formulieren, daraus eine Philosophie zu entwickeln und auch
praktische Programme und so weiter.
Es sind nicht alle Kassen automatisch
in gleicher Weise fähig, organische Intellektuelle hervorzubringen.
Beispielsweise hat der Feudalismus viele Intellektuelle hervorgebracht. In
Italien fällt das weitgehend zusammen mit dem Klerus und den Entwicklungen
in der Kirche. Auch das Bürgertum hat natürlich viele organische
Intellektuelle hervorgebracht. Die Arbeiterklasse kann sich nicht so einfach
organische Intellektuelle schaffen wie das Bürgertum. Aus ganz
vordersichtlich ersichtlichen Gründen: sie verfügt nicht automatisch über
eigene Bildungsinstitutionen und so weiter. Große Schwierigkeiten, eigene
organische Intellektuelle hervorzubringen haben beispielsweise auch die Bauern.
Organischer Intellektueller heißt jetzt nicht, daß man auch aus
dieser Klasse stammt. Die Abstammung spielt hier nicht die entscheidende Rolle,
sondern das Wirken für eine bestimmte Gruppe oder eine bestimmte Klasse.
Gramsci entwickelt das alles aus dem nationalen Kontext, aber da können
wir, glaube ich, verallgemeinern. Den organischen Intellektuellen stehen die
sogenannten traditionellen Intellektuellen gegenüber, die sich scheinbar
nicht so eng an eine Klasse gebunden haben. Die sozusagen an einem ewigen Band
der Philosophie oder des Denkens, der Literatur weiterspinnen. Die eher mit den
klassischen Traditionen oder überhaupt mit dem Denken der Vergangenheit
verbunden sind und daraus dann wieder neues Denken entwickeln, von dem man hier
und da natürlich nachweisen kann, daß es doch auch praktisch
eingebunden ist in die Interessen bestimmter aktueller Klassen. Oder aber es ist
ein unpraktisches Denken, was zwischen allen Stühlen steht.
Von Ihm
stammt, um die Kategorie der traditionellen Intellektuellen zu beschreiben, das
schöne Wort: "Manche Intellektuelle stehen irgendeinem Schriftsteller
aus der Antike oder auch aus dem 12. oder 15. Jahrhundert näher als einem
apulischen Bauern der eigenen Generation." Ich glaube, es wird klar, was
damit gemeint ist. Es ist damit auch die Selbststilisierung des Intellektuellen
gemeint, der glaubt, unabhängig von bestehenden Klassenverhältnissen
und Machtverhältnissen zu sein; der vorgibt, unparteiisch zu sein und über
allem zu stehen und nur der intellektuellen Tradition verpflichtet zu sein. Aber
auch so ein Intellektueller kann sich natürlich letztlich als organischer
Intellektueller einer Klasse erweisen. Gramsci selber setzt sich mit der
neoidealistischen Philosophie von Benedetto Koche auseinander, der scheinbar als
traditioneller Intellektueller fernab von den Parteienkämpfen seiner Zeit
ein neoliberales Konzept entwickelt. Aber man kann an vielen Punkten nachweisen,
daß Koche bestimmte Interessen eines bestimmten italienischen Bürgertums
vertritt.
Diese beiden Kategorien können sich also überschneiden.
Das war ein großes Problem für Gramsci, der recht früh Sozialist
war. Wie können organische Intellektuelle der Arbeiterklasse entwickelt
werden und wie kann überhaupt eine historische Wirksamkeit zustande kommen?
Von einem organischen Intellektuellen einer neuen aufstrebenden Klasse erwartet
Gramsci sowohl die Kritik der bestehenden Kultur und Zivilisation - wobei der
Kulturbegriff so weit gefaßt ist, daß er praktisch mit Zivilisation übereinstimmt
- als auch Entwicklung des Denkens über eine neue Kultur, wie die
Gesellschaft umgestaltet werden kann. Dies wären also die Aufgabe von
organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse. Damit ist Kultur und auch die
aufgabe von Intellektuellen für Gramsci nicht mehr ein simples Spiegelbild
der Entwicklung in der ökonomischen Basis, wie es im Vulgärmarxismus
der Fall gewesen ist. Einem Denken und einem Phänomen, was auch sein
praktisches Problem in der Arbeiterbewegung gewesen ist. Das galt es zu überwinden.
Gramsci kam 1912 aus Sardinien als Stipendiat des Königs nach Turin. Er
gehörte einer ganz armen Gesellschaftsschicht an, die sich eigentlich ein
Studium für den Sohn nicht erlauben konnte. Aber es gab im damaligen System
für hochbegabte Kinder der Armen manchmal Stipendien und so ein Stipendium
hatte er bekommen. Er kam aus der unterentwickelsten, ganz und gar bäuerlich
geprägten Region Italiens in das modernste Industriezentrum des damaligen
Italiens. Turin war schon damals der Sitz der Fiat und man stellte auch schon
Autos her. Es war auch das Industriegebiet mit der praktisch und theoretisch höchst
entwickelsten Arbeiterbewegung in Italien.
Er wurde auch relativ früh,
wahrscheinlich schon 1913, Mitglied der sozialistischen Partei, die sich aber in
einer Phase des Legalismus befand, die ihr, ähnlich wie der heutigen
Sozialdemokratie, letztlich gar keine Intervention auf die Wirklichkeit mehr
erlaubte. Gesellschaftsveränderung war zur Phraseologie verkommen.
Insbesondere wurde das Bild der neuen Gesellschaft nicht wirklich entworfen. Man
stellte sich beispielsweise vor, daß Kultur und natürlich auch eine
neue Intellektualität überhaupt erst entstehen würde, wenn eine
sozialistische Gesellschaft entsteht. Das Bild der Gesellschaft wurde als
Spiegelbild der bestehenden Verhältnisse gesehen. Wenn die sozialistischen
oder sozialdemokratischen Parteien in Italien überhaupt Kulturkonzepte
hatten, dann war das im Grunde genommen immer nur als ein Nachholbedarf der
Arbeiterklasse in Bezug auf die bürgerliche Kultur konzipiert.
Das
hatte auch die deutsche Arbeiterbewegung ganz stark. Man versuchte
beispielsweise Volkshochschulen zu organisieren, die aber nur mehr oder weniger
Nachhilfeunterricht in bürgerlicher Kultur gaben. In Deutschland kann man
das sogar bis zu Rosa Luxemburg verfolgen. Sie popularisierte praktisch die
russischen bürgerlichen Schriftsteller in der deutschen Arbeiterklasse. Man
war weit entfernt von einer Selbstdefinition der Arbeiterklasse oder daß
man aktive Kulturleistungen von der Arbeiterklasse selbst erwartete. Das sah man
als unmöglich an und dafür wurde im Rahmen der Partei nichts getan.
Gramsci war von vornherein gegen eine solche Auffassung, weil er darin einen
historischen Solpsismus erkannte. Er sagte, wenn die Elemente nicht auf breiter
Ebene gedacht und entwickelt werden dann kann sich auch eine neue
Gesellschaftsordnung nicht entfalten,.
Dann kam der Erste Weltkrieg. Die
revolutionäre Entwicklung in Russland war in Gramscis Augen zunächst
einmal ein Durchbrechen des sozialdemokratischen Prinzips und des
sozialistischen Prinzips, was doch auf Evolution und auf ein allmähliches
Aufweichen der bürgerlichen Gesellschaft ausgerichtet war. Zunächst
große Anerkennung des bolschewistischen Modells. Informationen waren ja
nicht so möglich wie heute. man hatte teilweise keine richtigen
Vorstellungen, was da eigentlich in Russland geschah.
Das war jetzt keine
Sache, die individuell von Gramsci ausging, sondern es ging eine große
Inspiration von der russischen Revolution aus. Nicht nur nach Deutschland, wo es
ja bekannt ist, sondern auch nach Italien. Es hat ja auch die ungarische Räterepublik
gegeben. Es gab ein Überspringen dieses revolutionären Funkens.
In Norditalien, insbesondere in Turin, hatte das die Bildung einer Rätebewegung
zufolge. Es entstanden also in Turin, aber auch in anderen Zentren Norditaliens,
Soldaten- und Fabrikräte, die sich einbildeten, das russische Modell, daß
sie für ein Rätemodell hielten, auf Italien zu übertragen. Es kam
sogar zur Besetzung der Fiat, die mehrere Monate anhielt und währenddessen
sogar unter Arbeiterkontrolle weiter produziert wurde. Es bestand die Hoffnung,
daß sich das über ganz Italien ausbreiten würde. Nun war es aber
so, daß die Sozialistische Partei an der Ausbreitung des Rätesystems
kein Interesse hatte. Sie fühlte sich selbst davon angegriffen. Sie hatte
sozusagen ein patriarchalisches, avantgardistisches Bild der sozialistischen Umwälzung
und nicht daß Arbeiter mit Basisdemokratie die Produktion in Besitz nehmen
oder kontrollieren. Die Sozialistische Partei diente in keinster Weise als
Verbreitungsstruktur des Rätemodells. Insofern gab es große
Schwierigkeiten, das Modell beispielsweise in die südlichen Regionen zu
tragen.
