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Texte zur Kritik  

Vorarbeiten zu "Ästhetisierung des Politischen", erschienen in: Spezial 103, 1996, Hannover

Theoriefragmente für eine Zustandsbeschreibung
[1995]

Die Nützlichkeit der Verkehrungen

So verkehrt das Alltagsdenken erscheint, so nützlich erweist es sich vom Standpunkt des Einzelnen, um sich in einer Gesellschaft zu orientieren, deren Oberflächerscheinungen im gesellschaftlichen Konsens für das Wesen - für den realen Kern - gesellschaftlicher Strukturen gehalten werden. Das Alltagsdenken hat unmittelbare Nützlichkeit für die Durchsetzung von Interessen. So erscheint es als gerechtfertigt, wenn die Unternehmer bei sinkenden Gewinnen Lohnkürzungen verlangen. Daß die sinkenden Gewinne direkt mit bereits vorenthaltenen Löhnen zusammenhängen, taucht in der Behandlung der Sache als Konjunkturabschwung nicht auf. Und die Gewerkschaften, die nur um die Größe des Lohnkuchenstücks feilschen, predigen Verzicht: In der Krise darf man nicht kämpfen. Schließlich sind alle Warenbesitzer formal gleich, egal ob sie als Ware ihre Arbeitskraft besitzen oder die Produktionsmittel.

Durch die Fassade der formalen Gleichheit erscheint in der modernen bürgerliche Gesellschaft die Zufälligkeit als das strukturierende Prinzip im Verkehr der Individuen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse können als freie empfunden werden. In Wirklichkeit hängen aber sämtliche gesellschaftlichen Existenzbedingungen von der Arbeit ab. Und da die Arbeit als ein gesellschaftliches Verhältnis verschiedener Individuen zueinander existiert, muß die privatorganisierte Arbeit dem Einzelnen als etwas Fremdes gegenübertreten. Hierin drückt sich die ganze Zwieschlächtigkeit der Arbeit aus, gerade weil sie eine gesellschaftliche Veranstaltung ist, die in der Verfügungsgewalt Einzelner steht.

Ist das auf dem Kopf stehende Bewußtsein im Alltagsdenken noch Ausdruck unmittelbarer Nützlichkeit beim Sich-Zurechtfinden in chaotischen Verhältnissen, so erfüllen die Weltanschauungen, die gleichsam Varianten desselben auf höherem Niveau sind, eine andere gesellschaftliche Funktion. Entkleidet der Unmittelbarkeit des Alltagsdenkens werden hier gesellschaftliche Verhältnisse zu Weltbotschaften hochgerechtet, die zu ihrer Beweisführung die Verkehrungen in der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft nehmen. Das heißt ihre Funktion ist nicht mehr das Zurechtfinden zu ermöglichen, sondern Legitimation zu stiften, um die gesellschaftliche Organisation der Arbeit im gegenwärtigen Zustand zu erhalten.

Solche Philosophien und ideologischen Muster könnten überhaupt nicht greifen, würden sie abseits des Alltagverstandes entworfen. Der Kitt, der Alltagsdenken und Philosophie zusammenhält, ist letztlich aus dem selben Material gefertigt: aus der Unmittelbarkeit der Verkehrungen auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft.