World Socialist Web SiteWie der Balkankrieg vorbereitet wurde
Das Abkommen von Rambouillet sah die Besetzung von ganz
Jugoslawien vor
Von Peter Schwarz
13. April 1999
Die Weigerung der Regierung Milosevic, das Abkommen von
Rambouillet zu unterzeichnen, diente der NATO als offizielle Begründung für ihren Krieg
gegen Jugoslawien. Der genaue Inhalt dieses Abkommens war allerdings lange Zeit nicht
bekannt. Die Kontaktgruppe, verantwortlich für die Verhandlungen in Rambouillet und
Paris, hatte darüber Stillschweigen vereinbart. Der vollständige Text wurde erst vor
einigen Tagen auf der Internet-Seite des albanischen Kosovo-Krisenzentrums
veröffentlicht.
Wie sich nun herausstellt, enthält er Bestimmungen, die ganz
Jugoslawien einer Besetzung durch die NATO unterworfen hätten. Während offiziell stets
verlautete, es gehe um eine Autonomieregelung für den Kosovo und deren Absicherung durch
die Stationierung einer Friedenstruppe im Kosovo, sieht der militärische Annex B
des Abkommens volle Bewegungsfreiheit für die NATO in ganz Jugoslawien vor, d.h.
auch in Serbien und Montenegro.
Wörtlich heißt es dort in Artikel 8: "Das
NATO-Personal soll sich mitsamt seiner Fahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge und Ausrüstung
innerhalb der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraumes und ihrer
Territorialgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkungen bewegen
können. Das schließt ein - ist aber nicht begrenzt auf - das Recht zur Errichtung von
Lagern, die Durchführung von Manövern und das Recht auf die Nutzung sämtlicher Regionen
oder Einrichtungen, die benötigt werden für Nachschub, Training und
Feldoperationen."
Artikel 6 garantiert der Besatzungsmacht uneingeschränkte
Immunität: "Die zur NATO gehörenden Personen genießen unter allen Umständen und
zu jeder Zeit Immunität vor der Gerichtsbarkeit der Konfliktparteien hinsichtlich
sämtlicher zivil-, verwaltungs-, straf- oder disziplinarrechtlicher Vergehen, die sie
möglicherweise in der Bundesrepublik Jugoslawien begehen."
Und Artikel 10 sichert der NATO die kostenlose Benutzung
aller jugoslawischen Straßen, Flughäfen und Häfen zu.
Die Unterzeichung dieses Abkommens durch die jugoslawische
Regierung wäre einem vollständigen Souveränitätsverzicht gleichgekommen. "Diese
Passage klingt wie ein Kapitulationsvertrag nach einem bereits verlorenen Krieg,"
bemerkt dazu die Berliner Zeitung. "Daß der jugoslawische Präsident
Milosevic ein solches Papier nicht unterschreiben wollte, erscheint nachvollziehbar."
Die ultimative Form, in der die jugoslawische Regierung zur
Unterzeichnung dieses Diktats aufgefordert wurde, und die Geheimnistuerei um seinen Inhalt
legen den Verdacht nahe, daß die Konferenzen von Rambouillet und Paris von vornherein nur
darauf ausgerichtet waren, einen Vorwand für den Krieg zu schaffen, und nicht eine
politische Lösung für den Kosovo-Konflikt zu finden.
"Ein Abkommen wie dieses kann kein Oberhaupt eines
souveränen Staates unterschreiben," kommentiert dies die taz, die als erste
deutsche Zeitung die Passagen aus dem Abkommen veröffentlicht hat. "Wenn die
Verhandlungen wirklich eine Einigung zum Ziel hatten und nicht lediglich Skeptiker von der
Unausweichlichkeit der NATO-Angriffe überzeugen sollten, dann ist dieser Vertragstext
unbegreiflich."
