Arbeitskreis des AStA der Universität Bremen
Kritik der herrschenden Wissenschaft als Wissenschaft der Herrschenden


Abschrift eines Vortragmitschnittes
Sabine Kebir

Organische Intelligenz und kulturelle Hegemonie bei Gramsci

Vorbemerkungen

Ursprünglich war gewünscht, daß ich über Gramscis Konzept der organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse spreche. Das habe ich jetzt schon umgeändert, weil wir den Begriff der Arbeiterklasse heute völlig anders definieren müssen als es zu Gramscis Zeiten möglich war.
Ich möchte aber trotzdem nicht darauf verzichten, Gramscis Konzept historisch darzustellen. Das halte ich für ausgesprochen wichtig, um vor überschnellen Aktualisierungen zu warnen. Der Mann ist immerhin schon über 50 Jahre tot. Die Gefängnishefte entstanden im faschistischen Kerker. Die Phase der politischen Aktivität Gramscis liegt noch weiter zurück. Seit dem hat sich in der Welt ja einiges vollzogen. Trotzdem hat es wenig Zweck, das jetzt so in abstrakto gleich darzustellen, was vielleicht heute noch aktuell ist
Ich möchte vielleicht nur einige Axiome vorausschicken, die Gramsci selber aufstellt, die man sozusagen schon im Hinterkopf haben sollte, wenn man das hört, was ich da noch erzähle.
Gramsci hebt die traditionelle, heute auch noch übliche Teilung der Menschen in Intellektuelle und Nichtintellektuelle auf. Er sagt, von Intellektuellen würde man in dem Sinne nur sprechen sollen im Zusammenhang mit einer sozialen Funktion. Aber an sich ist jedes menschliche Leben und jede menschliche Tätigkeit eine intellektuelle Tätigkeit und insofern ist jeder Mensch befähigt, autonom und intellektuell zu denken. Das ist ganz wichtig. diese Aufhebung macht er ja auch für die Philosophie an sich. Er sagt ja auch, daß jeder Mensch ein Philosoph ist.
Damit trat er nicht nur gegen das gesamte traditionelle Denken auf, sondern auch gegen ein ganz spezielles Vorurteil, daß im Zusammenhang mit dem Niveau der Industrialisierung zu seiner Zeit stand, nämlich mit der Einführung des Fließbandsystems, des Taylorsystems - darüber schreibt er auch eine ganze Menge - und auch des Fordismus. Es bestand die Vorstellung oder auch die Sorge, daß der Mensch, der am Fließband oder überhaupt in immer mehr automatisierten Systemen arbeitet, ein sogenannter dressierter Gorilla wird; nur noch ein Bestandteil der Maschine, der nur noch darauf reagiert, was die Maschine ihm sagt. Das hält Gramsci prinzipiell als Gedanken für nicht akzeptabel. Er sagt, daß auch der Mensch, der in diese Arbeitszusammenhänge verwickelt ist, nicht endgültig zum dressierten Tier wird, sondern Mensch bleibt mit der Potentialität, autonom über sich und seine Umwelt, natürlich auch über seine Arbeit, nachzudenken. Das ist sozusagen die optimistische Grundlage, auf der Gramscis Denken von vornherein steht.
Das ist der demokratische Kern, denn, wie gesagt, Intellektuelle werden auf diese Weise nicht prinzipiell als abgehobene Kaste gedacht, sondern es wird ein fließender Übergang innerhalb der menschlichen Gattung geschaffen; einen Weg, den jeder Mensch beschreiten kann. Zum Denken über die Gesellschaft, über die Situation, in der man ist und auch zum Nachdenken, wie die Welt verändert werden kann.
Dem stehen natürlich schon damals und auch seit Gramscis Tod gewichtige Theorien entgegen. Für Deutschland ganz besonders das Denken, was aus der Frankfurter Schule, insbesondere in vulgarisierter Form, hervorgegangen und auch weit verbreitet ist - also der Kulturpessimismus. Daß nicht nur der das Denken verkrüppelnde Arbeitsprozess selbst, sondern auch die manipulativen Gewalten durch die Medienherrschaft und so weiter das Denken der Menschen nicht im emanzipativen Sinne, sondern im sytemstabilisierenden Sinne entwickeln, und daß es da gar kein Ausbrechen mehr gäbe.
Gramsci befasste sich auch schon mit dem modernen Medienapparat. Er sah diese Gefahr auch, daß von ihm große manipulative Gewalten ausgehen, die das Denken systemstabilisierend errichten. Er hält aber diese optimistische Öffnung dar, daß es doch Möglichkeiten gibt, daß sich das Denken anders entwickelt. Wie kann das aber anders organisiert werden, wie kreativ werden? Das ist natürlich dasselbe Problem, vor dem wir heute nach wie vor stehen.

Organische Intelligenz

Vielleicht noch einmal kurz zur Begriffsklärung. Unter organischen Intellektuellen versteht er die Intellektuellen, die sich mit ihrer Konzeption eng an die Interessen einer Klasse binden. Historisch bringen nach Gramsci viele Klassen, nicht alle, eine Schicht von Intellektuellen hervor, die sowohl die bestehende Situation als auch die Perspektivsituation dieser Klasse versuchen theoretisch zu formulieren, daraus eine Philosophie zu entwickeln und auch praktische Programme und so weiter.
Es sind nicht alle Kassen automatisch in gleicher Weise fähig, organische Intellektuelle hervorzubringen. Beispielsweise hat der Feudalismus viele Intellektuelle hervorgebracht. In Italien fällt das weitgehend zusammen mit dem Klerus und den Entwicklungen in der Kirche. Auch das Bürgertum hat natürlich viele organische Intellektuelle hervorgebracht. Die Arbeiterklasse kann sich nicht so einfach organische Intellektuelle schaffen wie das Bürgertum. Aus ganz vordersichtlich ersichtlichen Gründen: sie verfügt nicht automatisch über eigene Bildungsinstitutionen und so weiter. Große Schwierigkeiten, eigene organische Intellektuelle hervorzubringen haben beispielsweise auch die Bauern. Organischer Intellektueller heißt jetzt nicht, daß man auch aus dieser Klasse stammt. Die Abstammung spielt hier nicht die entscheidende Rolle, sondern das Wirken für eine bestimmte Gruppe oder eine bestimmte Klasse.
Gramsci entwickelt das alles aus dem nationalen Kontext, aber da können wir, glaube ich, verallgemeinern. Den organischen Intellektuellen stehen die sogenannten traditionellen Intellektuellen gegenüber, die sich scheinbar nicht so eng an eine Klasse gebunden haben. Die sozusagen an einem ewigen Band der Philosophie oder des Denkens, der Literatur weiterspinnen. Die eher mit den klassischen Traditionen oder überhaupt mit dem Denken der Vergangenheit verbunden sind und daraus dann wieder neues Denken entwickeln, von dem man hier und da natürlich nachweisen kann, daß es doch auch praktisch eingebunden ist in die Interessen bestimmter aktueller Klassen. Oder aber es ist ein unpraktisches Denken, was zwischen allen Stühlen steht.
Von Ihm stammt, um die Kategorie der traditionellen Intellektuellen zu beschreiben, das schöne Wort: "Manche Intellektuelle stehen irgendeinem Schriftsteller aus der Antike oder auch aus dem 12. oder 15. Jahrhundert näher als einem apulischen Bauern der eigenen Generation." Ich glaube, es wird klar, was damit gemeint ist. Es ist damit auch die Selbststilisierung des Intellektuellen gemeint, der glaubt, unabhängig von bestehenden Klassenverhältnissen und Machtverhältnissen zu sein; der vorgibt, unparteiisch zu sein und über allem zu stehen und nur der intellektuellen Tradition verpflichtet zu sein. Aber auch so ein Intellektueller kann sich natürlich letztlich als organischer Intellektueller einer Klasse erweisen. Gramsci selber setzt sich mit der neoidealistischen Philosophie von Benedetto Koche auseinander, der scheinbar als traditioneller Intellektueller fernab von den Parteienkämpfen seiner Zeit ein neoliberales Konzept entwickelt. Aber man kann an vielen Punkten nachweisen, daß Koche bestimmte Interessen eines bestimmten italienischen Bürgertums vertritt.
Diese beiden Kategorien können sich also überschneiden. Das war ein großes Problem für Gramsci, der recht früh Sozialist war. Wie können organische Intellektuelle der Arbeiterklasse entwickelt werden und wie kann überhaupt eine historische Wirksamkeit zustande kommen?
Von einem organischen Intellektuellen einer neuen aufstrebenden Klasse erwartet Gramsci sowohl die Kritik der bestehenden Kultur und Zivilisation - wobei der Kulturbegriff so weit gefaßt ist, daß er praktisch mit Zivilisation übereinstimmt - als auch Entwicklung des Denkens über eine neue Kultur, wie die Gesellschaft umgestaltet werden kann. Dies wären also die Aufgabe von organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse. Damit ist Kultur und auch die aufgabe von Intellektuellen für Gramsci nicht mehr ein simples Spiegelbild der Entwicklung in der ökonomischen Basis, wie es im Vulgärmarxismus der Fall gewesen ist. Einem Denken und einem Phänomen, was auch sein praktisches Problem in der Arbeiterbewegung gewesen ist. Das galt es zu überwinden.

