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Texte zur Kritik  

Über die Zukunft der (BRD-)Staatsschule

(Aus einer Korrespondenz mit Robert Schlosser, Mai 1993)

Lieber Robert,

hab Dank für Deine Zeilen. Sie sind insofern für mich hilfreich, als ich dadurch ablesen kann, wo ich verkürzend-schludrig und als Kniefall vor der GEW argumentiert habe. Die GEW hat den Artikel ja abgelehnt, wie ich Dir bereits mitteilte. Resumierend muß ich sagen, daß es richtiger ist, zunächst eine Theorie fundierter auszuarbeiten, bevor sie populistisch (vereinfachend) gewendet auf den "Normalleser" losgelassen wird. Von daher nehme ich auch Abstand von dem Versuch, den Artikel in seiner jetzigen Form in einem "bürgerlichen" Organ (Deutsche Schule, Deutsche Lehrerzeitung, PädExtra oder sogar TAZ) zu veröffentlichen. Richtiger ist es, Deine und die von den "Genossen" zu erwartende Kritik aufzunehmen, um dann darauf aufsetzend einen fundierten Artikel für die SPEZIAL zu erarbeiten.

Ich möchte in folgendem kurz auf einzelne Deiner Kritikpunkte eingehen, bitte aber gleichzeitig um Verständnis, daß ich dabei auf eine saubere theoretische Ableitung verzichte.

Kamue

1. In Deutschland - speziell in Preußen ist die allg. Schulpflicht nicht das Ergebnis von Klassenkämpfen, sondern entspringt eher den Herrschafts- und militärpolitischen Interessen des absolutistischen Staates (Absolutismus als besondere Herrschaftsform des Feudalismus im Niedergang). Erstmalig wird die allgemeine Schulpflicht im Preußischen Landrecht von 1797 festgeschrieben. Wenn überhaupt ist die Durchsetzung dieser allgemeinen Schulpflicht eine Klassenauseinandersetzung der Feudalklasse gegen das aufstrebende Bürgertum. So führen um 1830 Erlasse des Preußischen Staates zur Unterbindung von Fabrikschulen und Verschärfung des Schulzwangs. Die (subjektive) Ursache ist die Feststellung der Militärbehörden über das körperliche Zurückbleiben der Rekruten durch ihre physische Vernutzung in den Fabrikschulen. (Tatsächlich festgemacht an ihrer Leibesgröße). Erst Jahrzehnte später wird die Arbeiterbewegung (W.Liebknecht) die strategisch-politische Bedeutung der Volksbildung reflektieren und an ihr vornehmlich die "Chancenungerechtigkeit" kritisieren. Diese Kritik speist sich aus der selben Logik, wie die Arbeitspflicht begründet wird (...die Müßigänger schiebt beiseite....). Pädagogik und Beschulung von Individuum her zu diskutieren, bleibt eine (historisch vorweggenommene) Denkfigur bürgerlicher Kräfte bzw. der Anarchisten. Nach dem Ersten Weltkrieg erfordern sowohl die veränderten Bedingungen der gesellschaftlichen Arbeit (siehe auch die durch die Militärdiktatur im ersten Weltkrieg erzwungenen Modernisierungsschübe, vgl. K.H. Roth, die andere Arbeiterbewegung) als auch die politischen Konstellationen von der Arbeiterbewegung eine Revision ihrer bisherigen Schulpolitischen Konzepte: Unreflektiert bleibt ihr Arbeitsbegriff und seine allgemeine theoretische Grundlage und folglich kann nun offen das Schulkonzept um diesen Zentralbegriff gruppiert werden. Eine scheinbare Bestätigung findet dies Konzept in der Sowjetpädagogik und hier vom allem bei Blonski, den ich nicht ohne Grund als erstes nenne, da er zeitgleich in Deutschland veröffentlich wurde (1921), wie er in der SU wirkte. Bürgerliche Reformpädagogik (Kerschensteiner und Co.) und kommunistische Pädagogen können sich nun auch prima in praktischen Projekten (Einheitschule als Arbeitsschule), da wo es die politischen Machtkonstellationen zulassen (z.B. in Berlin), zusammenarbeiten und diese Modellschulen errichten. Im Ruhrgebiet beteiligen sich die Anarchisten an solchen "Schulkämpfen" auf der gleichen konzeptionellen Wellenlänge. Die innere Inkosistenz der Weimarer Republik läßt die "Reichschulkonferenz" (Verfassungsorgan) als Organ der Vereinheitlichung des Bildungswesens scheitern. Die Reichschulkonferenz scheiterte u.a. an den konfessionellen Widerständen. Den Kirchen ging es darum, nachdem ihre Macht (inhaltliche Schulaufsicht) bereits durch Bismarck gebrochen worden war (Kulturkampf), diese in Form von Privatschulen zu erhalten. Es wird der Faschismus sein, der die Vereinheitlichung und die den Reproduktionserfordernissen Rechnung tragende Differenzierung des Schulwesens (Hauptschule, Berufsschule, Grundschule) vollendet, z.B. gestützt auch auf die Weimarer Reformpädagogen wie z.B. Peter Petersen oder Theodor Wilhelm. Und es werden Lehrer zu Hundertausenden diese Politik aktiv unterstützen. Sie werden es vornehmlich deswegen tun, weil sie am 1.4.1933 zu Lebenszeitbeamten gemacht werden. Sodaß wir nun bei der Frage nach der Feudalstruktur der Staats-Schule in Deutschland angelangt wären.