Interessant für unser Thema ist jetzt, daß die Rätebewegung
auch über eine Zeitschrift verfügte. Gramsci war damals Leiter der
Turiner Sektion der Sozialistischen Partei, die praktisch aus dem, was die
Partei sonst machte, ausscherte. Und er war auch an der Konzeption dieser
Zeitschrift beteiligt. Sie hieß "Ordene nuovo", Neue Ordnung,
und bestand nicht nur beispielsweise aus Berichten von Arbeiterkorrespondenten
aus diesen besetzten Betrieben selbst, sondern hatte auch große
Kulturteile, teilweise mit Autoren aus dem internationalen Spektrum. Vorwiegend
natürlich pazifistische Autoren, in Italien war seit 1915, 1916 eine starke
Antikriegsbewegung entstanden. Aber das eigentlich Originelle war, daß
auch Arbeiter selber schrieben, auch Dinge, die jetzt nicht vordergründig
politisch waren. Beispielsweise schrieb ein Arbeiter eine Kriminalgeschichte.
Und es gab auch Fortsetzungsgeschichten. Arbeitergedichte. Arbeitergedichte
wurden gebracht. Es war also der Versuch, mikrokosmisch verschiedene Elemente
einer neuen Kultur - und zwar nicht nur durch große Intellektuelle, die
mit der Arbeiterklasse sympathisierten - zustandezubringen, sondern auch durch
diese Eigenaktivität, deren Förderung natürlich im Rätegedanken
von vornherein vorhanden war.
Um die bürgerliche Kultur zu zerstören
und ihr etwas Neues entgegenzusetzen, gab es natürlich zunächst einmal
sehr wenig. Da war dieser Zerstörungsgedanke, daß die bürgerliche
Kultur in ihren Formen wie sie eben war, schockiert und zerstört werden mußte.
Das ist auch bei Gramsci ein ganz starker Impuls gewesen, der ihn von
Jugend an, also schon 1911, 1912, zum Anhänger des Futurismus machte. Die
italienischen Futuristen waren zunächst aus der anarchistischen Bewegung
hervorgegangen. Darüber hat man leider außer ein paar Äußerungen
von Gramsci nur sehr wenige Materialien, daß die ersten futuristischen
Veranstaltungen 1909, 1910 großes Aufsehen erregten, Polizeiaufgebot. Das
Bürgertum war empört. Gramsci schreibt, daß teilweise Arbeiter
die futuristischen Veranstaltungen verteidigt haben sollen. Das ist natürlich
hochinteressant. Man kann nicht sagen, daß die futuristische Bewegung zu
der Zeit klare Forderungen der Arbeiterbewegung weitertransportiert hätte.
Sie wollte sozusagen nur die bürgerliche Kultur zerstören. Sie sah das
als eine wichtige revolutionäre Aufgabe an. Das ist auch bei Gramsci spürbar,
indem er bis weit in der ersten Weltkrieg hinein, sogar noch kurz danach, die
Futuristen verteidigt. Obwohl er selber auf Antikriegspositionen stand und ein
großer Teil der Futuristen, da beginnt nämlich schon die
Faschismusproblematik, sich als begeisterte Kriegsanhänger herausstellten.
Die Epoche, wo wir den Futurismus kennen und wahrgenommen haben, da waren führende
Futuristen, insbesondere Marionetti, bereits große Verteidiger und Ästheten
des Krieges und gingen dann auch in die faschistische Bewegung über.
Nun war es aber so, daß der Zerstörungs- und provokative Aspekt von
Gramsci noch lange positiv wahrgenommen wurde. Wobei in der Rätezeit noch
etwas anderes dazukommt, was jedoch kulturhistorisch eigentlich ineinanderfließt,
und zwar Inspirationen vom russischen Proletkult. Die Oktoberrevolution war zunächst
nicht nur ein bolschewistischer Staatsstreich, sondern es gab ja auch Räte.
Aus dieser Rätebewegung entwickelte sich der Proletkult. Also auch mit der
Idee, daß die neue Kultur nicht von einer Avantgarde vorgeformt,
vorgedacht und dann dem Volk verabreicht werden sollte, sondern daß eine
Eigenaktivität, Selbstausdruck der Arbeiterklasse zugelassen und gefördert
werden mußte. In dieser Zeit wird der Futurismus bei Gramsci von der
Proletkultidee abgelöst.
Man bekommt den Proletkult in den Ordene
Nuovo hinein, wobei die Futuristen so um 1920 herum noch schwankten. Die
Verbindungen zur Arbeiterklasse müssen noch sehr stark gewesen sein, weil
Marionetti, der bereits mit Mussolini befreundet war, in einer Phase, wo er sich
mit ihm wieder einmal zerstritt, die Turiner Sektion des Proletkult besuchte und
dort behauptete, daß die Arbeiter die futuristische Idee viel besser verstünden
als das Bürgertum. Es ist auch ein Schwanken der Positionen bei den
Futuristen dagewesen.
Das also zunächst mal zu den frühen
Formen von Kulturkonzeptionen von Gramsci, wo auch schon die Rolle der
Intellektualität - man kann nicht mehr von der Rolle des Intellektuellen
sprechen - daraus hervorgeht.
Um zu zeigen, was weiter passierte, muß ich wieder etwas historisch
ausholen. Diese norditalienische Rätebewegung mit Turin als Zentrum hatte
verschiedene Ausformungen. Es kam nicht überall zu Fabrikbesetzungen wie in
Turin. Aber beispielsweise Bologna erlebte auch eine Art der Revolution, in dem
dort linke Sozialisten die Macht übernahmen und die ganze Stadt
beherrschten und auch großen Einfluß auf die Organisation der Arbeit
hatten. Das weiß ich zufälligerweise aus anderer Quelle, weil ein
Teil der Aktivisten der ungarischen Räterepublik, die zusammengebrochen
war, nicht in die Sowjetunion, sondern nach Norditalien ging. Dazu habe ich mal
geforscht.
Die ungarischen Revolutionäre wurden also von dieser
sozialistischen Stadt Bologna aufgenommen und bekamen dort nicht nur
Lebensunterhalt, sondern auch Arbeit. Dort haben sie über 1 1/2 Jahre in
einem sozialistischen Modell, was von dieser sozialistischen Stadtverwaltung
durchgesetzt wurde, gelebt. Unter anderem auch die Frau von Bela Khun, er selber
war wohl schon in Russland. Andere Aktivisten der ungarischen Räterepublik
sind als Emigranten in den Genuß einer recht gut funktionierenden
sozialistischen Stadt Bologna gekommen.
Es war eine starke
norditalienische Bewegung. Teilweise kam es sogar zur Gründung von Bauernräten.
Das stellte natürlich ein Problem für die bürgerliche Republik
Italien dar, die sich damals unfähig zeigte, mit der Situation politisch
fertig zu werden. Man konnte verhindern, daß sich diese revolutionäre
Bewegung nach Süden ausbreitete, aber man kriegte sie nicht tot. Es war
schwer, dagegen vorzugehen. In diesem Zusammenhang kam es zu einem Zusammengehen
des noch demokratisch organisierten bürgerlichen Staates mit der
faschistischen Bewegung. Das ist jetzt etwas ganz Wichtiges für die spätere
Entwicklung bei Gramsci. Er erlebte das schon viel früher als es in
Deutschland relevant wurde.
Wie alle sozialdemokratischen Parteien Europas
mußte auch die sozialistische Partei damals eine Position zum Ersten
Weltkrieg entwickeln. Die italienische Partei machte es etwas anders als die
anderen sozialistischen Parteien. Als die Deutsche, die dann plötzlich den
Kriegskrediten zustimmte, als die Französische, die das auch tat. In
Italien war das Selbstbewußtsein, den Krieg gewinnbringend führen zu
können, nicht so stark ausgeprägt wie in diesen Ländern. Es gab
große Zweifel am Sinn des Krieges. die Partei reagierte darauf, indem sie
sagte, wir nehmen am Krieg nicht aktiv teil, aber wir sabotieren ihn auch nicht.
Wir werden den Krieg nicht unterstützen und auch nicht sabotieren. Also
praktisch eine vollkommen passive Haltung zum Krieg.
Mussolini gehörte
aber zu dem Teil der Sozialisten, die sagten, nein, Italien muß aktiv am
Krieg teilnehmen. Italien braucht Kolonien. Da steht natürlich schon
dieselbe Demagogie dahinter, die dann auch bei Hitler eine Rolle gespielt hat,
die in Deutschland überhaupt, auch schon im Ersten Weltkrieg, eine Rolle
spielte, daß man sich die Lösung der sozialen Probleme nur über
Intervention in anderen Ländern und die Ausbeutung anderer Länder
vorstellen konnte, insbesondere durch die Eroberung von Kolonien. Das war eine
Gedanke, der auch Sozialisten nicht fremd war. Insbesondere in Italien nicht, wo
man das Problem der Landreform nicht gelöst hatte. Die Bauern hatten immer
noch kein Land bekommen. Es bestand praktisch immer noch ein Feudalsystem im Süden.
Um sich um die Landverteilung weiterhin drücken zu können, propagierte
die Bourgeoisie natürlich die Wiedererrichtung des römischen Reiches
mit den nordafrikanischen Kolonien. Dem waren auch Teile der Sozialisten im
Prinzip nicht abgeneigt. Zu diesem Teil gehörte Mussolini. Er wurde
allerdings aus der Partei ausgeschlossen, weil das nicht der offiziellen
Parteilinie entsprach.