frühe Kulturkonzeption bei Gramsci

Gramsci kam 1912 aus Sardinien als Stipendiat des Königs nach Turin. Er gehörte einer ganz armen Gesellschaftsschicht an, die sich eigentlich ein Studium für den Sohn nicht erlauben konnte. Aber es gab im damaligen System für hochbegabte Kinder der Armen manchmal Stipendien und so ein Stipendium hatte er bekommen. Er kam aus der unterentwickelsten, ganz und gar bäuerlich geprägten Region Italiens in das modernste Industriezentrum des damaligen Italiens. Turin war schon damals der Sitz der Fiat und man stellte auch schon Autos her. Es war auch das Industriegebiet mit der praktisch und theoretisch höchst entwickelsten Arbeiterbewegung in Italien.
Er wurde auch relativ früh, wahrscheinlich schon 1913, Mitglied der sozialistischen Partei, die sich aber in einer Phase des Legalismus befand, die ihr, ähnlich wie der heutigen Sozialdemokratie, letztlich gar keine Intervention auf die Wirklichkeit mehr erlaubte. Gesellschaftsveränderung war zur Phraseologie verkommen. Insbesondere wurde das Bild der neuen Gesellschaft nicht wirklich entworfen. Man stellte sich beispielsweise vor, daß Kultur und natürlich auch eine neue Intellektualität überhaupt erst entstehen würde, wenn eine sozialistische Gesellschaft entsteht. Das Bild der Gesellschaft wurde als Spiegelbild der bestehenden Verhältnisse gesehen. Wenn die sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien in Italien überhaupt Kulturkonzepte hatten, dann war das im Grunde genommen immer nur als ein Nachholbedarf der Arbeiterklasse in Bezug auf die bürgerliche Kultur konzipiert.
Das hatte auch die deutsche Arbeiterbewegung ganz stark. Man versuchte beispielsweise Volkshochschulen zu organisieren, die aber nur mehr oder weniger Nachhilfeunterricht in bürgerlicher Kultur gaben. In Deutschland kann man das sogar bis zu Rosa Luxemburg verfolgen. Sie popularisierte praktisch die russischen bürgerlichen Schriftsteller in der deutschen Arbeiterklasse. Man war weit entfernt von einer Selbstdefinition der Arbeiterklasse oder daß man aktive Kulturleistungen von der Arbeiterklasse selbst erwartete. Das sah man als unmöglich an und dafür wurde im Rahmen der Partei nichts getan.
Gramsci war von vornherein gegen eine solche Auffassung, weil er darin einen historischen Solpsismus erkannte. Er sagte, wenn die Elemente nicht auf breiter Ebene gedacht und entwickelt werden dann kann sich auch eine neue Gesellschaftsordnung nicht entfalten,.
Dann kam der Erste Weltkrieg. Die revolutionäre Entwicklung in Russland war in Gramscis Augen zunächst einmal ein Durchbrechen des sozialdemokratischen Prinzips und des sozialistischen Prinzips, was doch auf Evolution und auf ein allmähliches Aufweichen der bürgerlichen Gesellschaft ausgerichtet war. Zunächst große Anerkennung des bolschewistischen Modells. Informationen waren ja nicht so möglich wie heute. man hatte teilweise keine richtigen Vorstellungen, was da eigentlich in Russland geschah.
Das war jetzt keine Sache, die individuell von Gramsci ausging, sondern es ging eine große Inspiration von der russischen Revolution aus. Nicht nur nach Deutschland, wo es ja bekannt ist, sondern auch nach Italien. Es hat ja auch die ungarische Räterepublik gegeben. Es gab ein Überspringen dieses revolutionären Funkens.
In Norditalien, insbesondere in Turin, hatte das die Bildung einer Rätebewegung zufolge. Es entstanden also in Turin, aber auch in anderen Zentren Norditaliens, Soldaten- und Fabrikräte, die sich einbildeten, das russische Modell, daß sie für ein Rätemodell hielten, auf Italien zu übertragen. Es kam sogar zur Besetzung der Fiat, die mehrere Monate anhielt und währenddessen sogar unter Arbeiterkontrolle weiter produziert wurde. Es bestand die Hoffnung, daß sich das über ganz Italien ausbreiten würde. Nun war es aber so, daß die Sozialistische Partei an der Ausbreitung des Rätesystems kein Interesse hatte. Sie fühlte sich selbst davon angegriffen. Sie hatte sozusagen ein patriarchalisches, avantgardistisches Bild der sozialistischen Umwälzung und nicht daß Arbeiter mit Basisdemokratie die Produktion in Besitz nehmen oder kontrollieren. Die Sozialistische Partei diente in keinster Weise als Verbreitungsstruktur des Rätemodells. Insofern gab es große Schwierigkeiten, das Modell beispielsweise in die südlichen Regionen zu tragen.
Interessant für unser Thema ist jetzt, daß die Rätebewegung auch über eine Zeitschrift verfügte. Gramsci war damals Leiter der Turiner Sektion der Sozialistischen Partei, die praktisch aus dem, was die Partei sonst machte, ausscherte. Und er war auch an der Konzeption dieser Zeitschrift beteiligt. Sie hieß "Ordene nuovo", Neue Ordnung, und bestand nicht nur beispielsweise aus Berichten von Arbeiterkorrespondenten aus diesen besetzten Betrieben selbst, sondern hatte auch große Kulturteile, teilweise mit Autoren aus dem internationalen Spektrum. Vorwiegend natürlich pazifistische Autoren, in Italien war seit 1915, 1916 eine starke Antikriegsbewegung entstanden. Aber das eigentlich Originelle war, daß auch Arbeiter selber schrieben, auch Dinge, die jetzt nicht vordergründig politisch waren. Beispielsweise schrieb ein Arbeiter eine Kriminalgeschichte. Und es gab auch Fortsetzungsgeschichten. Arbeitergedichte. Arbeitergedichte wurden gebracht. Es war also der Versuch, mikrokosmisch verschiedene Elemente einer neuen Kultur - und zwar nicht nur durch große Intellektuelle, die mit der Arbeiterklasse sympathisierten - zustandezubringen, sondern auch durch diese Eigenaktivität, deren Förderung natürlich im Rätegedanken von vornherein vorhanden war.
Um die bürgerliche Kultur zu zerstören und ihr etwas Neues entgegenzusetzen, gab es natürlich zunächst einmal sehr wenig. Da war dieser Zerstörungsgedanke, daß die bürgerliche Kultur in ihren Formen wie sie eben war, schockiert und zerstört werden mußte.
Das ist auch bei Gramsci ein ganz starker Impuls gewesen, der ihn von Jugend an, also schon 1911, 1912, zum Anhänger des Futurismus machte. Die italienischen Futuristen waren zunächst aus der anarchistischen Bewegung hervorgegangen. Darüber hat man leider außer ein paar Äußerungen von Gramsci nur sehr wenige Materialien, daß die ersten futuristischen Veranstaltungen 1909, 1910 großes Aufsehen erregten, Polizeiaufgebot. Das Bürgertum war empört. Gramsci schreibt, daß teilweise Arbeiter die futuristischen Veranstaltungen verteidigt haben sollen. Das ist natürlich hochinteressant. Man kann nicht sagen, daß die futuristische Bewegung zu der Zeit klare Forderungen der Arbeiterbewegung weitertransportiert hätte. Sie wollte sozusagen nur die bürgerliche Kultur zerstören. Sie sah das als eine wichtige revolutionäre Aufgabe an. Das ist auch bei Gramsci spürbar, indem er bis weit in der ersten Weltkrieg hinein, sogar noch kurz danach, die Futuristen verteidigt. Obwohl er selber auf Antikriegspositionen stand und ein großer Teil der Futuristen, da beginnt nämlich schon die Faschismusproblematik, sich als begeisterte Kriegsanhänger herausstellten. Die Epoche, wo wir den Futurismus kennen und wahrgenommen haben, da waren führende Futuristen, insbesondere Marionetti, bereits große Verteidiger und Ästheten des Krieges und gingen dann auch in die faschistische Bewegung über.
Nun war es aber so, daß der Zerstörungs- und provokative Aspekt von Gramsci noch lange positiv wahrgenommen wurde. Wobei in der Rätezeit noch etwas anderes dazukommt, was jedoch kulturhistorisch eigentlich ineinanderfließt, und zwar Inspirationen vom russischen Proletkult. Die Oktoberrevolution war zunächst nicht nur ein bolschewistischer Staatsstreich, sondern es gab ja auch Räte. Aus dieser Rätebewegung entwickelte sich der Proletkult. Also auch mit der Idee, daß die neue Kultur nicht von einer Avantgarde vorgeformt, vorgedacht und dann dem Volk verabreicht werden sollte, sondern daß eine Eigenaktivität, Selbstausdruck der Arbeiterklasse zugelassen und gefördert werden mußte. In dieser Zeit wird der Futurismus bei Gramsci von der Proletkultidee abgelöst.
Man bekommt den Proletkult in den Ordene Nuovo hinein, wobei die Futuristen so um 1920 herum noch schwankten. Die Verbindungen zur Arbeiterklasse müssen noch sehr stark gewesen sein, weil Marionetti, der bereits mit Mussolini befreundet war, in einer Phase, wo er sich mit ihm wieder einmal zerstritt, die Turiner Sektion des Proletkult besuchte und dort behauptete, daß die Arbeiter die futuristische Idee viel besser verstünden als das Bürgertum. Es ist auch ein Schwanken der Positionen bei den Futuristen dagewesen.
Das also zunächst mal zu den frühen Formen von Kulturkonzeptionen von Gramsci, wo auch schon die Rolle der Intellektualität - man kann nicht mehr von der Rolle des Intellektuellen sprechen - daraus hervorgeht.