2. Als feudale Struktur bezeichne ich die personale Unterordnung unter ein Pflichtverhältnis, zu dessen Voraussetzung eben nicht der freie Vertrag gehört - wie beim Lohnarbeitsverhältnis-, sondern dies durch Geburt erfolgt (allgemeine Schulpflicht als Staatsbürgerpflicht). Das Ersetzen der Staats-Schul-Pflicht kann nur in Privatschulen erfolgen, die der Staat anerkennt und ist damit keine Ersatz. Die Rechtsfigur, die dem Pflichtverhältnis zugrundeliegt, ist die des Preußischen Landrechts. Indem das Klientel gewaltsam gezwungen ist (die Unterscheidung zwischen Pflicht und Zwang ist reine Sophisterei) dem Staat zu dienen, man nennt es auch Allgemeinwohl, wird es auch als Untertan behandelt (erst unlängst wurden von türkischen Eltern 5000 DM durch den Staat abkassiert und das Kind per Polizei der Schule zugeführt). Sowenig wie der Feudale seinem Hintersassen einen eigenen Willen zubilligt, ihn also als Sache behandelt, so rechtlos ist der Bürger in Sachen Schule (dies beweise ich Dir haarklein, wenns nötig wird, durch vergangenes und geltendes Schulrecht) und zwar auch besonders dann, wenn das Kind endlich in der Schule eingesperrt ist. Wenngleich die feudalen Voraussetzungen des Arbeitsverhältnisses der Beamtenlehrer als solche nicht auf den ersten Blick erscheinen mögen, weil der Arbeitsvertrag frei geschlossen wurde (Du könntest ja auch was anderes werden, was Quatsch ist, weil Du diesen Beruf nur beim Staat ausüben kannst und in anderen Bereichen, wenn Du dem Staat in der Staatsprüfung vorgeturnt hast - z.Z. läuft ein Rechstreit, um einen Waldorflehrer, der kein Staatsexamen hat. Die Waldorfschule mußte diesen entlassen, ansonsten die Schule geschlossen worden wäre.), wird spätestens nach Eintritt in den Schuldienst durch das Beamtenverhältnis ein feudales Subordinationsverhältnis konstituiert. (Ich verweise hier auf die halböffentlichen Dienstanweisungen und eben nicht auf die allgemein zugänglichen Gesetze).