Von diesem Moment an beginnt praktisch die
Entwicklung des Faschismus. Er begründete dann gleich selbst den Popolo
D'Italia, was dann später die große faschistische Zeitschrift wurde.
die soziale Bewegung, die er um sich scharte, Das Eigenartige war, daß es
Mussolini gelang, durch den ganzen Krieg - und auch noch nach dem Krieg, etwa
bis 1919 - allgemein als Linker zu gelten. Aber nicht als passiver Linker. Das
Verhalten der Sozialistischen Partei war natürlich eigentlich Passivität
und Aufgabe einer eigenen Konzeption. Sie entwickelten ja auch keine lenin'sche
Position - der sagte, wir nehmen am Krieg nicht teil, werden aber irgendwann die
Situation ausnutzen, um zur Revolution zu kommen. Das machte die Sozialistische
Partei auch nicht. Mussolini bot also etwas an. Er blieb nicht passiv. Er galt
als linker Aktivist und konnte insbesondere in den allerunterprivilegiertesten
Schichten Anhänger werben.
Die faschistische Bewegung selbst
entstand so ab 1916, 1917, wo die Kriegsmüdigkeit und die materiellen
Probleme schon sehr groß geworden waren. Im Süden gab es starke
Unruhen, Landbesetzungen, Bauernaufstände, gegen die sich wiederum die
Gutsherren schützten, indem sie Privatmilizen aus Landarbeitern
aufstellten. Die Gutsherren schufen sich gegen die Bauernaufstände
Privatmilizen, die sich Pasci, Bünde auf italienisch, nannten. Das waren
praktisch schon außerlegale Kräfte, denn der italienische Staat war
schwach und konnte mit diesen Bauernaufständen nicht fertig werden. Dadurch
kam es zu diesen Privatmilizen.
Nachdem es 1818, 19, 20 zu den Rätebewegungen
gekommen war, war es die große Idee, daß dieses Modell, was im Süden
funktioniert hatte, jetzt auch für den Norden anzuwenden. In der Tat ist
dann die norditalienische Rätebewegung durch eine ganz fiese Kombination
staatlicher legaler Gewalt mit illegaler faschistischer Gewalt erstickt worden.
In Norditalien wurden insbesondere aus den 4 1/2 Millionen Kriegsheimkehrern,
die wirtschaftlich nicht integriert werden konnten und für die es keine
Sozialsysteme gab, rekrutiert. Es war relativ leicht, extrastaatliche Milizen zu
gründen, diese zu bewaffnen und dann gegen die Arbeiterbewegung
einzusetzen. Indem die Büros angezündet, die Menschen, die dafür
waren, ermordet wurden usw. ist die Rätebewegung besiegt worden. Ungefähr
Anfang 1920 war sie dann tot.
Zu dem Zeitpunkt war Mussolini natürlich
noch nicht an der Macht. Aber ihr könnt euch vorstellen, daß er von
diesem Moment an natürlich Anwärter auf die Macht war. Und so kam es
dann auch, daß er genau wie Hitler zunächst von der Industrie als
vulgär und nicht salonfähig angesehen wurde. Aber die sozialen
Probleme liessen sich ja nicht lösen. Schon 1921, 1922 kam es zu offenen Übertritten
eines Teiles der italienischen Bourgeoisie und dann auch des Königs zum
Faschismus. 1922 wurde Mussolini Ministerpräsident. Allerdings blieben das
Parlament und die bürgerlichen Parteien, aber auch die Arbeiterparteien,
das ist wichtig, bis Ende 1926 legal und erhalten. Wobei sich für die
Arbeiterparteien diese Situation, daß es starke faschistische Terrorkräfte
gab, die blendend organisiert waren, sich dahingehend auswirkte, daß die
Arbeiterbewegung nur noch im Parlament vertreten war. Die praktische Tätigkeit
war schon fast unterbunden, weil dieser Terror natürlich weiterwirkte.
Ein großes Problem, dem sich Gramsci nun zu stellen hatte, das 10 Jahre
früher als Deutschland als Problem auftauchte war, wieso dann doch so große
Teile des Volkes sich in den Faschismus einbinden liessen. Wie die Volksbewegung
von populistischen Manipulationen praktisch nicht nur gespalten, sondern in ganz
neuer Richtung gelenkt werden konnte. Warum das überhaupt möglich war
und warum das den Sozialisten nicht gelungen war. In diese Richtung gehen viele
Sachen, die er dann im Gefängnis geschrieben hat. Das ist sehr schwer zu
lesen. Er saß ja im faschistischen Gefängnis und mußte damit
rechnen, daß das gelesen wurde. Es wurde ja auch gelesen. Die
Auseinandersetzung mit dem Faschismus ist am Ende in einer so vorsichtigen
Sprache geschrieben, daß es heutzutage, besonders aus dem historischen
Anstand heraus, ganz schwer zu rezipieren ist. Aber das ist ein anderes Problem.
Ich will es trotzdem als Grundproblem benennen, was sich durch diese Gefängnishefte
zieht.
Ein großes Problem des 20. Jahrhunderts, die großen
Volksbewegungen, die jetzt offensichtlich auf die verschiedensten Weisen
manipuliert werden können.
Jetzt möchte ich mal wieder eine
theoretische Seite, natürlich in Anschluß an konkrete historische
Probleme, ansprechen. Ich muß jetzt einen Sprung machen. Es stellt sich
jetzt nicht nur das Problem, wieso der Faschismus relativ schnell eine
Massenbasis bekommen konnte, was Gramsci größtenteils aus der
desolaten Situation, die nach dem Krieg entstand, erklärte. Obwohl Italien
zu den Kriegssiegern gehörte, war die italienische Wirtschaft am zerrüttetsten
von allen, die den Krieg gewonnen hatten. Ähnlich wie Deutschland, obwohl
Deutschland der Verlierer war. Es gab keine Integration der Menschen und so
weiter.
Jetzt stellt sich das Problem, wieso hatte die sozialistische
Revolution in Russland gesiegt. Das stellte sich damals ja noch als historischer
Sieg dar. Und wieso sie sie in Westeuropa nicht gesiegt hatte, insbesondere in
Italien.
Gramsci kommt relativ schnell, schon anfang der 20er Jahre - zunächst
nicht in theoretischen Termini, sondern ganz praktisch - zu einer Schlußfolgerung,
die für alle weiteren Konzepte sehr wichtig ist. Er sagt, daß es in
Russland relativ leicht war. Es stellte sich ihm schon dar, daß das mehr
oder weniger ein Staatsstreich war. Daß das so eine umfassenden Umwälzung,
die man sich unter einer Revolution vorstellt, eigentlich nicht war. Aber daß
die Mobilisierung von großen Menschenmassen gegen das zaristische System
in Russland wesentlich leichter war als die Mobilisierung von ähnlichen
Menschenmassen in einem westeuropäischen Land. Als Hauptgrund sieht er die
Existenz der sogenannten Zivilgesellschaft an, die in Russland noch gar nicht
oder höchst unterentwickelt war und in Westeuropa, aber auch bereits in
Italien, bereits eine relativ starke Entwicklung hatte.
Ich muß
jetzt mal kurz eine Definition einschieben. Zivilgesellschaft sind im übertragenen
Sinne alle Vereine und Assoziationen, in denen Menschen sich freiwillig
zusammenschließen (und natürlich auch wieder austreten können)
und politisch/kulturell tätig werden. Zur Zivilgesellschaft sind aber nicht
nur die Formen zu rechnen, sondern er spricht auch von Inhalten. Beispielsweise
der Inhalt einer Partei oder eines Parteiprogrammes, aber auch kulturelle
Inhalte werden auch unter dem Begriff "zugehörig zur Zivilgesellschaft"
abgehalten. Das ganze moderne Parteienwesen, das allgemeine Wahlrecht ist erst möglich,
wenn eine Zivilgesellschaft besteht. Die Zivilgesellschaft stellt sich
theoretisch als eine vom Staat unabhängige Gesellschaft dar. Sie ist aber
natürlich doch aufgrund der ökonomischen und finanziellen Machtausübung,
die der Staat in die Zivilgesellschaft hinein ausübt, von ihm gegängelt
und abhängig. Aber prinzipiell entstehen Zivilgesellschaften im Gefolge der
französischen Revolution, indem ein gesellschaftlicher Sektor entsteht, in
dem eine Privatheit und bestimmte Entscheidungsräume den Individuen
zugestanden werden. Für Gramsci ist dabei völlig klar, er hat darüber
auch viele historische Forschungen gemacht, daß die Zivilgesellschaft in
ihrer modernen Form mit der französischen Revolution noch gar verwirklicht
gewesen ist. Das war eine Forderung. Selbst die französische Revolution führt
im Endeffekt erstmal nur zu einem Zensuswahlrecht, also daß man einen
bestimmten Besitz haben muß, um überhaupt eine Stimme zu haben. Die
französische Revolution, die Jakobinerdiktatur verbietet die
Assoziationsfreiheit für Arbeiter. Allgemeine Mobilität wird auch noch
nicht hergestellt. Das sind Errungenschaften, für die Frankreich noch 3
weitere Revolutionen braucht:1830, 1848 und 1871. Die Zivilgesellschaft ist kein
Geschenk des Bürgertums an das Volk, sondern muß in weiteren schweren
Kämpfen überhaupt erst installiert werden - Und stellt dann aus der
Sicht der Räte- und Basisdemokratie nur eine total embryonale Form von
Demokratie dar.
Dies ist ein großer Unterschied zu Russland, wo es
das allgemeine Wahlrecht noch gar nicht gab, wo es aber auch den ganzen
kulturellen Überbau der Zivilgesellschaft nicht gab. Es gab noch keine
allgemeinen Bildungsinstitutionen, noch keine modernen Vereine, keine modernen
Assoziationen, keine modernen Gewerkschaften. Und es gab auch keine Volkskultur
in dem Sinne. Die Volkskultur in Russland war allein von der orthodoxen Kirche
bestimmt, während beispielsweise in Italien schon große
Volkszeitschriften existierten, die nicht nur politische Neuigkeiten
verwursteten, sondern auch große kulturelle Beiträge hatten.
Gramsci sieht nun, daß diese moderne Zivilgesellschaft, die in der Mitte
und vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in Italien entsteht und mächtig
ist, die Mobilisierung der Bevölkerung zum Sturz eines alten Systems enorm
einschränkt. Die Zivilgesellschaft hat also starke manipulative Gewalt.
Obwohl sie ursprünglich Freiheitspotentiale hat und überhaupt erst
gegen das Bürgertum erkämpft werden muß, wird sie sogleich von
diesem besetzt und entwickelt so viele manipulaitve Gewalten, daß sich ein
revolutionäres Feuer gar nicht mehr so einfach ausbreiten kann. Für
ihn ist die Tatsache, daß die Rätebewegung auf Turin oder auf
Norditalien beschränkt blieb und sich nicht in den Süden ausbreiten
konnte, eine Folge der Robustheit dieser modernen Zivilgesellschaft. Die es im
Russland nicht gegeben hatte, keine Gewerkschaften, außer der Kirche keine
moderne Volkskultur, so daß sich an wenigen sozialen Fragen, wie der
Kriegsfrage und der Landfrage, eine große Mobilität der Menschen,
jedenfalls in den politisch entscheidenden Zentren, organisieren ließ und
so die alte Gesellschaft umgestürzt werden konnte. Weil Russland diese
Zivilgesellschaft noch nicht oder höchstens embryonal entwickelt hatte.
Das sind ganz wichtige Überlegungen, die Gramsci dann schon Anfang
der 20er Jahre zur Vorstellung eines anderen Revolutionsmodells führten. Er
sagt also, daß die staatsstreichartige Revolution im Westen dadurch auch
nicht möglich ist, durch die Existenz der Zivilgesellschaft. Denn es hat ja
politische und ökonomische Krisen tiefsten Ausmaßes gegeben,
beispielsweise die Krise im Gefolge des Ersten Weltkrieges.
Das führt
im Grunde genommen zu einer Verstärkung dieser schon vorher entwickelten
Vorstellung, daß bestimmte Positionen der Zivilgesellschaft, insbesondere
im kulturellen Bereich, bereits besetzt werden müssen, bevor man überhaupt
an die Umgestaltung der Gesellschaft denken.
Aber ich möchte jetzt
trotzdem erstmal noch im politischen Raum weiterdenken, weil sich nämlich
um 1924 bei ihm meiner Meinung nach eine Neubewertung des Problems der
Zivilgesellschaft ergibt. wie gesagt, der italienische bürgerliche Staat
war nicht allein in der Lage gewesen, diesem revolutionären Versuch
entgegenzutreten. Er mußte aus seiner eigenen Legalität heraustreten.
Er mußte den Faschismus mit diesen privaten Milizen, die überall
entstanden, tolerieren und hat ihn sogar aktiv gestützt. Die bürgerliche
Zivilgesellschaft begann, sich selber zu zerstören. und es war auch klar,
daß der Faschismus zunächst die linke Arbeiterbewegung zerstören
wollte. Die praktische Tätigkeit war nicht nur durch den Terrorismus
eingeschränkt, sondern die Arbeiterorganisationen sollten ja auch
verschwinden. Die Pressefreiheit sollte verschwinden, usw.
Bei Gramsci lässt
sich die Neubewertung der Zivilgesellschaft ziemlich genau an einem historischen
Ereignis festmachen. 1924 regierten die Faschisten Italien praktisch schon seit
zwei Jahren, obwohl das Parlament noch funktionierte. Ein sozialistischer
Abgeordneter namens Meteotti hielt eine Rede, gegen Wahlmanipulation, die die
Faschisten vorgenommen hatten und wurde wenige Tage darauf entführt. Einige
Wochen später wurde seine Leiche aufgefunden. Nicht nur für die
Parlamentarier, sondern auch für die Öffentlichkeit war es von
vornherein klar, daß er von Faschisten entführt und ermordet wurde.
Es entstand eine Staatskrise, in deren Gefolge sich eine große
antifaschistische Öffentlichkeit bildete. Das ging sozusagen zu weit, das
war das Schlimmste, was die sich bisher geleistet hatten.
Es kam zur
Bildung eines Gegenparlaments. Die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien,
der sozialistischen Partei, aber auch der noch ganz kleinen kommunistischen
Partei. Gramsci war Fraktionsführer der kommunistischen Partei, die 1921
als Abspaltung von den Sozialisten gegründet wurde. Mateotti war jedoch
Sozialist.
Es bildete sich also ein Gegenparlament im Aventin, das zunächst
verkündete, das machen sie nicht mit, jetzt soll Italien von diesem
Gegenparlament regiert werden. Das stellte sich aber relativ schnell als
Luftgebilde, als Fata Morgana heraus. Dieses Gegenparlament wurde nicht arbeitsfähig.
Gramsci schlug beispielsweise vor, es würde nicht genügen, daß
das Gegenparlament irgendwelche Versammlungen abhält, es müßte
auch zum Generalstreik aufgerufen werden. Es müßte eine Mobilisierung
in der Bevölkerung stattfinden, wofür an sich eine günstige Lage
war, weil dieser Mord an Mateotti, das war ein Skandal, an dem man diese
Mobilisierung hätte aufziehen können. Aber wie gesagt, da machten die
bürgerlichen Parteien nicht mit. Da machten auch die Sozialisten nicht mit.
Es kam also zu einer Lähmung des gesamten Parlamentes, während die
Faschisten lustig weiterregierten.
Gramsci erkannte, daß deren
Ziele natürlich im Grunde genommen darin bestanden, das ganze Parlament
abzuschaffen, sämtliche Parteien abzuschaffen, allen voran natürlich
die Arbeiterparteien. Er machte als Fraktionsführer eine Sache, die total
ungewöhnlich für das kommunistische Milieu der damaligen Zeit war: Er
hat die kommunistische Fraktion als einzige wieder in das ordentliche Parlament
zurückgeführt. Er sagte, wenn wir das Parlament den Faschisten überlassen,
ist genau die totalitäre Situation erreicht, die die eigentlich wollen. Die
Faschisten drohten nämlich mit der Schließung des Parlamentes, wenn
die Abgeordneten nicht zurückkehren. Schließung des Parlamentes,
Verbot aller Parteien usw. Er sagte also, wir kehren in das Parlament zurück
und wir überlassen diese Institution nicht den Faschisten.
Und obwohl
die kommunistische Partei recht klein war, konnte sie genau dadurch in dieser
Zeit enorm viele Anhänger gewinnen. Obwohl sie vom Terrorismus weiterhin
verfolgt war, stieg die Mitgliederzahl und auch die Leserzahl der Unita, ihrer
Zeitschrift, enorm an. Weil sie das Parlament sozusagen als Plattform hatten,
was die anderen Parteien nicht mehr hatten. Und wo sie auch die Gefahr nicht
erkannten. Während Gramsci, er formuliert das natürlich noch nicht so
theoretisch wie ich jetzt, erkannte, daß die Faschisten die bürgerliche
Zivilgesellschaft, die auch der Arbeiterbewegung einen gewissen legalen Rahmen
gegeben hatte, vernichten wollten. Und zwar grundsätzlich vernichten
wollten.
Die Mateottikrise zog sich noch recht lange hin und endete dann
in der Tat damit, daß das Parlament geschlossen wurde. Und zwar unter dem
Vorwand, daß die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien gar nicht
mehr erschienen. Die erschienen auch nicht mehr im Aventin, sondern blieben
schlimmerweise einfach zuhause. Die einzige Partei, die überhaupt noch
erschien, war die Kommunistische Partei. Um die Kommunistische Partei verbieten
zu können, wurde ein Staatsstreichvorwurf konstruiert. Sie konnten jetzt
nicht verboten werden, weil sie nicht im Parlament erscheinen wollten, aber
angeblich einen Staatsstreich vorbereiteten. Und so wurde dann auch Gramsci
trotz seiner Immunität als Abgeordneter verhaftet und kam ins Gefängnis.
Aber das ist jetzt ein ganz wichtiges Axiom, um zu verstehen, wieso dann
er ein Sozialismuskonzept entwickelte, was antitotalitär war und - es geht
ja aus den Gefängnisschriften schon eindeutig hervor - mit dem autoritären
Sozialismus in der Sowjetunion nichts zu tun hatte. Gramsci erhält die
basisdemokratische Option der Rätezeit aufrecht, ergänzt aber durch
ein Konzept der Demokratie. Und zwar durchaus durch ein zivilgesellschaftliches
Konzept der Demokratie.