Entwicklung zum italienischen Faschismus

Um zu zeigen, was weiter passierte, muß ich wieder etwas historisch ausholen. Diese norditalienische Rätebewegung mit Turin als Zentrum hatte verschiedene Ausformungen. Es kam nicht überall zu Fabrikbesetzungen wie in Turin. Aber beispielsweise Bologna erlebte auch eine Art der Revolution, in dem dort linke Sozialisten die Macht übernahmen und die ganze Stadt beherrschten und auch großen Einfluß auf die Organisation der Arbeit hatten. Das weiß ich zufälligerweise aus anderer Quelle, weil ein Teil der Aktivisten der ungarischen Räterepublik, die zusammengebrochen war, nicht in die Sowjetunion, sondern nach Norditalien ging. Dazu habe ich mal geforscht.
Die ungarischen Revolutionäre wurden also von dieser sozialistischen Stadt Bologna aufgenommen und bekamen dort nicht nur Lebensunterhalt, sondern auch Arbeit. Dort haben sie über 1 1/2 Jahre in einem sozialistischen Modell, was von dieser sozialistischen Stadtverwaltung durchgesetzt wurde, gelebt. Unter anderem auch die Frau von Bela Khun, er selber war wohl schon in Russland. Andere Aktivisten der ungarischen Räterepublik sind als Emigranten in den Genuß einer recht gut funktionierenden sozialistischen Stadt Bologna gekommen.
Es war eine starke norditalienische Bewegung. Teilweise kam es sogar zur Gründung von Bauernräten. Das stellte natürlich ein Problem für die bürgerliche Republik Italien dar, die sich damals unfähig zeigte, mit der Situation politisch fertig zu werden. Man konnte verhindern, daß sich diese revolutionäre Bewegung nach Süden ausbreitete, aber man kriegte sie nicht tot. Es war schwer, dagegen vorzugehen. In diesem Zusammenhang kam es zu einem Zusammengehen des noch demokratisch organisierten bürgerlichen Staates mit der faschistischen Bewegung. Das ist jetzt etwas ganz Wichtiges für die spätere Entwicklung bei Gramsci. Er erlebte das schon viel früher als es in Deutschland relevant wurde.
Wie alle sozialdemokratischen Parteien Europas mußte auch die sozialistische Partei damals eine Position zum Ersten Weltkrieg entwickeln. Die italienische Partei machte es etwas anders als die anderen sozialistischen Parteien. Als die Deutsche, die dann plötzlich den Kriegskrediten zustimmte, als die Französische, die das auch tat. In Italien war das Selbstbewußtsein, den Krieg gewinnbringend führen zu können, nicht so stark ausgeprägt wie in diesen Ländern. Es gab große Zweifel am Sinn des Krieges. die Partei reagierte darauf, indem sie sagte, wir nehmen am Krieg nicht aktiv teil, aber wir sabotieren ihn auch nicht. Wir werden den Krieg nicht unterstützen und auch nicht sabotieren. Also praktisch eine vollkommen passive Haltung zum Krieg.
Mussolini gehörte aber zu dem Teil der Sozialisten, die sagten, nein, Italien muß aktiv am Krieg teilnehmen. Italien braucht Kolonien. Da steht natürlich schon dieselbe Demagogie dahinter, die dann auch bei Hitler eine Rolle gespielt hat, die in Deutschland überhaupt, auch schon im Ersten Weltkrieg, eine Rolle spielte, daß man sich die Lösung der sozialen Probleme nur über Intervention in anderen Ländern und die Ausbeutung anderer Länder vorstellen konnte, insbesondere durch die Eroberung von Kolonien. Das war eine Gedanke, der auch Sozialisten nicht fremd war. Insbesondere in Italien nicht, wo man das Problem der Landreform nicht gelöst hatte. Die Bauern hatten immer noch kein Land bekommen. Es bestand praktisch immer noch ein Feudalsystem im Süden. Um sich um die Landverteilung weiterhin drücken zu können, propagierte die Bourgeoisie natürlich die Wiedererrichtung des römischen Reiches mit den nordafrikanischen Kolonien. Dem waren auch Teile der Sozialisten im Prinzip nicht abgeneigt. Zu diesem Teil gehörte Mussolini. Er wurde allerdings aus der Partei ausgeschlossen, weil das nicht der offiziellen Parteilinie entsprach.
Von diesem Moment an beginnt praktisch die Entwicklung des Faschismus. Er begründete dann gleich selbst den Popolo D'Italia, was dann später die große faschistische Zeitschrift wurde. die soziale Bewegung, die er um sich scharte, Das Eigenartige war, daß es Mussolini gelang, durch den ganzen Krieg - und auch noch nach dem Krieg, etwa bis 1919 - allgemein als Linker zu gelten. Aber nicht als passiver Linker. Das Verhalten der Sozialistischen Partei war natürlich eigentlich Passivität und Aufgabe einer eigenen Konzeption. Sie entwickelten ja auch keine lenin'sche Position - der sagte, wir nehmen am Krieg nicht teil, werden aber irgendwann die Situation ausnutzen, um zur Revolution zu kommen. Das machte die Sozialistische Partei auch nicht. Mussolini bot also etwas an. Er blieb nicht passiv. Er galt als linker Aktivist und konnte insbesondere in den allerunterprivilegiertesten Schichten Anhänger werben.
Die faschistische Bewegung selbst entstand so ab 1916, 1917, wo die Kriegsmüdigkeit und die materiellen Probleme schon sehr groß geworden waren. Im Süden gab es starke Unruhen, Landbesetzungen, Bauernaufstände, gegen die sich wiederum die Gutsherren schützten, indem sie Privatmilizen aus Landarbeitern aufstellten. Die Gutsherren schufen sich gegen die Bauernaufstände Privatmilizen, die sich Pasci, Bünde auf italienisch, nannten. Das waren praktisch schon außerlegale Kräfte, denn der italienische Staat war schwach und konnte mit diesen Bauernaufständen nicht fertig werden. Dadurch kam es zu diesen Privatmilizen.
Nachdem es 1818, 19, 20 zu den Rätebewegungen gekommen war, war es die große Idee, daß dieses Modell, was im Süden funktioniert hatte, jetzt auch für den Norden anzuwenden. In der Tat ist dann die norditalienische Rätebewegung durch eine ganz fiese Kombination staatlicher legaler Gewalt mit illegaler faschistischer Gewalt erstickt worden. In Norditalien wurden insbesondere aus den 4 1/2 Millionen Kriegsheimkehrern, die wirtschaftlich nicht integriert werden konnten und für die es keine Sozialsysteme gab, rekrutiert. Es war relativ leicht, extrastaatliche Milizen zu gründen, diese zu bewaffnen und dann gegen die Arbeiterbewegung einzusetzen. Indem die Büros angezündet, die Menschen, die dafür waren, ermordet wurden usw. ist die Rätebewegung besiegt worden. Ungefähr Anfang 1920 war sie dann tot.
Zu dem Zeitpunkt war Mussolini natürlich noch nicht an der Macht. Aber ihr könnt euch vorstellen, daß er von diesem Moment an natürlich Anwärter auf die Macht war. Und so kam es dann auch, daß er genau wie Hitler zunächst von der Industrie als vulgär und nicht salonfähig angesehen wurde. Aber die sozialen Probleme liessen sich ja nicht lösen. Schon 1921, 1922 kam es zu offenen Übertritten eines Teiles der italienischen Bourgeoisie und dann auch des Königs zum Faschismus. 1922 wurde Mussolini Ministerpräsident. Allerdings blieben das Parlament und die bürgerlichen Parteien, aber auch die Arbeiterparteien, das ist wichtig, bis Ende 1926 legal und erhalten. Wobei sich für die Arbeiterparteien diese Situation, daß es starke faschistische Terrorkräfte gab, die blendend organisiert waren, sich dahingehend auswirkte, daß die Arbeiterbewegung nur noch im Parlament vertreten war. Die praktische Tätigkeit war schon fast unterbunden, weil dieser Terror natürlich weiterwirkte.
Ein großes Problem, dem sich Gramsci nun zu stellen hatte, das 10 Jahre früher als Deutschland als Problem auftauchte war, wieso dann doch so große Teile des Volkes sich in den Faschismus einbinden liessen. Wie die Volksbewegung von populistischen Manipulationen praktisch nicht nur gespalten, sondern in ganz neuer Richtung gelenkt werden konnte. Warum das überhaupt möglich war und warum das den Sozialisten nicht gelungen war. In diese Richtung gehen viele Sachen, die er dann im Gefängnis geschrieben hat. Das ist sehr schwer zu lesen. Er saß ja im faschistischen Gefängnis und mußte damit rechnen, daß das gelesen wurde. Es wurde ja auch gelesen. Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus ist am Ende in einer so vorsichtigen Sprache geschrieben, daß es heutzutage, besonders aus dem historischen Anstand heraus, ganz schwer zu rezipieren ist. Aber das ist ein anderes Problem. Ich will es trotzdem als Grundproblem benennen, was sich durch diese Gefängnishefte zieht.

