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KOSOVO Antikriegsseite


»Kreml hat Jugoslawien verkauft«
In Moskau vergleicht man das Kosovo-Diktat der NATO mit München 1938

Nur der Präsident beglückwünschte seinen Sondervertreter Viktor Tschernomyrdin nach dessen Rückkehr aus Belgrad. Jelzins Administration soll an jenem Dokument mitgewirkt haben, das Tschernomyrdin dem serbischen Präsidenten angedreht hatte. Die Hauptmission des Ex-Premiers, Rußlands Entfremdung vom Westen zu verhindern, ist in Erfüllung gegangen, schreibt »Sewodnja«. Tschernomyrdin gibt sich erfolgsbewußt und betont, als ein direkter Vertreter des Kremls gehandelt zu haben.

Die Reaktion des Parlaments und der Regierung reicht von Zurückhaltung bis zum offen ausgesprochenen Verdacht auf Verrat. Linke Parlamentarier beklagen »eine Neuauflage von München« und den Ausverkauf Jugoslawiens durch Tschernomyrdin. Sie initiierten noch am Freitag ein geschlossenes Hearing unter Teilnahme hoher Vertreter der Militärs und des Außenministeriums. Der Chef des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Wladimir Lukin (Jabloko-Fraktion) sprach diplomatisch von den Bedenken der Abgeordneten, Jelzins Sonderbotschafter könnte während der Verhandlungen »nicht erzwungene Zugeständnisse zugunsten der Allianz« gemacht haben. Das Außenministerium hüllt sich in Schweigen. Ressortchef Igor Iwanow spricht vom »Beginn« eines Prozesses, wobei Rußland über seine Rolle darin sowie seine Teilnahme an der friedensstiftenden Präsenz im Kosovo erst nachzudenken habe.

Die Militärs sind weniger diplomatisch und geben ihrem Unmut über die mit Rußlands Hilfe ausgehandelte, quasi bedingungslose Kapitulation Jugoslawiens freien Lauf. General Leonid Iwaschow, Chef der Hauptverwaltung Internationale militärische Kooperation im Verteidigungsministerium, der in Bonn und Belgrad mit am Tisch saß, kritisierte vor allem die Unterwerfung der russischen Friedensstifter unter das NATO-Kommando. Auf die Frage der Journalisten, ob der Tschernomyrdin-Plan den Interessen Jugoslawiens und Rußlands Rechnung trage, antwortete er knapp, das müsse jeder mit seinem Gewissen ausmachen. Er und viele seiner Kollegen scheinen für sich die Antwort gefunden zu haben.

Die Militärs widersetzten sich bereits 1995 erfolglos einer ähnlichen Bedingung in bezug auf die russische Brigade in Bosnien. Einige Moskauer Zeitungen berichten, daß im Wehrkreis Ural Berufssoldaten und Freiwillige für den Kosovo-Einsatz geworben werden (Monatsgehalt ab eintausend Dollar).

Moskaus Dienste werden nunmehr für beide Seiten überflüssig. Seine Rolle, schreibt »Nesawissimaja gaseta«, wird sich zunehmend auf reine Symbolik reduzieren. Die Zeitung sieht in den direkten Kontakten der Militärs der Kriegsparteien die Erklärung für die offenkundige Verdrossenheit des Kremls »am Morgen nach dem Fest«.

Die Position Rußlands im Jugoslawien-Krieg wurde nach und nach ausgehöhlt - anfangs als Brüskierung von Primakow und schließlich wider jede Rationalität, erklärte Konstantin Satulin, Chef der Lushkow-nahen Bewegung Derschawa (Großmacht). Aus dem Sprachgebrauch wurden solche Begriffe getilgt wie Aggression und einseitiger Versuch, eine neue Weltordnung zu etablieren. Rußland bot dem Westen seine Freundesdienste an, um der Allianz aus dem selbstorganisierten Dilemma zu helfen. Wir hatten nie Zweifel, daß Tschernomyrdin ein Freund von Gore und Clinton ist, nun ist er auch deren Mitarbeiter, sagte Satulin. Die weitere Entwicklung lasse sich leicht voraussagen, da der NATO in Jugoslawien keine Lehre erteilt wurde, die ihr die Lust nehmen könnte, die jugoslawische Erfahrung zu multiplizieren. An der Reihe seien nun die Dnjestr-Region, Abchasien, Karabach.

Die Diplomatie der Beihilfe zur Aggression hätte die Serben in die Ecke getrieben, meint die »Sowjetskaja Rossija« vom Samstag. Rußland sei nach Kräften bemüht gewesen, dem groben Druck auf Jugoslawien zu widerstehen, solange Primakow Außenminister und Regierungschef war. Nachdem Tschernomyrdin das Heft des Handelns übernommen habe, sei es zum Spiel auf ein Tor gekommen. Das Jelzinsche Rußland sei im Ergebnis nur dazu fähig gewesen, die Aggressoren zu beschwichtigen und Druck auf die Serben zu machen, damit sie das Ultimatum Washingtons akzeptieren. 70 Tage und Nächte grausamer Luftangriffe, Hunderte tote Zivilisten und ein zerstörtes Land - darin liegen wohl die Gründe, warum die Skuptschina und Milosevic doch noch dem 12-Punkte-Plan zugestimmt haben, schreibt die Zeitung.

Bessere Bedingungen hätten weitere Wochen Verhandlungen und Hunderte neue Opfer gefordert, versucht sich Tschernomyrdin vor der enttäuschten Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Hatte nicht schon der britische Premierminister Neville Chamberlain im September 1938 aus München kommend seinen Landsleuten »einen Frieden für hundert Jahre« versprochen?

Iwan Nikiforow, Moskau

Quelle: Junge Welt vom 8.6.99

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