Der Faschismus ist für ihn ein Rückfall
der bürgerlichen Gesellschaft vor die Verhältnisse, die die französische
Revolution eingeleitet hat. Und der Sozialismus kann sich in seinen Augen natürlich
auch nicht wie ein Feudalsystem entwickeln. Wenn das in Rußland so ist, daß
erkennt er auch sehr eindeutig, dann hat das historische Wurzeln, weil keine
Demokratie entwickelt war. Dasselbe, was für die Revolution zunächst
einmal günstig war, für die Mobilisierung während der Revolution,
wird sich nach der Revolution als großer Pferdefuß für alle
weiteren Entwicklungen herausstellen. Weil dadurch auch keine demokratischen
Prozesse und kein demokratisches Bewußtsein da ist. Oder jedenfalls nicht
groß genug, so daß sich das durchsetzen kann für die Revolution
selbst. Das nimmt Gramsci ja auch schon wahr.
Für ihn ist also die
Perspektive eine vollkommen andere. Und auch eine nichttotalitäre
Perspektive, insbesondere wie es jetzt konkret weitergehen soll. Der Faschismus
hat gesiegt, die Arbeiterbewegung ist zerschlagen, in die Illegalität gedrängt.
Aber er glaubt jetzt nicht - darin besteht auch der Konflikt mit der Komintern
-, daß die Arbeiterbewegung allein oder gar die Kommunistische Partei
allein gegen den Faschismus antreten, ihn besiegen und dann eine Diktatur der
Arbeiterklasse errichten könnte.
Seine Konzeption zielt auf die
Errichtung einer verfassunggebenden Versammlung. Zunächst einmal auf Bündnisbeziehungen
mit allen potentiell antifaschistischen Kräften, was dann ab 1937, ungefähr
zu dem Zeitpunkt, wo er stirbt, auch faktisch eingeleitet wird. Die italienische
Reißens entsteht ja aus Bündnisbeziehungen aller potentiell
antifaschistischen Kräfte. Und die Neugründung des Staates nach dem
Faschismus kann dann in Gramscis Augen natürlich nicht als Diktatur des
Proletariat erfolgen, sondern muß auch diese ganzen antifaschistischen Kräfte
erstmal zur Grundlage haben. Also als verfassungsgebende Versammlung.
Damit wird in seinen Augen erstmal wieder eine Grundlage für die Existenz
einer Arbeiterbewegung und einer Zivilgesellschaft geschaffen.
Die
Demokratie nicht nur als allgemeiner politischer Rahmen, sondern in der
Arbeiterbewegung selbst. Dafür hätten wir dann auch viele Belege, auf
die ich jetzt im einzelnen nicht eingehen will. Wie er das auch in der Partei
selber erhalten wollte, dafür gibt es einen paradigmatischen Vorgang. Der
ursprünglich Führer der Kommunistischen Partei, Bordiga, war eher ein
Kommunist, der zu einer Staatsstreichkonzeption tendierte und die Partei als
kleine, reine Kaderorganisation organisieren wollte, nicht als
Massenorganisation. Da gab es schon große Schwierigkeiten. Gramsci ist überhaupt
nur Parteiführer geworden durch kommissarisches Einsetzen durch die
Komintern, als diese Konflikte noch nicht so aufgebrochen waren - 1924 - weil
Bordiga im Gefängnis war. Mit seinen Vorstellungen hatte er die Mehrheit
der Kommunisten Italiens nicht hinter sich. Das war ein kommissarisches
Einsetzen.
Und für ihn selber ist das aber ein großes Problem.
Er sieht das als Problem an, daß er die Partei leiten soll ohne daß
die Mitglieder ihn bestimmten - seine Linie war noch nicht einmal bekannt. Und
da gibt es, das ist auch heute belegbar, wenn ihr die Jugendbriefe, die vor zwei
Jahren übersetzt worden sind, lest, die Briefe, die vor der Gefängniszeit
entstanden sind, da ist also auch ein großer Briefwechsel mit Togliatti,
mit anderen Führungskadern der Partei, darüber, wie der Konflikt, ob
Kader- oder Massenpartei ausegtragen werden soll.
Bordiga kam dann bald
wieder frei. Mit ihm öffentlich, soweit daß unter terroristischen
Bedingungen noch möglich war, diskutiert werden. Nicht nur alle
Parteigremien, sondern auch die untersten Mitglieder sollten in diese Diskussion
verwickelt werden, so daß es dann zu einem Parteitag kommen würde, wo
dann die Linie keine Kaderpartei, sondern Massenpartei beschlossen, wo das von
allen Mitgliedern verstanden und abgesegnet wurde. Und das alles unter
Bedingungen, wo in der Sowjetunion schon ein vollkommen anderes Umgehen mit
unliebsamen Personen oder Positionen, die man nicht haben wollte, üblich
war und einer illegalen Situation in Italien.
Dieser Parteikongress, auf
dem dann tatsächlich die Mehrheit der Delegierten für Gramsci stimmte,
1926, mußte in Lyon stattfinden. Der konnte gar nicht in Italien
stattfinden, obwohl die Partei offiziell noch nicht verboten und im Parlament
vertreten war. Aber wegen der Terrorismusgefahr mußte man ins Ausland
gehen. Trotzdem ist es geschafft worden, mit demokratischen Prozeduren die
Umorientierung der Kommunistischen Partei auf eine Massenpartei zu vollziehen.
Ein Prozeß der ja dann höchst bedeutsam werden sollte, der die Partei
in der Illegalität stark machte, der sie als Massenpartei aus der Illegalität
dann 1944 entstehen lies. Da sind ja ganz grundlegende Weichen gestellt worden.
Und auf der Grundlage demokratischer Strukturen.
Es kam auch nicht zu
einem dauerhaften persönlichen Zerwürfnis, das ist wahrscheinlich der
deutlichste Beweis, wie dieses Verfahren der Ausscheidung von Bordigas Position
vor sich ging. Während des Konfliktes ging es zwar auch ganz schlimm her,
man beschimpfte sich usw., aber als dann Bordiga und Gramsci im Gefängnis
waren, sie waren teilweise zusammen auf dieselbe Insel verbannt, schon 1927,
1928 sind sie sogar wieder befreundet, obwohl die politischen Positionen sehr
unterschiedlich sind. Bordiga ging dann eher in trotzkistische Richtung. Bordiga
wurde dann 1929 von Moskau aus der Partei ausgeschlossen, schrieb aber an
Gramsci im Gefängnis weiter Karten. Schickte ihm Lebensmittel usw. Bloß
um zu zeigen, daß hier vollkommen andere innerparteiliche Normen des
Austragens von Gegensätzen aufgestellt worden sind, offensichtlich auch mit
Erfolg.
Jetzt kommen wir in die Phase der Gefängnishefte, wo diese ganzen
Erfahrungen noch einmal in eine theoretische Sprache umgesetzt werden. Ich
glaube, daß man die Gefängnishefte kaum lesen kann, wenn man nicht
diese historischen Hintergründe und Entwicklungen, die dann auch zu
Entwicklungen in Gramscis Denken geführt haben, kaum verstehen kann.
Er bleibt aufgrund der basisdemokratischen Option bei der Vorstellung, daß
eine Kulturkonzeption zu entwerfen sei, mit einem fließenden Übergang
vom Intellektuellentum zu den normalen Menschen und umgekehrt. Intellektuelle
als Kader oder eben auch als traditionelle Intellektuellewird von Gramsci
abgelehnt.
Gramsci entwickelt das anhand des Konzeptes des
Alltagsverstandes. Wenn eine große historische Umwälzung angestrebt
wird, muß es zu einer Erneuerung des Alltagsverstandes kommen.
Alltagsverstand als Jedermanns-Philosophie aufgefasst, die aber natürlich
begrenzt ist durch die begrenzten Bildungsmöglichkeiten, durch das
Mitschleppen von vielem traditionellen, altertümlichen, folklorischen
Denken. Gramsci selbst leistet eine dialektische Kritik des Alltagsverstandes,
der sowohl diese negativen Tendenzen hat als auch dennoch im Vergleich zum
traditionellen Intellektuellentum auch seine Vorteile. Der Alltagsverstand wäre
beispielsweise handfester, oft mehr an Realitäten orientiert, würde
oft schon modernes Denken annehmen, hätte teilweise auch Vorstellungen von
Solidarität usw., die man in der Hochphilosophie nicht findet.
Der
Alltagsverstand wird unter zwei Seiten gesehen. Alltagsverstand als ganz
wichtiges Feld aber auch als Bezugspunkt von den Intellektuellen, die sich jetzt
für die Arbeiterbewegung einsetzen, sich für sie engagieren. Das war
nicht nur Input, sondern auch Output. Es soll zu einem ständigen Austausch
zwischen diesen Bereichen kommen. Und nach der Gründung eines neuen Staates
natürlich auch ein neues pädagogisches System, darauf brauche ich
jetzt vielleicht nicht im einzelnen einzugehen.
Im großen
Unterschied, das betont er immer wieder, zur Katholischen Kirche oder auch zu
den Gepflogenheiten des bürgerlichen Staates sollte nicht Hochkultur und
Volkskultur vollkommen getrennt voneinander gedacht werden. Sondern sie müssen
zusammengeführt werden. Der Alltagsverstand - ist ja auch völlig klar,
im Zeitalter des allgemeinen Wahlrechtes ist der Alltagsverstand das von der
Zivilgesellschaft umkämpfte Gebiet.