Zivilgesellschaft

Ein großes Problem des 20. Jahrhunderts, die großen Volksbewegungen, die jetzt offensichtlich auf die verschiedensten Weisen manipuliert werden können.
Jetzt möchte ich mal wieder eine theoretische Seite, natürlich in Anschluß an konkrete historische Probleme, ansprechen. Ich muß jetzt einen Sprung machen. Es stellt sich jetzt nicht nur das Problem, wieso der Faschismus relativ schnell eine Massenbasis bekommen konnte, was Gramsci größtenteils aus der desolaten Situation, die nach dem Krieg entstand, erklärte. Obwohl Italien zu den Kriegssiegern gehörte, war die italienische Wirtschaft am zerrüttetsten von allen, die den Krieg gewonnen hatten. Ähnlich wie Deutschland, obwohl Deutschland der Verlierer war. Es gab keine Integration der Menschen und so weiter.
Jetzt stellt sich das Problem, wieso hatte die sozialistische Revolution in Russland gesiegt. Das stellte sich damals ja noch als historischer Sieg dar. Und wieso sie sie in Westeuropa nicht gesiegt hatte, insbesondere in Italien.
Gramsci kommt relativ schnell, schon anfang der 20er Jahre - zunächst nicht in theoretischen Termini, sondern ganz praktisch - zu einer Schlußfolgerung, die für alle weiteren Konzepte sehr wichtig ist. Er sagt, daß es in Russland relativ leicht war. Es stellte sich ihm schon dar, daß das mehr oder weniger ein Staatsstreich war. Daß das so eine umfassenden Umwälzung, die man sich unter einer Revolution vorstellt, eigentlich nicht war. Aber daß die Mobilisierung von großen Menschenmassen gegen das zaristische System in Russland wesentlich leichter war als die Mobilisierung von ähnlichen Menschenmassen in einem westeuropäischen Land. Als Hauptgrund sieht er die Existenz der sogenannten Zivilgesellschaft an, die in Russland noch gar nicht oder höchst unterentwickelt war und in Westeuropa, aber auch bereits in Italien, bereits eine relativ starke Entwicklung hatte.
Ich muß jetzt mal kurz eine Definition einschieben. Zivilgesellschaft sind im übertragenen Sinne alle Vereine und Assoziationen, in denen Menschen sich freiwillig zusammenschließen (und natürlich auch wieder austreten können) und politisch/kulturell tätig werden. Zur Zivilgesellschaft sind aber nicht nur die Formen zu rechnen, sondern er spricht auch von Inhalten. Beispielsweise der Inhalt einer Partei oder eines Parteiprogrammes, aber auch kulturelle Inhalte werden auch unter dem Begriff "zugehörig zur Zivilgesellschaft" abgehalten. Das ganze moderne Parteienwesen, das allgemeine Wahlrecht ist erst möglich, wenn eine Zivilgesellschaft besteht. Die Zivilgesellschaft stellt sich theoretisch als eine vom Staat unabhängige Gesellschaft dar. Sie ist aber natürlich doch aufgrund der ökonomischen und finanziellen Machtausübung, die der Staat in die Zivilgesellschaft hinein ausübt, von ihm gegängelt und abhängig. Aber prinzipiell entstehen Zivilgesellschaften im Gefolge der französischen Revolution, indem ein gesellschaftlicher Sektor entsteht, in dem eine Privatheit und bestimmte Entscheidungsräume den Individuen zugestanden werden. Für Gramsci ist dabei völlig klar, er hat darüber auch viele historische Forschungen gemacht, daß die Zivilgesellschaft in ihrer modernen Form mit der französischen Revolution noch gar verwirklicht gewesen ist. Das war eine Forderung. Selbst die französische Revolution führt im Endeffekt erstmal nur zu einem Zensuswahlrecht, also daß man einen bestimmten Besitz haben muß, um überhaupt eine Stimme zu haben. Die französische Revolution, die Jakobinerdiktatur verbietet die Assoziationsfreiheit für Arbeiter. Allgemeine Mobilität wird auch noch nicht hergestellt. Das sind Errungenschaften, für die Frankreich noch 3 weitere Revolutionen braucht:1830, 1848 und 1871. Die Zivilgesellschaft ist kein Geschenk des Bürgertums an das Volk, sondern muß in weiteren schweren Kämpfen überhaupt erst installiert werden - Und stellt dann aus der Sicht der Räte- und Basisdemokratie nur eine total embryonale Form von Demokratie dar.
Dies ist ein großer Unterschied zu Russland, wo es das allgemeine Wahlrecht noch gar nicht gab, wo es aber auch den ganzen kulturellen Überbau der Zivilgesellschaft nicht gab. Es gab noch keine allgemeinen Bildungsinstitutionen, noch keine modernen Vereine, keine modernen Assoziationen, keine modernen Gewerkschaften. Und es gab auch keine Volkskultur in dem Sinne. Die Volkskultur in Russland war allein von der orthodoxen Kirche bestimmt, während beispielsweise in Italien schon große Volkszeitschriften existierten, die nicht nur politische Neuigkeiten verwursteten, sondern auch große kulturelle Beiträge hatten.
Gramsci sieht nun, daß diese moderne Zivilgesellschaft, die in der Mitte und vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in Italien entsteht und mächtig ist, die Mobilisierung der Bevölkerung zum Sturz eines alten Systems enorm einschränkt. Die Zivilgesellschaft hat also starke manipulative Gewalt. Obwohl sie ursprünglich Freiheitspotentiale hat und überhaupt erst gegen das Bürgertum erkämpft werden muß, wird sie sogleich von diesem besetzt und entwickelt so viele manipulaitve Gewalten, daß sich ein revolutionäres Feuer gar nicht mehr so einfach ausbreiten kann. Für ihn ist die Tatsache, daß die Rätebewegung auf Turin oder auf Norditalien beschränkt blieb und sich nicht in den Süden ausbreiten konnte, eine Folge der Robustheit dieser modernen Zivilgesellschaft. Die es im Russland nicht gegeben hatte, keine Gewerkschaften, außer der Kirche keine moderne Volkskultur, so daß sich an wenigen sozialen Fragen, wie der Kriegsfrage und der Landfrage, eine große Mobilität der Menschen, jedenfalls in den politisch entscheidenden Zentren, organisieren ließ und so die alte Gesellschaft umgestürzt werden konnte. Weil Russland diese Zivilgesellschaft noch nicht oder höchstens embryonal entwickelt hatte.
Das sind ganz wichtige Überlegungen, die Gramsci dann schon Anfang der 20er Jahre zur Vorstellung eines anderen Revolutionsmodells führten. Er sagt also, daß die staatsstreichartige Revolution im Westen dadurch auch nicht möglich ist, durch die Existenz der Zivilgesellschaft. Denn es hat ja politische und ökonomische Krisen tiefsten Ausmaßes gegeben, beispielsweise die Krise im Gefolge des Ersten Weltkrieges.
Das führt im Grunde genommen zu einer Verstärkung dieser schon vorher entwickelten Vorstellung, daß bestimmte Positionen der Zivilgesellschaft, insbesondere im kulturellen Bereich, bereits besetzt werden müssen, bevor man überhaupt an die Umgestaltung der Gesellschaft denken.
Aber ich möchte jetzt trotzdem erstmal noch im politischen Raum weiterdenken, weil sich nämlich um 1924 bei ihm meiner Meinung nach eine Neubewertung des Problems der Zivilgesellschaft ergibt. wie gesagt, der italienische bürgerliche Staat war nicht allein in der Lage gewesen, diesem revolutionären Versuch entgegenzutreten. Er mußte aus seiner eigenen Legalität heraustreten. Er mußte den Faschismus mit diesen privaten Milizen, die überall entstanden, tolerieren und hat ihn sogar aktiv gestützt. Die bürgerliche Zivilgesellschaft begann, sich selber zu zerstören. und es war auch klar, daß der Faschismus zunächst die linke Arbeiterbewegung zerstören wollte. Die praktische Tätigkeit war nicht nur durch den Terrorismus eingeschränkt, sondern die Arbeiterorganisationen sollten ja auch verschwinden. Die Pressefreiheit sollte verschwinden, usw.
Bei Gramsci lässt sich die Neubewertung der Zivilgesellschaft ziemlich genau an einem historischen Ereignis festmachen. 1924 regierten die Faschisten Italien praktisch schon seit zwei Jahren, obwohl das Parlament noch funktionierte. Ein sozialistischer Abgeordneter namens Meteotti hielt eine Rede, gegen Wahlmanipulation, die die Faschisten vorgenommen hatten und wurde wenige Tage darauf entführt. Einige Wochen später wurde seine Leiche aufgefunden. Nicht nur für die Parlamentarier, sondern auch für die Öffentlichkeit war es von vornherein klar, daß er von Faschisten entführt und ermordet wurde. Es entstand eine Staatskrise, in deren Gefolge sich eine große antifaschistische Öffentlichkeit bildete. Das ging sozusagen zu weit, das war das Schlimmste, was die sich bisher geleistet hatten.
Es kam zur Bildung eines Gegenparlaments. Die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien, der sozialistischen Partei, aber auch der noch ganz kleinen kommunistischen Partei. Gramsci war Fraktionsführer der kommunistischen Partei, die 1921 als Abspaltung von den Sozialisten gegründet wurde. Mateotti war jedoch Sozialist.
Es bildete sich also ein Gegenparlament im Aventin, das zunächst verkündete, das machen sie nicht mit, jetzt soll Italien von diesem Gegenparlament regiert werden. Das stellte sich aber relativ schnell als Luftgebilde, als Fata Morgana heraus. Dieses Gegenparlament wurde nicht arbeitsfähig. Gramsci schlug beispielsweise vor, es würde nicht genügen, daß das Gegenparlament irgendwelche Versammlungen abhält, es müßte auch zum Generalstreik aufgerufen werden. Es müßte eine Mobilisierung in der Bevölkerung stattfinden, wofür an sich eine günstige Lage war, weil dieser Mord an Mateotti, das war ein Skandal, an dem man diese Mobilisierung hätte aufziehen können. Aber wie gesagt, da machten die bürgerlichen Parteien nicht mit. Da machten auch die Sozialisten nicht mit. Es kam also zu einer Lähmung des gesamten Parlamentes, während die Faschisten lustig weiterregierten.
