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Texte zur Kritik  

Vorarbeiten zu "Ästhetisierung des Politischen", erschienen in: Spezial 103, 1996, Hannover

Theoriefragmente für eine Zustandsbeschreibung
[1995]

Der Verlust der Unmittelbarkeit

In seiner bisherigen Stellung als unmittelbarer Produzent konnte der Werktätige seine Vemutzung als Arbeitskraft in der erlebten Unmittelbarkeit bekämpfen. Der kollektive Zusammenschluß in diesen betrieblichen Kämpfen hatte faktisch die Qualität einer vorübergehenden Bündelung individueller Betroffenheit zum Erhalt der unmittelbareren Produzenttätigkeit (Dortmund muß Stahlstadt bleiben!), um so als Marktindividuum reproduktionsfähig zu bleiben und um dann ggf. als Staatsbürger weitere, qualitativ gleichartige, politische Ziele (Verstaatlichung der Produktion als Arbeitsplatzgarantie) zu formulieren. Solch ein Bewußtsein mußte zurecht als ständisch bezeichnet werden, selbst wenn im politischen Raum von der Abschaffung der Lohnarbeit die Rede war. Denn auf der Grundlage des bisher erreichten Standes der Produktivkräfte konnte die Abschaffung der Lohnarbeit praktisch nur als Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln konzipiert werden, nicht aber darüberhinausgehend als Vergesellschaftung von Individualität im Wege der Aufhebung der warenproduzierenden Geselllschaft. Was daher in den untergegangen "sozialistischer" Staaten als vergesellschaftete Individualität definiert worden war, entsprach stattdessen logischerweise einer verstaatlichten Individualität.'

Löst man sich von Vorstellung eines immer bei den Lohnarbeitern vorhandenen sogenannten richtigen "kollektiven" Bewußtsein, welches Kommunisten nur zu formulieren, zu organisieren und zu führen hätten, und geht man stattdessen der durch die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie vermittelten Frage nach, welche Bedeutung die laufenden innerbetrieblichen Veränderungen der unmittelbarn Produzententätigkeit für die Herausbildung des bürgerlichen Individuums unter dem Gesichtspunkt der Aneignung der "allgemeinen Produktivkraft" (Marx) als subjektive Voraussetzung des Kommunismus haben, dann zeigt sich zunächst, daß die Widerstände gegen den durch die geplanten Modemisierungsprozesse entstehenden Verlust der Unmíttelbarkeit auf Seiten der Betroffenen vehement sind.

Die Herrschaft der "toten Arbeit" über die "lebendige" bedeutete bislang einen Erfahrungszusammenhang, in dem zum einen die Spuren der Aneignung der Mehrarbeit durch das Kapital noch sinnlich in Erscheinung traten. Zum anderen überdeckte die Naturaleigenschaft der Arbeitsmittel - verstanden als deren unmittelbar erfahrene Sinnlichkeit - den gesellschaftlichen Charakter der Arbeit weitgehend. Gerade in der unmittelbaren Produzententätigkeit stand die stoffliche Seite im Erleben vor der wertmäßigen. Die Arbeit als Wertschöpfungsprozeß erschien gegenüber ihrer konkret-nützlichen Seite verdinglicht im Geldfetisch und wurde - wenn überhaupt - als theoretisches Problem jenseits der Fabrik innerhalb politischer Zusammenhänge behandelt. In der tayloristischen Fabrik war die Trennung von Hand- und Kopfarbeit das logistische Herzstück. Im Facharbeiter-Ritual des Handanlegens an (seine) Maschine und (sein) Werkstück drückte sich diese bestimmte gleiche Produzentenerfahrung der Lohnarbeiterindividuen aus. In diesem Ritual verschmolzen verschiedene Erfahrungsaspekte: Arbeilsstolz, Gewißheit, Inbesitznahme, Widerstand und Sabotage. Das Handanlegen, das sich Schmutzigmachen, seine Muskeln spüren, daraus wurde im Betrieb soziale Identität gewonnen. Alles, was nicht in dieser Weise seine Arbeitskraft veräußern mußte, gehörte zum Lager des Müßigangs. Im direkten taktilen Umgang mit Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand erfuhr das Produzentenwissen seine direkte Bestätigung. ln den Nischen dieses Wissens konservierte sich die zunftmäßige Vorstellung des indivduellen Geheimnisses im Umgang mit dem Produkt. Dieses Geheimnis konnte man scheinbar Preis geben, teilen oder vorenthalten. Es konnte sogar, als Sabotage begriffen, gegen den Eigentümer der Produktionsmittel eingesetzt werden.

lm Mißtrauen gegen die numerische Kompetez der Datenmaschine, die dabei ist, ihren Siegeszug in den Werkshallen zu feiern, entäußert sich die Angst vor der individuellen Lösung des Widerspruchs zwischen der bisherigen Produzentenerfahrung und der im Rechner dargestellten. Die verdinglichte face-to-face-Beziehung Produzent-Maschine geht ihrem Ende entgegen. An ihre Stelle tritt das vom Kapital diktierte Konzept der Entfaltung von face-to-face Beziehungen zwischen den Produzenten, indem sich - bildlich gesprochen - zwischen Mensch und Maschine eine numerische Datenwand schiebt. Der Schauplatz dieses neuen Kommunikationszusammenhanges soll die enthierarchisierte Produzentengrupe sein, die sich in ihren Entscheidungen vom Rechner supporten läßt und dann ihre Entscheidung an den Rechner als Steuerungsgerät des Teams zurückgibt.

Sich zusammentun, um in der datenlektronischen Werkstatt zu produzieren, dagegen sperren sich die Produzenten, denn sie tragen neben ihrer individuellen Erfahrung auch die Erfahrung als Klassenindividuen in sich. Nämlich, daß nicht nur jede vom Kapitalverhältnis verfügte Rationalisierung mit dem Preis der Beschäftigungslosigkeit bezahlt werden muß, sondern auch daß sich durch die kapitalistisch bestimmte Aufhebung der Trennungen von Hand- und Kopfarbeit Verfügbarkeit und Kontrolle der subsumierten Arbeitskraft verdichten.

Selbst wenn das Ergebnis eines Durchdenkens dieser erneuten Zurichtung der Arbeitskraft dazu führen würde, sich in eine kollektive Kritik zu transformieren, hieße dies nicht zwangsläufig, sich als Teil des "gesellschaftlichen Gehirns"(Marx) zu begreifen. So scheint es eher so zu sein, daß die Betroffenen sich auf den Standpunkt stellen werden, zu dem sie sich rein "sachlich" gezwungen sehen. Dieses erwartete affirmative Verhalten ist gerade nicht nur bedingt durch die betrieblichen sondem vor allem durch die außerbetriebliche Lebenserfahrungen, wo sich sowieso jeder selbst der Nächste zu sein scheint.