Es geht demnach darum die
politische Kategorie mit der kulturellen in Zusammenhang bringen. Das hatte eben
auch der Faschismus. Oder daß der Faschismus kommen konnte, hatte das
gezeigt, daß im Alltagsverstand große Konfusion herrschte, daß
große Zurückgebliebenheit herrschte, wenn es möglich ist, so große
Teile der Leute gegen ihre eigenen objektiven Interessen zu instrumentalisieren,
zu mobilisieren, einzubinden.
Also Alltagsverstand als ganz wichtiges
Feld der Auseinandersetzung. Aber nicht nur patriarchal-pädagogisch
gedacht, sondern der Alltagsverstand hätte auch selber Qualitäten, von
denen sich Intellektuelle inspirieren lassen können. Er nimmt ja auch
diesen Satz aus den Feuerbach'schen Thesen wieder auf, daß der Erzieher
erzogen werden soll und sich erziehen lassen soll. Der Lehrer soll lernen usw.
Ein dialektisches Austauschverhältnis soll hergestellt werden.
In
modernen westlichen Gesellschaften wäre also ein Sozialismusmodell, autoritär
eingeführt, durch eine Avantgarde bestimmt, wie es in der Sowjetunion der
Fall war, von vornherein chancenlos. Die Chancenlosigkeit hatte sich für
Gramsci schon politisch gezeigt. Das sieht er auch als intellektuell chancenlose
Vorstellung. Er sieht die große Aufgabe, daß es eine Gruppe von
Intellektuellen geben muß, die das auch selber wollen und die auch die Fähigkeit
haben, das zu verbreiten.
Großes Problem: er erkennt ja die
manipulativen Gewalten, die sich innerhalb der bürgerlichen
Zivilgesellschaft mit Hilfe der Massenmedien herausbilden. Er hat ja große
Analysen von Zeitschriften, bezieht Radio, Kino schon in seine Überlegungen
ein. Er konstatiert eine große Geschmacksablehnung der traditionellen
Intellektuellen gegen die für das Volk gemachte Massenkultur. Sie ist nicht
nur ästhetisch primitiv, sondern sie vertritt ja auch nicht die objektiven
Interessen dieser Menschen. In Italien wird die auch teilweise noch von der
Kirche mitbestimmt. Auch die Kirche vertritt zu seiner Zeit schon riesige Mengen
von Trivialliteratur, eben dann mit katholischem Inhalt.
Dann macht er
eine interessante Wende im Denken, die im Marxismus seiner Zeit vollkommen ungewöhnlich
war. Er sagt, diese Massenkultur ist eine Tatsache und hat das Denken und Fühlen
der Menschen eben geprägt. Wir können jetzt auch nicht eine vollkommen
fremde, neu ausgedachte Kultur dagegensetzen. Die Gegenkultur muß auch in
massenkultureller Form daher kommen. Also sogar auch an dem Geschmack der Leute
anknüpfen. Schon 1918 gibt es von ihm einen Artikel, wo gesagt wird, der
Fortsetzungsroman in den großen Zeitungen und Zeitschriften darf nicht nur
von den Rechten oder von den Traditionalisten oder von der Katholischen Kirche
beherrscht werden. Es müssen sich auch Schriftsteller mit unseren
politischen Ansichten herausbilden, die auch Fortsetzungsromane schreiben. Für
genau dieselben Leser.
Das ist dann beispielsweise eine
Auseinandersetzung mit Paul Nizan. Aber auch mit der ganzen Richtung im
Marxismus, die sich herauszubilden beginnt (auch mit Lukács, ein Höhepunkt),
wo gesagt wird, man muß eine neue Ästhetik schaffen, eine
sozialistische Ästhetik aus theoretischen Überlegungen abgeleiten.
Aber Gramsci sagt, das genügt nicht. Wir müssen heute den
Menschen etwas vorsetzen, die ganz bestimmte Rezeptionsgewohnheiten haben. Also
mit neuem Inhalt bestimmte vorhandene Formen füllen. Die neue Literatur,
die neue Kultur kann sich nicht aus einer Schule theoretischen Ursprungs
herleiten, sondern man muß sehen, was existiert. Existieren nicht
beispielsweise Widerstandsformen im Alltagsverstand? Sind diese
Widerstandsformen in moderne Kulturfilmen einbringbar? Er möchte dieses
Feld der Masssenkultur offenhalten und vertritt im wesentlichen eine Position,
die man dann pointierter formuliert bei Benjamin wiederfindet in dem berühmten
Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduktion", in
dem gesagt wird, daß sich der modernen Medien, der modernen Massenkultur,
der Technik der modernen Massenkultur sowohl die emanzipatorische Richtung
bedienen kann als auch die faschistische.
Damit steht Gramsci mit
Benjamin, aber auch mit Brecht, auf dieser letztlich kulturoptimistischen Seite
gegen die Frankfurter Schule, die im Grunde genommen über den
Marktmechanismus in der modernen Massenkultur immer nur eine Reproduktion von bürgerlichem
Klasseninteresse vermutet und sehen kann und es ausschließt, daß
sich emanzipatorisches Denken in diesen Schienen überhaupt entwickeln kann.
Das ist aber ein Standpunkt, der nirgendwo in die politische Praxis führt,
wo man dann emanzipatorisches Denken auch wieder nur auf bestimmte Eliten
gedacht sich denken kann. Wo man gar nicht mehr denken kann, wie eine
Massenbewegung zustande kommen kann.
Wir stehen jetzt natürlich in
einer Zeit, wo sich gerade wieder die Schlußfolgerungen und Axiome der
Frankfurter Schule als Evidenzen aufdrängen. Man neigt eben auch dazu,
jaja, die hatten doch recht, man sieht es an allen Ecken und Enden! Nicht? Da
kann ich aber jetzt nur sagen, wer so denkt, hat bereits verloren. Der
Widerstand muß weitergedacht werden und er muß auch auf einer Ebene
gedacht werden, wo er für größere Menschengruppen mitmachbar
ist. Und da, würde ich sagen, liefert Gramscis Denken große
Ansatzpunkte.
Ich will vielleicht, ehe wir zur Diskussion kommen noch mal einen Punkt,
den ich jetzt völlig ausgesprt habe, nur mal andenken. Mit dem zunächst
einmal Zulassen auch des politischen Pluralismus geht natürlich auch ein
Pluralismus im ästhetischen Denken und im kulturellen Denken vor sich. Die
neue Gesellschaft soll nicht durch ein einheitliches Prisma gedacht werden,
sondern durch verschiedene. Gramsci sieht sehr wohl, daß die Bauern
wahrscheinlich eine andere Kultur, eine andere kulturelle Entwicklung zunächst
durchmachen werden als die Arbeiter. Und daß bestimmte Zwischenschichten
auch wieder etwas anderes machen. Das Kulturkonzept ist also auch soziologisch
nach den bestehenden Verhältnissen aufgeschlüsselt. Wobei er mehr
analysiert als projektiert. Das ist ja vor allen Dingen analysiert. Die bäuerliche
Folklore, dann der Fortsetzungsroman, den sowohl Arbeiter als auch kleinbürgerliche
Schichten lesen usw.
Er macht auch selber keine normativen Vorschläge.
Dieser Grundgedanke von der Rätebewegung, daß eine Eigenaktivität
der entsprechenden Schichten stattfinden soll, verbietet ja von vornherein die
Vorstellung von normativer Ästhetik, wie sie beispielsweise mit Lukács
in den 30er und 40er Jahren im offiziellen Sozialismus gewesen sind. Er sieht überhaupt
keine normativen Funktionen, im Gegenteil, allerhöchste Freiheit. Insofern
auch eine enge Verwandtschaft seines Kulturkonzeptes zu dem von Bertolt Brecht.
Jetzt höre ich vielleicht erstmal auf, sonst bleibt die
Diskutierzeit zu kurz. Vielleicht habe ich auch manche Punkte zu breit und
andere gar nicht ausgeführt. Also stellt bitte noch Fragen.
Noch eine
kurze Anmerkung: Das Konzept der Arbeiterklasse ist bei ihm, wie das aus der
Zeit heraus auch nicht anders vorstellbar ist, schon an die Vorstellung eines
immer größeren und auch politisch stärker werdenden Sektors von
Menschen gebunden, die in der Großindustrie arbeiten. Er hat natürlich
ganz das Konzept, das man damals hatte, aber ich finde, das ist jetzt nicht die
eigentliche Barriere, um das Konzept zu diskutieren. Wir wissen heute, daß
es eigentlich um alle Menschen geht, die keine Verfügungsgewalt über
Produktionsmittel haben. Und man das auch nicht mehr so national sehen muß,
daß es alles übergreift und so weiter. Aber wenn man davon absieht,
finde ich, lassen sich schon Inspirationen, die für heute eigentlich auch
wichtig sind, ableiten.