Gramsci erkannte, daß deren Ziele natürlich im Grunde genommen darin bestanden, das ganze Parlament abzuschaffen, sämtliche Parteien abzuschaffen, allen voran natürlich die Arbeiterparteien. Er machte als Fraktionsführer eine Sache, die total ungewöhnlich für das kommunistische Milieu der damaligen Zeit war: Er hat die kommunistische Fraktion als einzige wieder in das ordentliche Parlament zurückgeführt. Er sagte, wenn wir das Parlament den Faschisten überlassen, ist genau die totalitäre Situation erreicht, die die eigentlich wollen. Die Faschisten drohten nämlich mit der Schließung des Parlamentes, wenn die Abgeordneten nicht zurückkehren. Schließung des Parlamentes, Verbot aller Parteien usw. Er sagte also, wir kehren in das Parlament zurück und wir überlassen diese Institution nicht den Faschisten.
Und obwohl die kommunistische Partei recht klein war, konnte sie genau dadurch in dieser Zeit enorm viele Anhänger gewinnen. Obwohl sie vom Terrorismus weiterhin verfolgt war, stieg die Mitgliederzahl und auch die Leserzahl der Unita, ihrer Zeitschrift, enorm an. Weil sie das Parlament sozusagen als Plattform hatten, was die anderen Parteien nicht mehr hatten. Und wo sie auch die Gefahr nicht erkannten. Während Gramsci, er formuliert das natürlich noch nicht so theoretisch wie ich jetzt, erkannte, daß die Faschisten die bürgerliche Zivilgesellschaft, die auch der Arbeiterbewegung einen gewissen legalen Rahmen gegeben hatte, vernichten wollten. Und zwar grundsätzlich vernichten wollten.
Die Mateottikrise zog sich noch recht lange hin und endete dann in der Tat damit, daß das Parlament geschlossen wurde. Und zwar unter dem Vorwand, daß die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien gar nicht mehr erschienen. Die erschienen auch nicht mehr im Aventin, sondern blieben schlimmerweise einfach zuhause. Die einzige Partei, die überhaupt noch erschien, war die Kommunistische Partei. Um die Kommunistische Partei verbieten zu können, wurde ein Staatsstreichvorwurf konstruiert. Sie konnten jetzt nicht verboten werden, weil sie nicht im Parlament erscheinen wollten, aber angeblich einen Staatsstreich vorbereiteten. Und so wurde dann auch Gramsci trotz seiner Immunität als Abgeordneter verhaftet und kam ins Gefängnis.
Aber das ist jetzt ein ganz wichtiges Axiom, um zu verstehen, wieso dann er ein Sozialismuskonzept entwickelte, was antitotalitär war und - es geht ja aus den Gefängnisschriften schon eindeutig hervor - mit dem autoritären Sozialismus in der Sowjetunion nichts zu tun hatte. Gramsci erhält die basisdemokratische Option der Rätezeit aufrecht, ergänzt aber durch ein Konzept der Demokratie. Und zwar durchaus durch ein zivilgesellschaftliches Konzept der Demokratie.
Der Faschismus ist für ihn ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft vor die Verhältnisse, die die französische Revolution eingeleitet hat. Und der Sozialismus kann sich in seinen Augen natürlich auch nicht wie ein Feudalsystem entwickeln. Wenn das in Rußland so ist, daß erkennt er auch sehr eindeutig, dann hat das historische Wurzeln, weil keine Demokratie entwickelt war. Dasselbe, was für die Revolution zunächst einmal günstig war, für die Mobilisierung während der Revolution, wird sich nach der Revolution als großer Pferdefuß für alle weiteren Entwicklungen herausstellen. Weil dadurch auch keine demokratischen Prozesse und kein demokratisches Bewußtsein da ist. Oder jedenfalls nicht groß genug, so daß sich das durchsetzen kann für die Revolution selbst. Das nimmt Gramsci ja auch schon wahr.
Für ihn ist also die Perspektive eine vollkommen andere. Und auch eine nichttotalitäre Perspektive, insbesondere wie es jetzt konkret weitergehen soll. Der Faschismus hat gesiegt, die Arbeiterbewegung ist zerschlagen, in die Illegalität gedrängt. Aber er glaubt jetzt nicht - darin besteht auch der Konflikt mit der Komintern -, daß die Arbeiterbewegung allein oder gar die Kommunistische Partei allein gegen den Faschismus antreten, ihn besiegen und dann eine Diktatur der Arbeiterklasse errichten könnte.
Seine Konzeption zielt auf die Errichtung einer verfassunggebenden Versammlung. Zunächst einmal auf Bündnisbeziehungen mit allen potentiell antifaschistischen Kräften, was dann ab 1937, ungefähr zu dem Zeitpunkt, wo er stirbt, auch faktisch eingeleitet wird. Die italienische Reißens entsteht ja aus Bündnisbeziehungen aller potentiell antifaschistischen Kräfte. Und die Neugründung des Staates nach dem Faschismus kann dann in Gramscis Augen natürlich nicht als Diktatur des Proletariat erfolgen, sondern muß auch diese ganzen antifaschistischen Kräfte erstmal zur Grundlage haben. Also als verfassungsgebende Versammlung.
Damit wird in seinen Augen erstmal wieder eine Grundlage für die Existenz einer Arbeiterbewegung und einer Zivilgesellschaft geschaffen.
Die Demokratie nicht nur als allgemeiner politischer Rahmen, sondern in der Arbeiterbewegung selbst. Dafür hätten wir dann auch viele Belege, auf die ich jetzt im einzelnen nicht eingehen will. Wie er das auch in der Partei selber erhalten wollte, dafür gibt es einen paradigmatischen Vorgang. Der ursprünglich Führer der Kommunistischen Partei, Bordiga, war eher ein Kommunist, der zu einer Staatsstreichkonzeption tendierte und die Partei als kleine, reine Kaderorganisation organisieren wollte, nicht als Massenorganisation. Da gab es schon große Schwierigkeiten. Gramsci ist überhaupt nur Parteiführer geworden durch kommissarisches Einsetzen durch die Komintern, als diese Konflikte noch nicht so aufgebrochen waren - 1924 - weil Bordiga im Gefängnis war. Mit seinen Vorstellungen hatte er die Mehrheit der Kommunisten Italiens nicht hinter sich. Das war ein kommissarisches Einsetzen.
Und für ihn selber ist das aber ein großes Problem. Er sieht das als Problem an, daß er die Partei leiten soll ohne daß die Mitglieder ihn bestimmten - seine Linie war noch nicht einmal bekannt. Und da gibt es, das ist auch heute belegbar, wenn ihr die Jugendbriefe, die vor zwei Jahren übersetzt worden sind, lest, die Briefe, die vor der Gefängniszeit entstanden sind, da ist also auch ein großer Briefwechsel mit Togliatti, mit anderen Führungskadern der Partei, darüber, wie der Konflikt, ob Kader- oder Massenpartei ausegtragen werden soll.
Bordiga kam dann bald wieder frei. Mit ihm öffentlich, soweit daß unter terroristischen Bedingungen noch möglich war, diskutiert werden. Nicht nur alle Parteigremien, sondern auch die untersten Mitglieder sollten in diese Diskussion verwickelt werden, so daß es dann zu einem Parteitag kommen würde, wo dann die Linie keine Kaderpartei, sondern Massenpartei beschlossen, wo das von allen Mitgliedern verstanden und abgesegnet wurde. Und das alles unter Bedingungen, wo in der Sowjetunion schon ein vollkommen anderes Umgehen mit unliebsamen Personen oder Positionen, die man nicht haben wollte, üblich war und einer illegalen Situation in Italien.
Dieser Parteikongress, auf dem dann tatsächlich die Mehrheit der Delegierten für Gramsci stimmte, 1926, mußte in Lyon stattfinden. Der konnte gar nicht in Italien stattfinden, obwohl die Partei offiziell noch nicht verboten und im Parlament vertreten war. Aber wegen der Terrorismusgefahr mußte man ins Ausland gehen. Trotzdem ist es geschafft worden, mit demokratischen Prozeduren die Umorientierung der Kommunistischen Partei auf eine Massenpartei zu vollziehen. Ein Prozeß der ja dann höchst bedeutsam werden sollte, der die Partei in der Illegalität stark machte, der sie als Massenpartei aus der Illegalität dann 1944 entstehen lies. Da sind ja ganz grundlegende Weichen gestellt worden. Und auf der Grundlage demokratischer Strukturen.
Es kam auch nicht zu einem dauerhaften persönlichen Zerwürfnis, das ist wahrscheinlich der deutlichste Beweis, wie dieses Verfahren der Ausscheidung von Bordigas Position vor sich ging. Während des Konfliktes ging es zwar auch ganz schlimm her, man beschimpfte sich usw., aber als dann Bordiga und Gramsci im Gefängnis waren, sie waren teilweise zusammen auf dieselbe Insel verbannt, schon 1927, 1928 sind sie sogar wieder befreundet, obwohl die politischen Positionen sehr unterschiedlich sind. Bordiga ging dann eher in trotzkistische Richtung. Bordiga wurde dann 1929 von Moskau aus der Partei ausgeschlossen, schrieb aber an Gramsci im Gefängnis weiter Karten. Schickte ihm Lebensmittel usw. Bloß um zu zeigen, daß hier vollkommen andere innerparteiliche Normen des Austragens von Gegensätzen aufgestellt worden sind, offensichtlich auch mit Erfolg.