Im ursprünglichen Vorschlag der Kontaktgruppe, der als
Grundlage für die Rambouillet-Konferenz diente, waren diese Passagen noch nicht
enthalten. Es sollte erst über eine Autonomieregelung und erst danach über militärische
Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung verhandelt werden. Auf dieser Grundlage hatte sich die
jugoslawische Regierung an der Konferenz beteiligt.
Im Laufe der Verhandlungen, die vom 6. bis zum 23. Februar
dauerten, schloßen sich die fünf westlichen Mitglieder der Kontaktgruppe - die USA,
Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien - dann aber immer offener dem
Standpunkt der Kosovo-Albaner an, die auf der Stationierung von NATO-Truppen bestanden. Am
letzten Konferenztag legten sie einen endgültigen Textentwurf vor, der auch den oben
zitierten Annex B enthielt.
Von nun an bezeichneten sie den Entwurf für eine
Autonomie-Regelung - dem die jugoslawische Regierung weitgehend zugestimmt hatte - und die
Vorschläge für die Stationierung von NATO-Truppen als "unauflösliches Paket".
Der jugoslawischen Delegation blieb nur noch die Wahl, das Ultimatum zu schlucken oder das
Abkommen als Ganzes abzulehnen - was sie dann auch tat.
Zur Überraschung der NATO verweigerte allerdings auch die
Delegation der Kosovo-Albaner ihre Unterschrift. Deshalb wurde die Konferenz noch einmal
vertagt, bis die Kosovaren am 18. März in Paris den unveränderten Text unterzeichneten.
Nun hatte die NATO ihren Vorwand zum Losschlagen. Am 24. März fielen die ersten Bomben.
Wie es scheint, war kaum einer der Politiker, die den
folgenschweren Entschluß für den Krieg zu verantworten hatten, über diese Hintergründe
informiert. Sie stimmten dem Angriff auf Jugoslawien zu, ohne den Text, mit dem er
gerechtfertigt wurde, überhaupt zu kennen. Die Desinformationspolitik der NATO, die
diesen Krieg seit dem ersten Tag begleitet, erstreckt sich nicht nur auf das öffentliche
Publikum, sondern auch auf Parlamentarier und hohe Staatsbeamte.
Nach Angaben der taz, die sich im Auswärtigen Amt
erkundigte, zeigten sich zwei der drei ranghöchsten Vertreter des Amtes - die
Staatsminister Günter Verheugen (SPD) und Ludger Volmer (Grüne) - überrascht: ihnen
seien die Artikel aus dem Annex B "völlig neu". Der dritte - Staatssekretär
Wolfgang Ischinger - behauptete, die Passagen entstammten einer älteren, nicht mehr
aktuellen Fassung des Abkommens - was eindeutig den Tatsachen widerspricht. Die taz fragt
sich, wieviel Außenminister Joschka Fischer wußte. Sie zieht aber auch eine andere
Möglichkeit in Erwägung: "Oder hat die Bundesregierung das Parlament und die
Öffentlichkeit gar gezielt in die Irre geführt?"
Auch mehrere Abgeordnete äußerten sich empört über das
Versteckspiel der Regierung. Offiziell ist der Text des Abkommens dem Bundestag erst am
vergangenen Donnerstag, mehr als zwei Wochen nach Beginn des Krieges zugeleitet worden.
Angelika Beer von den Grünen schrieb in einem Brief an
Fischer, sie hätte sich gegen den Luftkrieg ausgesprochen, wenn sie den Text des
Abkommens gekannt hätte. Und der SPD-Abgeordnete Hermann Scheer erklärte: "Wenn man
dieses Papier sofort nach seiner Fertigstellung hätte einsehen können, so wäre man
sicherlich darauf gestoßen, daß die Argumentation, man habe alle
politisch-diplomatischen Manöver ausgereizt und nun bestehe Bombenzwang, nicht haltbar
gewesen wäre." Scheer wirft der Regierung vor, daß der Entscheidungsprozeß der
NATO in viel zu großem Maße von der USA bestimmt worden sei.
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