F.: Verständnisfrage in Bezug auf die Sache mit der Massenkultur, die
eben eine Tatsache ist. Du hattest Gramsci in Gegensatz zu Lukács
gestellt. Aber von Lukács gibt es den Begriff von der Aktualität der
Revolution, der sehr wichtig ist für das ganze Konzept. Den findet man
glaube ich auch noch bei Benjamins Kunsttheorie, wo es darum geht, die
Massenkultur dialektisch zu verwerten und um faschistisches Potential zum
kommunistischen zu wenden. Gibt es dieses auch noch bei Gramsci, wenn er selber
im Kerker sitzt, ob er sich das noch vorstellen kann, ob dieses Blitzmoment noch
da ist.
A.: Ein Blitzmoment würde ich das nicht nennen. Aber einfach die
Aktualität der Revolution.Ich glaube, daß er das als vollkommen
unrealistisch angesehen hat. Die ganze Arbeiterbewegung war ja in die Illegalität
gedrängt. Und Gramsci war beispielsweise nicht der Meinung, je schlimmer
die Verhältnisse, um so besser für die sozialistische Revolution oder
so. Solche Vorstellungen hatte man ja in der Komintern und auch in den westeuropäischen
kommunistischen Parteien. Daß je schlimmer der Faschismus wütet oder
je ungebärdiger sich der Kapitalismus gibt, um so automatisch würde
Widerstand entstehen, der dann instrumentalisierbar für die Revolution ist.
Diese Vorstellung hatte er nicht.
Da nähert er sich auch schon einer
Erkenntnis von Verhältnissen an, die wir heute noch haben. Denn es stellt
sich ja immer mehr als Illusion heraus, zu denken, wenn die Dritte Welt noch
mehr ausgebeutet wird, daß dann effiziente Widerstandsstrukturen schon
entstehen werden. Wir erleben ja auch gerade das Gegenteil. Gerade auch dieses
Entstehen von Faschismen erleben wir eigentlich jetzt auch wieder mit. Daß
es im Grunde genommen wahrscheinlich wesentlich leichter ist, aus schwierigen
sozialen Bedingungen heraus einen Faschismus zu konstruieren, eine Volksbewegung
im faschistischen Sinne zu instrumentalisieren. Ich sehe das ähnlich wie er
das gesehen hat. Daß das dann im Grunde genommen relativ leicht ist. Und
natürlich erstmal mit ideologisch vorgeprägten Fraktionierungen
einhergeht, wie Rassismus, Ausgrenzung und Hierarchiesierungsversuche innerhalb
der subalternen Schichten.
F.: Du hattest früher mal gesagt, daß Gramsci ein Theoretiker
für das Überwintern ist. Wie stellt sich denn dann die positive Verständnis
von Massenkultur unter diesen Umständen dar, wenn das Hebelmoment von der
Aktualität der Revolution nicht mehr gegeben ist.
A.: Er stellt ja die Notwendigkeit von Revolution nicht in Frage. Aber
wir haben beispielsweise kaum einen Hinweis, ob er sich das als einen
Blitzmoment vorstellt. Ich glaube, da sind sogar eher Texte da, wo er das auch
zeitlich nicht mehr in einem geballten Vorgang vorstellen kann. Wohl aber natürlich
als Umsturz von Institutionen. Das ist jetzt die Schwierigkeit, das bei ihm
selber nachzuweisen. Das ist schon eher eine philologische Aufgabe von nicht so
großer Wichtigkeit. Der Bruch wird natürlich gedacht und auch
eingefordert. Aber jetzt nicht wie in einem Staatsstreich, daß man das
Radio besetzt und alle möglichen Ministerien und dann wäre die
Revolution da. Da stellt sich schon die ganze Zivilgesellschaft in ihren vielen,
vielen Verästelungen diesem Projekt entgegen. Aber er sieht natürlich
die Notwendigkeit. Insofern ist er schon Revolutionär, indem er die
Notwendigkeit von institutionellen Brüchen vorsieht. Aber wie das jetzt
vonstatten gehen soll, da finden wir bei ihm genauso wenig konkrete Hinweise wie
bei Marx.
Gramsci ist ja auch Historist. Er beschäftigt sich im
Grunde genommen nur damit, wie eine Situation historisch geschaffen wird, wo das
viele Menschen wollen. Und der Bruch wird angestrebt. Aber es wird jetzt nicht
gesagt, daß der heute oder morgen stattfinden soll. Sondern es geht
erstmal darum, die Voraussetzungen zu schaffen.
F.: Das meinte aber auch Lukács. Der meinte, daß diese
Revolution möglich ist und daß das eben im Denken ein Moment ist, ein
Ansatzpunkt, um Konzepte zu gestalten. Daß da dieser Riss ist, an dem man
ansetzen kann und daß man dann das, was da ist, für eigene
Konzeptionen verwenden kann. Also die Politisierung der Kunst funktioniert, weil
klar ist, daß die Massen eigentlich nur das umkippen und dann ginge das.
Und daraus entwickelt er das Konzept. Darum geht es mir. Seine Konzeption von
progressiver Deutung von Massenkultur. Die geht von diesem einen Moment aus. Und
wenn der nun nicht mehr da ist?
A.: Wird dann Massenkultur nur als Folge dieses Momentes gesehen oder als
in der Moderne vorhandene Struktur erst einmal? Die so und so funktionalisiert
werden kann. Das haben Horkheimer und Adorno auch schon sehr gut beschrieben, daß
totalitäre Regime, sowohl in der Sowjetunion als auch dann im deutschen
Faschismus, daß die sich die ganze Apparatur der Massenkultur gefügig
gemacht haben. Wo ich dann nicht mehr mitgehen würde, ist, daß sie
auch in der amerikanischen Massenkultur denselben Totalitarismus vermuten. Das
ist schon wieder eine andere Diskussion, wo dann von aussen nichts mehr
eindringen kann, wo kein emanzipatorisches Pflänzchen mehr wachsen kann.
Das stimmt ja auch in hohem Maße. Aber Benjamin sagt doch und das ist
eigentlich auch Gramscis Position, daß trotz der Besitzverhältnisse
auf dem Kulturmarkt, dieser Einbruch immer wieder versucht werden muß.
Es richtet sich natürlich gegen eine ökonomistische Definition
der Überbauten, der Superstrukturen. Bei Horkheimer und Adorno ist an
diesem Punkt meiner Meinung nach ein mechanistisch-ökonomistischer
Kurzschluß da. Aber daß der Mensch als frei denkendes Wesen
potentiell immer wieder vorhanden ist, macht potentiell diese Lücke möglich.
Ob die genutzt wird oder nutzbar ist, das ist historisch offen. Wir stehen doch
gerade in Deutschland vor der Situation, daß es bei uns eigentlich kaum
noch jemand nutzen möchte, weil man von vornherein sagt, die manipulativen
Gewalten sind eben so, daß man da gar nicht rein kann. Und daß auch
emanzipatorische Kunst eher hochkulturell gedacht wird oder denkbar ist, eben im
Anschluß an Adorno. Und daß man sich das überhaupt nicht
vorstellen kann.
Es ist auch eine andere Situation beispielsweise schon
in Italien. Umberto Eco ist meiner Meinung nach ein ziemlich gramscianisch
ausgerichteter Intellektueller, der hochkulturelle und auch emanzipatorische
Ansprüche geschickt in eine massenkulturell verwertbare Form bringt und
damit auch Erfolg hat. Aber so ein Intellektueller oder Künstler ist in
Deutschland fast undenkbar. Oder jedenfalls kann er nicht konstruiert werden auf
diesem Schema, was wir eben durch die Frankfurter Schule haben. Es ist auch in
den USA vollkommen anders. Adorno und Horkheimer hatten meiner Meinung nach
einen historisch besonders dunklen Punkt erwischt, an dem auch sämtliche
Hoffnungen in der Sowjetunion zusammenbrachen.
Aber da gibt es bei
Horkheimer und Adorno auch eigene Blackouts. Weil sie beispielsweise den
Einbruch des Jazz, der ja ein kultureller Einbruch von den untersten und
ausgebeutesten Schichten ist, den sie gerade auch nur als Ausdruck des
Fordismus, des Marktes und der Systemanpassung gesehen haben und nicht als etwas
positives. Das hängt natürlich auch ganz speziell mit Adornos
Geschmack und Vorlieben zusammen. Dadurch ist aber der amerikanische
Kulturbetrieb, der eben doch - ich will ihn hier auch nicht übermäßig
loben, versteht mich da bitte nicht falsch - diese demokratische Öffnung
irgendwie damals schon hatte. Aber dieses Element, wo man es hätte sehen können,
das haben die nicht gesehen oder wollten sie nicht sehen.
Dadurch kommt
es zu einer totalen Identifizierung dieses bürgerlichen Kulturbetriebes mit
den totalitären Kulturbetrieben. Damit wäre ich also auch nicht
einverstanden. Wobei es einem natürlich auch schwer fällt,
Optimistisches für die Zukunft vorherzusagen. Weil wir wissen ja um die
Macht der Medienbetriebe, die Konzentration in den Medienbetrieben. Das liegt ja
auf der Hand, daß das im Grunde nicht abgenommen sondern zugenommen hat.
Bloß, ich bin der Meinung, wenn man diese Schlacht von vornherein für
verloren erklärt, dann hat man natürlich auch von vornherein verloren.
Das ist eine Position, die ich mir in Deutschland von mehr Leuten überwunden
erhoffe oder wünsche.