Alltagsverstand

Jetzt kommen wir in die Phase der Gefängnishefte, wo diese ganzen Erfahrungen noch einmal in eine theoretische Sprache umgesetzt werden. Ich glaube, daß man die Gefängnishefte kaum lesen kann, wenn man nicht diese historischen Hintergründe und Entwicklungen, die dann auch zu Entwicklungen in Gramscis Denken geführt haben, kaum verstehen kann.
Er bleibt aufgrund der basisdemokratischen Option bei der Vorstellung, daß eine Kulturkonzeption zu entwerfen sei, mit einem fließenden Übergang vom Intellektuellentum zu den normalen Menschen und umgekehrt. Intellektuelle als Kader oder eben auch als traditionelle Intellektuellewird von Gramsci abgelehnt.
Gramsci entwickelt das anhand des Konzeptes des Alltagsverstandes. Wenn eine große historische Umwälzung angestrebt wird, muß es zu einer Erneuerung des Alltagsverstandes kommen. Alltagsverstand als Jedermanns-Philosophie aufgefasst, die aber natürlich begrenzt ist durch die begrenzten Bildungsmöglichkeiten, durch das Mitschleppen von vielem traditionellen, altertümlichen, folklorischen Denken. Gramsci selbst leistet eine dialektische Kritik des Alltagsverstandes, der sowohl diese negativen Tendenzen hat als auch dennoch im Vergleich zum traditionellen Intellektuellentum auch seine Vorteile. Der Alltagsverstand wäre beispielsweise handfester, oft mehr an Realitäten orientiert, würde oft schon modernes Denken annehmen, hätte teilweise auch Vorstellungen von Solidarität usw., die man in der Hochphilosophie nicht findet.
Der Alltagsverstand wird unter zwei Seiten gesehen. Alltagsverstand als ganz wichtiges Feld aber auch als Bezugspunkt von den Intellektuellen, die sich jetzt für die Arbeiterbewegung einsetzen, sich für sie engagieren. Das war nicht nur Input, sondern auch Output. Es soll zu einem ständigen Austausch zwischen diesen Bereichen kommen. Und nach der Gründung eines neuen Staates natürlich auch ein neues pädagogisches System, darauf brauche ich jetzt vielleicht nicht im einzelnen einzugehen.
Im großen Unterschied, das betont er immer wieder, zur Katholischen Kirche oder auch zu den Gepflogenheiten des bürgerlichen Staates sollte nicht Hochkultur und Volkskultur vollkommen getrennt voneinander gedacht werden. Sondern sie müssen zusammengeführt werden. Der Alltagsverstand - ist ja auch völlig klar, im Zeitalter des allgemeinen Wahlrechtes ist der Alltagsverstand das von der Zivilgesellschaft umkämpfte Gebiet.
Es geht demnach darum die politische Kategorie mit der kulturellen in Zusammenhang bringen. Das hatte eben auch der Faschismus. Oder daß der Faschismus kommen konnte, hatte das gezeigt, daß im Alltagsverstand große Konfusion herrschte, daß große Zurückgebliebenheit herrschte, wenn es möglich ist, so große Teile der Leute gegen ihre eigenen objektiven Interessen zu instrumentalisieren, zu mobilisieren, einzubinden.
Also Alltagsverstand als ganz wichtiges Feld der Auseinandersetzung. Aber nicht nur patriarchal-pädagogisch gedacht, sondern der Alltagsverstand hätte auch selber Qualitäten, von denen sich Intellektuelle inspirieren lassen können. Er nimmt ja auch diesen Satz aus den Feuerbach'schen Thesen wieder auf, daß der Erzieher erzogen werden soll und sich erziehen lassen soll. Der Lehrer soll lernen usw. Ein dialektisches Austauschverhältnis soll hergestellt werden.
In modernen westlichen Gesellschaften wäre also ein Sozialismusmodell, autoritär eingeführt, durch eine Avantgarde bestimmt, wie es in der Sowjetunion der Fall war, von vornherein chancenlos. Die Chancenlosigkeit hatte sich für Gramsci schon politisch gezeigt. Das sieht er auch als intellektuell chancenlose Vorstellung. Er sieht die große Aufgabe, daß es eine Gruppe von Intellektuellen geben muß, die das auch selber wollen und die auch die Fähigkeit haben, das zu verbreiten.
Großes Problem: er erkennt ja die manipulativen Gewalten, die sich innerhalb der bürgerlichen Zivilgesellschaft mit Hilfe der Massenmedien herausbilden. Er hat ja große Analysen von Zeitschriften, bezieht Radio, Kino schon in seine Überlegungen ein. Er konstatiert eine große Geschmacksablehnung der traditionellen Intellektuellen gegen die für das Volk gemachte Massenkultur. Sie ist nicht nur ästhetisch primitiv, sondern sie vertritt ja auch nicht die objektiven Interessen dieser Menschen. In Italien wird die auch teilweise noch von der Kirche mitbestimmt. Auch die Kirche vertritt zu seiner Zeit schon riesige Mengen von Trivialliteratur, eben dann mit katholischem Inhalt.
Dann macht er eine interessante Wende im Denken, die im Marxismus seiner Zeit vollkommen ungewöhnlich war. Er sagt, diese Massenkultur ist eine Tatsache und hat das Denken und Fühlen der Menschen eben geprägt. Wir können jetzt auch nicht eine vollkommen fremde, neu ausgedachte Kultur dagegensetzen. Die Gegenkultur muß auch in massenkultureller Form daher kommen. Also sogar auch an dem Geschmack der Leute anknüpfen. Schon 1918 gibt es von ihm einen Artikel, wo gesagt wird, der Fortsetzungsroman in den großen Zeitungen und Zeitschriften darf nicht nur von den Rechten oder von den Traditionalisten oder von der Katholischen Kirche beherrscht werden. Es müssen sich auch Schriftsteller mit unseren politischen Ansichten herausbilden, die auch Fortsetzungsromane schreiben. Für genau dieselben Leser.
Das ist dann beispielsweise eine Auseinandersetzung mit Paul Nizan. Aber auch mit der ganzen Richtung im Marxismus, die sich herauszubilden beginnt (auch mit Lukács, ein Höhepunkt), wo gesagt wird, man muß eine neue Ästhetik schaffen, eine sozialistische Ästhetik aus theoretischen Überlegungen abgeleiten.
Aber Gramsci sagt, das genügt nicht. Wir müssen heute den Menschen etwas vorsetzen, die ganz bestimmte Rezeptionsgewohnheiten haben. Also mit neuem Inhalt bestimmte vorhandene Formen füllen. Die neue Literatur, die neue Kultur kann sich nicht aus einer Schule theoretischen Ursprungs herleiten, sondern man muß sehen, was existiert. Existieren nicht beispielsweise Widerstandsformen im Alltagsverstand? Sind diese Widerstandsformen in moderne Kulturfilmen einbringbar? Er möchte dieses Feld der Masssenkultur offenhalten und vertritt im wesentlichen eine Position, die man dann pointierter formuliert bei Benjamin wiederfindet in dem berühmten Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduktion", in dem gesagt wird, daß sich der modernen Medien, der modernen Massenkultur, der Technik der modernen Massenkultur sowohl die emanzipatorische Richtung bedienen kann als auch die faschistische.
Damit steht Gramsci mit Benjamin, aber auch mit Brecht, auf dieser letztlich kulturoptimistischen Seite gegen die Frankfurter Schule, die im Grunde genommen über den Marktmechanismus in der modernen Massenkultur immer nur eine Reproduktion von bürgerlichem Klasseninteresse vermutet und sehen kann und es ausschließt, daß sich emanzipatorisches Denken in diesen Schienen überhaupt entwickeln kann. Das ist aber ein Standpunkt, der nirgendwo in die politische Praxis führt, wo man dann emanzipatorisches Denken auch wieder nur auf bestimmte Eliten gedacht sich denken kann. Wo man gar nicht mehr denken kann, wie eine Massenbewegung zustande kommen kann.
Wir stehen jetzt natürlich in einer Zeit, wo sich gerade wieder die Schlußfolgerungen und Axiome der Frankfurter Schule als Evidenzen aufdrängen. Man neigt eben auch dazu, jaja, die hatten doch recht, man sieht es an allen Ecken und Enden! Nicht? Da kann ich aber jetzt nur sagen, wer so denkt, hat bereits verloren. Der Widerstand muß weitergedacht werden und er muß auch auf einer Ebene gedacht werden, wo er für größere Menschengruppen mitmachbar ist. Und da, würde ich sagen, liefert Gramscis Denken große Ansatzpunkte.

Ich will vielleicht, ehe wir zur Diskussion kommen noch mal einen Punkt, den ich jetzt völlig ausgesprt habe, nur mal andenken. Mit dem zunächst einmal Zulassen auch des politischen Pluralismus geht natürlich auch ein Pluralismus im ästhetischen Denken und im kulturellen Denken vor sich. Die neue Gesellschaft soll nicht durch ein einheitliches Prisma gedacht werden, sondern durch verschiedene. Gramsci sieht sehr wohl, daß die Bauern wahrscheinlich eine andere Kultur, eine andere kulturelle Entwicklung zunächst durchmachen werden als die Arbeiter. Und daß bestimmte Zwischenschichten auch wieder etwas anderes machen. Das Kulturkonzept ist also auch soziologisch nach den bestehenden Verhältnissen aufgeschlüsselt. Wobei er mehr analysiert als projektiert. Das ist ja vor allen Dingen analysiert. Die bäuerliche Folklore, dann der Fortsetzungsroman, den sowohl Arbeiter als auch kleinbürgerliche Schichten lesen usw.
Er macht auch selber keine normativen Vorschläge. Dieser Grundgedanke von der Rätebewegung, daß eine Eigenaktivität der entsprechenden Schichten stattfinden soll, verbietet ja von vornherein die Vorstellung von normativer Ästhetik, wie sie beispielsweise mit Lukács in den 30er und 40er Jahren im offiziellen Sozialismus gewesen sind. Er sieht überhaupt keine normativen Funktionen, im Gegenteil, allerhöchste Freiheit. Insofern auch eine enge Verwandtschaft seines Kulturkonzeptes zu dem von Bertolt Brecht.
Jetzt höre ich vielleicht erstmal auf, sonst bleibt die Diskutierzeit zu kurz. Vielleicht habe ich auch manche Punkte zu breit und andere gar nicht ausgeführt. Also stellt bitte noch Fragen.
Noch eine kurze Anmerkung: Das Konzept der Arbeiterklasse ist bei ihm, wie das aus der Zeit heraus auch nicht anders vorstellbar ist, schon an die Vorstellung eines immer größeren und auch politisch stärker werdenden Sektors von Menschen gebunden, die in der Großindustrie arbeiten. Er hat natürlich ganz das Konzept, das man damals hatte, aber ich finde, das ist jetzt nicht die eigentliche Barriere, um das Konzept zu diskutieren. Wir wissen heute, daß es eigentlich um alle Menschen geht, die keine Verfügungsgewalt über Produktionsmittel haben. Und man das auch nicht mehr so national sehen muß, daß es alles übergreift und so weiter. Aber wenn man davon absieht, finde ich, lassen sich schon Inspirationen, die für heute eigentlich auch wichtig sind, ableiten.