3. Unter ständisch verstehe ich eine bestimmte soziale Schichtung, die durch Privilegien zustandekommt. Historisch handelt es sich um eine dem Feudalismus adäquate Struktur, die aber von diesem losgelöst unter kapitalistischen Bedingungen zunächst als funktionale Voraussetzung weiterlebt. Folglich auch in der deutschen Schule. Da diese Schule feudalistisch geprägt ist, erscheinen ständische und feudale Element kongruent und sind schwer auseinanderzuhalten. Es wird im Fortgang meiner Arbeit daraufankommen, die nötigen Differenzierungen vorzunehmen, damit beim Leser nicht das passiert, was Dir passierte, nämlich die Konturen zwischen Beidem zu übersehen und das Feudale zu eskamotieren, weil es den theoretischen Annahmen zu widersprechen scheint. Eine theoretische Annahme, die das Ignorieren begünstigt, ist die von Dir vorgenommene Gleichsetzung der Schulsysteme in den USA und Frankreich. Obwohl Frankreich das Musterländle der bürgerlichen Revolution ist, hat es die gleiche feudale Schulstruktur wie Deutschland. Ich behaupte und werde den Beweis antreten, daß in Ländern, die eine absolutistische Staatsform durchlaufen haben, die Schulstruktur noch heute durch feudalistische Strukturen geprägt ist. Den argumentativen Gegenbeweis bilden England und USA. In den USA entspringt das Schulwesen der sich selbstverwaltenden Gemeinde, erst im Verlaufe der Geschichte kommt der Staat aus seinem "Sozialstaatsanspruch" dazwischen und alimentiert Bildung mittels Steuergelder.

4. Wenn ich mich auf den Standpunkt des radikalen Reformismus mit sozialrevolutionärer Perspektive stelle, dann kommt es darauf an, die Widersprüche auszumachen, die durch den Zersetzungprozeß feudaler Schulstrukturen auf kapitalistischer Grundlage hervortreten. Und ich halte es für ideologisch, den kapitalistischen Reformern zu unterstellen, sie würden kein wirkliches Interesse an der Aneignung der allgemeinen Produktivkraft durch das Individuum haben. Das Problem besteht doch darin, daß die innere Entwicklungslogik des Kapitals sie dazubringt, dessen Gesetze zu exekutieren. Wenn ich mich also auf den Standpunkt stelle, Schule "unternehmerisch" zu denken, dann reiße ich überhaupt erst die Dimension einer Kritik an einer warenförmig daherkommenden Bildung auf. Ich mache mich also radikal-reformistisch fit für die nächste Entwicklungsetappe. Kritisierte ich die Staatsschule nur von einer abstrakten kommunistischen Perspektive her, also rein ethisch, bliebe ich affirmativ zum nächsten Entwicklungschritt und stimme entweder das ständische Forderungslied des DGB`s an oder verharre im reinen Theorie-Autismus. Auf der Theorieebene gibt es daher folgendes zu beachten: Zum einen die allgemeine Entwicklungslogik, aus der heraus ich im allgemeinen Bildung als Ware kritisieren kann . Zum andern gibt es aber die Durchsetzungsformen dieser allgemeinen Entwicklung und die sind je nach den historischen Besonderheiten hin zu untersuchen. Es wird also in meinem Aufsatz daruf ankommen, genauer herauszuarbeiten, wie sich dies zu einander verhält. Der Punkt an dem ich dies aufzumachen versucht habe, war der Harmonisierungsdruck der EG. Hier ist noch reichlich Feinarbeit nötig.

Ausblick:

Wenn ich zum Beispiel die Konzeption von Illich ernstnehme, Bildung mittels einzulösender Kreditkarte zu organisieren, dann zielt das ab auf Stärkung der Autonomie des bürgerlichen Individuums. Wir hätten also zu streiten, ob das entfaltete bürgerliche Individuum die wesentliche soziale Voraussetzung des Kommunismus ist. Hier müßten wir verstärkter an der Frage arbeiten, an der Du jetzt dran bist (Verkehrsformen) und müßten dies wieder aufnehmen, was Du leider nahezu fallengelassen hast, nämlich die Frage der Veränderung von Kommunikation und Wahrnehmung durch digitalisierte Realitäten.