F.: Ich habe eine Frage zum Modell der Zivilgesellschaft. Glaubst du, daß
in der bisherigen Diskussion um die Zivilgesellschaft, die verstärkt seit
der Wiedervereinigung läuft, in der man eher den Eindruck hat, daß
mit Zivilgesellschaft eine abgeänderte Form der Volksgemeinschaft gemeint
ist, ob man den Begriff der Zivilgesellschaft von Gramsci dagegen setzen kann,
wie du ihn dargestellt hast - einen Begriff der sich stark von dem zur Zeit
diskutierten unterscheidet. Ob man damit ein Instrumentarium hat, um eine Kritik
an dem Realsozialismus zu machen und gleichzeitig eine Kritik an der derzeitigen
bürgerlichen Gesellschaft mit so etwas wie einer Perspektive.
A.: Zum Realsozialismus brauche ich wahrscheinlich nichts mehr zu sagen.
Da habe ich schon allerhand vorgebracht. Meiner Meinung nach haben im
Realsozialismus nur zivilgesellschaftliche Potentiale bestanden. Große
prinzipielle Fähigkeit der Gesellschaft, vom Staat unabhängige
Organismen, Organisationen, Assoziationen, Vereine aller Art zu gründen und
kreativ über die eigen Gesellschaft zu bestimmen. Diese Potentiale haben
bestanden, aber sie sind durch den Totalitarismus nicht gesellschaftlich wirksam
gewesen. Insofern sage ich, daß dort keine Zivilgesellschaften existiert
haben.
Der große Unterschied. Wir haben jetzt besonders dieses
angloamerikanischen Begriff von Zivilgesellschaft, wo bloß ein formales
Funktionieren bürgerlicher Demokratie gemeint wird. Etwas aufgebessert
durch Solidargemeinschaften traditionellen Typs, wo die Familie ,
Nachbarschaftshilfe und so weiter mehr ausgebaut werden sollen. Dieses
komunitaristische Modell wird damit ja auch verbunden. Da gibt es natürlich
einen tiefen Graben zu Gramsci, der natürlich die zivilgesellschaftliche
Funktion nicht losgelöst von ökonomischer Teilhabe sieht. Darüber
habe ich jetzt natürlich nicht so viel gesprochen. Aber das ergibt sich aus
dem kommunistischen Hintergrund. Für ihn ist Demokratie nicht nur nicht bürgerliche
Demokratie, wo man alle 4 Jahre vielleicht mal zur Urne geht und hier und da
auch nochmal was in der Zeitung schreiben kann, sondern es bleibt als Ziel eine
viel umfassendere Demokratisierung, basisdemokratische Organisation aber auch ökonomische
Teilhabe. Nicht nur die politische Mündigkeit, sondern auch die ökonomische
Unabhängigkeit der Individuen sind praktisch der Nukleus der
Zivilgesellschaft von Gramsci. Das ist jetzt glaube ich der große
Unterschied zu diesem propagierten Zivilgesellschaftsbegriff, wo wir uns nur
etwas besser und toleranter zu benehmen haben. Und im Grunde genommen die Formen
von bürgerlicher Demokratie, die da sind, als genügend hingestellt
werden, sogar ans Ende der Geschichte usw. Wir kennen das ja.
Gramsci
sieht, insofern ist er ein Fortsetzer der Aufklärung, die Entwicklung der
Demokratie nicht, was ja unter der heutigen Linken gerade auch in Deutschland
leider oft so gesehen wird, als irgendwie ein faules Geschenk der Bourgeoisie
ans Volk um zu manipulieren. Historisch ist Demokratie nie ein Geschenk gewesen.
Bürgerliche und kapitalistische Gesellschaftsordnung herrscht auch oft ohne
Demokratie. Siehe Faschismus. Sie möchte die Demokratie sogar ständig
einschränken und abschaffen, wenn nicht das Volk selber dafür sorgt
und dafür kämpft, daß sie erhalten bleibt. Das sind gar keine
automatischen Gegebenheiten, die irgendwie strukturell mit der bürgerlichen
Gesellschaftsordnung automatisch verbunden sind. Wenn überhaupt allgemeines
Wahlrecht geschaffen worden ist, dann zunächst in rudimentärer Form.
Denken sie dran, daß die Frauen sehr lange aus dem allgemeinen Wahlrecht
ausgeschlossen waren. Das ist eigentlich ein Witz, die Entwicklung des
allgemeinen Wahlrechtes zu sehen. Auch dann, daß es nur so in eingeschränkter
Form wahrgenommen werden kann.
Aber es sind natürlich andere Formen
von Demokratie möglich. Und da leitet Gramsci auch einen völlig
anderen Sozialismusgedanken ab, als die Sozialismusmodelle in der Praxis
funktioniert haben - Die ja bis zum Ende nicht demokratisch waren, woran sie
dann meiner Meinung nach zerbrochen sind. Sie sind natürlich nicht nur
daran zerbrochen, daß man da nicht wählen konnte. Sie sind auch
zerbrochen, weil durch die Knebelung der Zivilgesellschaft sämtliche
Eigenkreativität unterdrückt wurde. Die Menschen konnten ja gar nicht
ihre eigene Umwelt kreativ und selbstbestimmt entwickeln. Das waren immer einige
Kreise, die sich da Donnerstag Nachmittag in der DDR irgendwas ausgeheckt
hatten, wie sich nun die Produktionskombinate weiterentwickeln sollten. Stellt
euch das mal vor. Obwohl die Menschen alle mindestens zehn Jahre in die Schule
gegangen waren und große intellektuelle Potentiale überall vorhanden
waren. Aber die konnten nicht wirksam werden. Gramsci ist eine vollkommen andere
Art, Sozialismus zu denken.
Aber das bedeutet nicht, daß irgendwie
die bestehende bürgerliche Zivilgesellschaft anerkannt wurde. Allerdings in
dem Schicksalsmoment, wo sich die bürgerliche Demokratie selber abschaffen
wollte, um die bürgerliche Klassenherrschaft zu erhalten, war absurderweise
der Führer der kommunistischen Fraktion derjenige, der sie überhaupt
als einziger verteidigt hat. Weil er damals schon erkannte, daß eine
Arbeiterbewegung nicht mehr möglich sein wird, wenn das alles
zusammenbricht.
Deshalb würde ich auch sagen, daß die deutsche
Linke, bei mir auch Demokratie auf eigenartige Weise nach dem zweiten Weltkrieg
aufgedrängt bekam. Wir haben selber nur Niederlagen der demokratischen
Volksbewegung im 19. Jahrhundert gehabt. Wir haben deshalb auch kein starkes
demokratisches Selbstbewußtsein unserer Linken. Gerade in Deutschland wird
Demokratie häufig eben als faules Ei, daß die Bourgeoisie irgendwie
hat, um das Volk zu manipulieren, abgetan. In Strukturen demokratischer
Teilnahme zu denken, da gibt es wenig eigene Kreativität. Da wäre eben
auch ein Einfluß von Gramscis Denken nicht schlecht, wenn sich das in
diese Richtung mehr entwickeln könnte.
Es ist ja immer schwer, das
alles historisch zu erschließen. Aber auch durch Internationalisierung.
Beispielsweise ist die Schweiz das einzige europäische Land, wo die 48er
Revolution gesiegt hat. Von dort her die Volksrechte. Das ist wirklich eine
Sache, die man sich mal angucken muß. Die schweizer Linke hat zum Glück,
auch erst so seit 10, 15 Jahren, erkannt, daß die Volksrechte nicht etwa
irgendwie nur ein Geschenk sind oder nur weil die Schweiz viel Geld hat, sondern
daß das reale Ergebnisse von Volkskämpfen sind. Die aber auch nicht
nur schlechte Seiten haben, sondern die man auch aktiv benutzen kann, die man
ausweiten muß. Die müssen sogar verteidigt werden. Die schweizer
Wirtschaft möchte ja in die EG, um die schweizer Volksrechte abschaffen zu
können. Ich glaube, daß es im Moment ganz wichtig ist, in diesen
Fragen über den nationalen Rahmen, die nationale Geschichte hinauszusehen.
Ganz wichtig wäre ein Bündnis mit republikanischen Bestrebungen
in Frankreich, weil dort die neofaschistische Gefahr schon viel weiter
fortgeschritten ist als in Deutschland. Insofern aber auch regeres Bewußtsein
der republikanischen und demokratischen Kräfte. Das müßte man
mal zur Kenntnis nehmen.
Es geht nicht nur darum, daß sich das
Kapital in Europa eine Wirtschaftsstruktur schafft, bei der die demokratische
Mitbestimmung noch eingeschränkter ist, als die jetztzige im Rahmen der
Nationen erkämpften demokratischen Rechte. Die werden dadurch teilweise
ausser Kraft gesetzt und durch gar nichts neues gesamteuropäisches ersetzt.
Das sind eigentlich ganz wichtige Fragen, wo wir auch mal nachdenken und Beiträge
leisten müßten.
Ich würde sagen, demokratisches Bewußtsein
nicht nur über die Erkenntnis dieser historischen Entwicklung zu
Demokratie, sondern eben auch, indem man sich mit den umliegenden Völkern
auseinandersetzt, mit denen wir jetzt immer enger zusammenwachsen, aber
hoffentlich nicht in einer Diktatur, sondern doch mit wachsender Teilhabe und
Mitbestimmung.