Diskussion

F.: Verständnisfrage in Bezug auf die Sache mit der Massenkultur, die eben eine Tatsache ist. Du hattest Gramsci in Gegensatz zu Lukács gestellt. Aber von Lukács gibt es den Begriff von der Aktualität der Revolution, der sehr wichtig ist für das ganze Konzept. Den findet man glaube ich auch noch bei Benjamins Kunsttheorie, wo es darum geht, die Massenkultur dialektisch zu verwerten und um faschistisches Potential zum kommunistischen zu wenden. Gibt es dieses auch noch bei Gramsci, wenn er selber im Kerker sitzt, ob er sich das noch vorstellen kann, ob dieses Blitzmoment noch da ist.

A.: Ein Blitzmoment würde ich das nicht nennen. Aber einfach die Aktualität der Revolution.Ich glaube, daß er das als vollkommen unrealistisch angesehen hat. Die ganze Arbeiterbewegung war ja in die Illegalität gedrängt. Und Gramsci war beispielsweise nicht der Meinung, je schlimmer die Verhältnisse, um so besser für die sozialistische Revolution oder so. Solche Vorstellungen hatte man ja in der Komintern und auch in den westeuropäischen kommunistischen Parteien. Daß je schlimmer der Faschismus wütet oder je ungebärdiger sich der Kapitalismus gibt, um so automatisch würde Widerstand entstehen, der dann instrumentalisierbar für die Revolution ist. Diese Vorstellung hatte er nicht.
Da nähert er sich auch schon einer Erkenntnis von Verhältnissen an, die wir heute noch haben. Denn es stellt sich ja immer mehr als Illusion heraus, zu denken, wenn die Dritte Welt noch mehr ausgebeutet wird, daß dann effiziente Widerstandsstrukturen schon entstehen werden. Wir erleben ja auch gerade das Gegenteil. Gerade auch dieses Entstehen von Faschismen erleben wir eigentlich jetzt auch wieder mit. Daß es im Grunde genommen wahrscheinlich wesentlich leichter ist, aus schwierigen sozialen Bedingungen heraus einen Faschismus zu konstruieren, eine Volksbewegung im faschistischen Sinne zu instrumentalisieren. Ich sehe das ähnlich wie er das gesehen hat. Daß das dann im Grunde genommen relativ leicht ist. Und natürlich erstmal mit ideologisch vorgeprägten Fraktionierungen einhergeht, wie Rassismus, Ausgrenzung und Hierarchiesierungsversuche innerhalb der subalternen Schichten.

F.: Du hattest früher mal gesagt, daß Gramsci ein Theoretiker für das Überwintern ist. Wie stellt sich denn dann die positive Verständnis von Massenkultur unter diesen Umständen dar, wenn das Hebelmoment von der Aktualität der Revolution nicht mehr gegeben ist.

A.: Er stellt ja die Notwendigkeit von Revolution nicht in Frage. Aber wir haben beispielsweise kaum einen Hinweis, ob er sich das als einen Blitzmoment vorstellt. Ich glaube, da sind sogar eher Texte da, wo er das auch zeitlich nicht mehr in einem geballten Vorgang vorstellen kann. Wohl aber natürlich als Umsturz von Institutionen. Das ist jetzt die Schwierigkeit, das bei ihm selber nachzuweisen. Das ist schon eher eine philologische Aufgabe von nicht so großer Wichtigkeit. Der Bruch wird natürlich gedacht und auch eingefordert. Aber jetzt nicht wie in einem Staatsstreich, daß man das Radio besetzt und alle möglichen Ministerien und dann wäre die Revolution da. Da stellt sich schon die ganze Zivilgesellschaft in ihren vielen, vielen Verästelungen diesem Projekt entgegen. Aber er sieht natürlich die Notwendigkeit. Insofern ist er schon Revolutionär, indem er die Notwendigkeit von institutionellen Brüchen vorsieht. Aber wie das jetzt vonstatten gehen soll, da finden wir bei ihm genauso wenig konkrete Hinweise wie bei Marx.
Gramsci ist ja auch Historist. Er beschäftigt sich im Grunde genommen nur damit, wie eine Situation historisch geschaffen wird, wo das viele Menschen wollen. Und der Bruch wird angestrebt. Aber es wird jetzt nicht gesagt, daß der heute oder morgen stattfinden soll. Sondern es geht erstmal darum, die Voraussetzungen zu schaffen.

F.: Das meinte aber auch Lukács. Der meinte, daß diese Revolution möglich ist und daß das eben im Denken ein Moment ist, ein Ansatzpunkt, um Konzepte zu gestalten. Daß da dieser Riss ist, an dem man ansetzen kann und daß man dann das, was da ist, für eigene Konzeptionen verwenden kann. Also die Politisierung der Kunst funktioniert, weil klar ist, daß die Massen eigentlich nur das umkippen und dann ginge das. Und daraus entwickelt er das Konzept. Darum geht es mir. Seine Konzeption von progressiver Deutung von Massenkultur. Die geht von diesem einen Moment aus. Und wenn der nun nicht mehr da ist?

A.: Wird dann Massenkultur nur als Folge dieses Momentes gesehen oder als in der Moderne vorhandene Struktur erst einmal? Die so und so funktionalisiert werden kann. Das haben Horkheimer und Adorno auch schon sehr gut beschrieben, daß totalitäre Regime, sowohl in der Sowjetunion als auch dann im deutschen Faschismus, daß die sich die ganze Apparatur der Massenkultur gefügig gemacht haben. Wo ich dann nicht mehr mitgehen würde, ist, daß sie auch in der amerikanischen Massenkultur denselben Totalitarismus vermuten. Das ist schon wieder eine andere Diskussion, wo dann von aussen nichts mehr eindringen kann, wo kein emanzipatorisches Pflänzchen mehr wachsen kann. Das stimmt ja auch in hohem Maße. Aber Benjamin sagt doch und das ist eigentlich auch Gramscis Position, daß trotz der Besitzverhältnisse auf dem Kulturmarkt, dieser Einbruch immer wieder versucht werden muß.
Es richtet sich natürlich gegen eine ökonomistische Definition der Überbauten, der Superstrukturen. Bei Horkheimer und Adorno ist an diesem Punkt meiner Meinung nach ein mechanistisch-ökonomistischer Kurzschluß da. Aber daß der Mensch als frei denkendes Wesen potentiell immer wieder vorhanden ist, macht potentiell diese Lücke möglich. Ob die genutzt wird oder nutzbar ist, das ist historisch offen. Wir stehen doch gerade in Deutschland vor der Situation, daß es bei uns eigentlich kaum noch jemand nutzen möchte, weil man von vornherein sagt, die manipulativen Gewalten sind eben so, daß man da gar nicht rein kann. Und daß auch emanzipatorische Kunst eher hochkulturell gedacht wird oder denkbar ist, eben im Anschluß an Adorno. Und daß man sich das überhaupt nicht vorstellen kann.
Es ist auch eine andere Situation beispielsweise schon in Italien. Umberto Eco ist meiner Meinung nach ein ziemlich gramscianisch ausgerichteter Intellektueller, der hochkulturelle und auch emanzipatorische Ansprüche geschickt in eine massenkulturell verwertbare Form bringt und damit auch Erfolg hat. Aber so ein Intellektueller oder Künstler ist in Deutschland fast undenkbar. Oder jedenfalls kann er nicht konstruiert werden auf diesem Schema, was wir eben durch die Frankfurter Schule haben. Es ist auch in den USA vollkommen anders. Adorno und Horkheimer hatten meiner Meinung nach einen historisch besonders dunklen Punkt erwischt, an dem auch sämtliche Hoffnungen in der Sowjetunion zusammenbrachen.
Aber da gibt es bei Horkheimer und Adorno auch eigene Blackouts. Weil sie beispielsweise den Einbruch des Jazz, der ja ein kultureller Einbruch von den untersten und ausgebeutesten Schichten ist, den sie gerade auch nur als Ausdruck des Fordismus, des Marktes und der Systemanpassung gesehen haben und nicht als etwas positives. Das hängt natürlich auch ganz speziell mit Adornos Geschmack und Vorlieben zusammen. Dadurch ist aber der amerikanische Kulturbetrieb, der eben doch - ich will ihn hier auch nicht übermäßig loben, versteht mich da bitte nicht falsch - diese demokratische Öffnung irgendwie damals schon hatte. Aber dieses Element, wo man es hätte sehen können, das haben die nicht gesehen oder wollten sie nicht sehen.
Dadurch kommt es zu einer totalen Identifizierung dieses bürgerlichen Kulturbetriebes mit den totalitären Kulturbetrieben. Damit wäre ich also auch nicht einverstanden. Wobei es einem natürlich auch schwer fällt, Optimistisches für die Zukunft vorherzusagen. Weil wir wissen ja um die Macht der Medienbetriebe, die Konzentration in den Medienbetrieben. Das liegt ja auf der Hand, daß das im Grunde nicht abgenommen sondern zugenommen hat. Bloß, ich bin der Meinung, wenn man diese Schlacht von vornherein für verloren erklärt, dann hat man natürlich auch von vornherein verloren. Das ist eine Position, die ich mir in Deutschland von mehr Leuten überwunden erhoffe oder wünsche.

F.: Ich habe eine Frage zum Modell der Zivilgesellschaft. Glaubst du, daß in der bisherigen Diskussion um die Zivilgesellschaft, die verstärkt seit der Wiedervereinigung läuft, in der man eher den Eindruck hat, daß mit Zivilgesellschaft eine abgeänderte Form der Volksgemeinschaft gemeint ist, ob man den Begriff der Zivilgesellschaft von Gramsci dagegen setzen kann, wie du ihn dargestellt hast - einen Begriff der sich stark von dem zur Zeit diskutierten unterscheidet. Ob man damit ein Instrumentarium hat, um eine Kritik an dem Realsozialismus zu machen und gleichzeitig eine Kritik an der derzeitigen bürgerlichen Gesellschaft mit so etwas wie einer Perspektive.

A.: Zum Realsozialismus brauche ich wahrscheinlich nichts mehr zu sagen. Da habe ich schon allerhand vorgebracht. Meiner Meinung nach haben im Realsozialismus nur zivilgesellschaftliche Potentiale bestanden. Große prinzipielle Fähigkeit der Gesellschaft, vom Staat unabhängige Organismen, Organisationen, Assoziationen, Vereine aller Art zu gründen und kreativ über die eigen Gesellschaft zu bestimmen. Diese Potentiale haben bestanden, aber sie sind durch den Totalitarismus nicht gesellschaftlich wirksam gewesen. Insofern sage ich, daß dort keine Zivilgesellschaften existiert haben.
Der große Unterschied. Wir haben jetzt besonders dieses angloamerikanischen Begriff von Zivilgesellschaft, wo bloß ein formales Funktionieren bürgerlicher Demokratie gemeint wird. Etwas aufgebessert durch Solidargemeinschaften traditionellen Typs, wo die Familie , Nachbarschaftshilfe und so weiter mehr ausgebaut werden sollen. Dieses komunitaristische Modell wird damit ja auch verbunden. Da gibt es natürlich einen tiefen Graben zu Gramsci, der natürlich die zivilgesellschaftliche Funktion nicht losgelöst von ökonomischer Teilhabe sieht. Darüber habe ich jetzt natürlich nicht so viel gesprochen. Aber das ergibt sich aus dem kommunistischen Hintergrund. Für ihn ist Demokratie nicht nur nicht bürgerliche Demokratie, wo man alle 4 Jahre vielleicht mal zur Urne geht und hier und da auch nochmal was in der Zeitung schreiben kann, sondern es bleibt als Ziel eine viel umfassendere Demokratisierung, basisdemokratische Organisation aber auch ökonomische Teilhabe. Nicht nur die politische Mündigkeit, sondern auch die ökonomische Unabhängigkeit der Individuen sind praktisch der Nukleus der Zivilgesellschaft von Gramsci. Das ist jetzt glaube ich der große Unterschied zu diesem propagierten Zivilgesellschaftsbegriff, wo wir uns nur etwas besser und toleranter zu benehmen haben. Und im Grunde genommen die Formen von bürgerlicher Demokratie, die da sind, als genügend hingestellt werden, sogar ans Ende der Geschichte usw. Wir kennen das ja.
Gramsci sieht, insofern ist er ein Fortsetzer der Aufklärung, die Entwicklung der Demokratie nicht, was ja unter der heutigen Linken gerade auch in Deutschland leider oft so gesehen wird, als irgendwie ein faules Geschenk der Bourgeoisie ans Volk um zu manipulieren. Historisch ist Demokratie nie ein Geschenk gewesen. Bürgerliche und kapitalistische Gesellschaftsordnung herrscht auch oft ohne Demokratie. Siehe Faschismus. Sie möchte die Demokratie sogar ständig einschränken und abschaffen, wenn nicht das Volk selber dafür sorgt und dafür kämpft, daß sie erhalten bleibt. Das sind gar keine automatischen Gegebenheiten, die irgendwie strukturell mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung automatisch verbunden sind. Wenn überhaupt allgemeines Wahlrecht geschaffen worden ist, dann zunächst in rudimentärer Form. Denken sie dran, daß die Frauen sehr lange aus dem allgemeinen Wahlrecht ausgeschlossen waren. Das ist eigentlich ein Witz, die Entwicklung des allgemeinen Wahlrechtes zu sehen. Auch dann, daß es nur so in eingeschränkter Form wahrgenommen werden kann.
Aber es sind natürlich andere Formen von Demokratie möglich. Und da leitet Gramsci auch einen völlig anderen Sozialismusgedanken ab, als die Sozialismusmodelle in der Praxis funktioniert haben - Die ja bis zum Ende nicht demokratisch waren, woran sie dann meiner Meinung nach zerbrochen sind. Sie sind natürlich nicht nur daran zerbrochen, daß man da nicht wählen konnte. Sie sind auch zerbrochen, weil durch die Knebelung der Zivilgesellschaft sämtliche Eigenkreativität unterdrückt wurde. Die Menschen konnten ja gar nicht ihre eigene Umwelt kreativ und selbstbestimmt entwickeln. Das waren immer einige Kreise, die sich da Donnerstag Nachmittag in der DDR irgendwas ausgeheckt hatten, wie sich nun die Produktionskombinate weiterentwickeln sollten. Stellt euch das mal vor. Obwohl die Menschen alle mindestens zehn Jahre in die Schule gegangen waren und große intellektuelle Potentiale überall vorhanden waren. Aber die konnten nicht wirksam werden. Gramsci ist eine vollkommen andere Art, Sozialismus zu denken.
Aber das bedeutet nicht, daß irgendwie die bestehende bürgerliche Zivilgesellschaft anerkannt wurde. Allerdings in dem Schicksalsmoment, wo sich die bürgerliche Demokratie selber abschaffen wollte, um die bürgerliche Klassenherrschaft zu erhalten, war absurderweise der Führer der kommunistischen Fraktion derjenige, der sie überhaupt als einziger verteidigt hat. Weil er damals schon erkannte, daß eine Arbeiterbewegung nicht mehr möglich sein wird, wenn das alles zusammenbricht.
Deshalb würde ich auch sagen, daß die deutsche Linke, bei mir auch Demokratie auf eigenartige Weise nach dem zweiten Weltkrieg aufgedrängt bekam. Wir haben selber nur Niederlagen der demokratischen Volksbewegung im 19. Jahrhundert gehabt. Wir haben deshalb auch kein starkes demokratisches Selbstbewußtsein unserer Linken. Gerade in Deutschland wird Demokratie häufig eben als faules Ei, daß die Bourgeoisie irgendwie hat, um das Volk zu manipulieren, abgetan. In Strukturen demokratischer Teilnahme zu denken, da gibt es wenig eigene Kreativität. Da wäre eben auch ein Einfluß von Gramscis Denken nicht schlecht, wenn sich das in diese Richtung mehr entwickeln könnte.
Es ist ja immer schwer, das alles historisch zu erschließen. Aber auch durch Internationalisierung. Beispielsweise ist die Schweiz das einzige europäische Land, wo die 48er Revolution gesiegt hat. Von dort her die Volksrechte. Das ist wirklich eine Sache, die man sich mal angucken muß. Die schweizer Linke hat zum Glück, auch erst so seit 10, 15 Jahren, erkannt, daß die Volksrechte nicht etwa irgendwie nur ein Geschenk sind oder nur weil die Schweiz viel Geld hat, sondern daß das reale Ergebnisse von Volkskämpfen sind. Die aber auch nicht nur schlechte Seiten haben, sondern die man auch aktiv benutzen kann, die man ausweiten muß. Die müssen sogar verteidigt werden. Die schweizer Wirtschaft möchte ja in die EG, um die schweizer Volksrechte abschaffen zu können. Ich glaube, daß es im Moment ganz wichtig ist, in diesen Fragen über den nationalen Rahmen, die nationale Geschichte hinauszusehen.
Ganz wichtig wäre ein Bündnis mit republikanischen Bestrebungen in Frankreich, weil dort die neofaschistische Gefahr schon viel weiter fortgeschritten ist als in Deutschland. Insofern aber auch regeres Bewußtsein der republikanischen und demokratischen Kräfte. Das müßte man mal zur Kenntnis nehmen.
Es geht nicht nur darum, daß sich das Kapital in Europa eine Wirtschaftsstruktur schafft, bei der die demokratische Mitbestimmung noch eingeschränkter ist, als die jetztzige im Rahmen der Nationen erkämpften demokratischen Rechte. Die werden dadurch teilweise ausser Kraft gesetzt und durch gar nichts neues gesamteuropäisches ersetzt. Das sind eigentlich ganz wichtige Fragen, wo wir auch mal nachdenken und Beiträge leisten müßten.
Ich würde sagen, demokratisches Bewußtsein nicht nur über die Erkenntnis dieser historischen Entwicklung zu Demokratie, sondern eben auch, indem man sich mit den umliegenden Völkern auseinandersetzt, mit denen wir jetzt immer enger zusammenwachsen, aber hoffentlich nicht in einer Diktatur, sondern doch mit wachsender Teilhabe und Mitbestimmung.