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Texte zur Kritik  

Vorarbeiten zu "Ästhetisierung des Politischen", erschienen in: Spezial 103, 1996, Hannover

Theoriefragmente für eine Zustandsbeschreibung
[1995]

Multikulturelle Gesellschaft

Die Vermittlung in der Produktion vorausgesetzter Ungleichheit als formelle Gleichheit in der Zirkulation bringt die Individuen dazu, in der Sphäre des Scheins - der Zirkulation - die voranschreitende Vergesellschaftung ihrer Individualität nicht zu erkennen oder zu leugnen und ihre Interessen als individuelle zu setzen; denn die Konstituierung des bürgerlichen Individuums auf der Grundlage des Prozesses der formellen und reellen Subsumtion der Ware Arbeitskraft unter das Kapitalverhältnis beinhaltet zugleich eine Ausschließungspraxis, wodurch bürgerliche Individualität fundamental konfiguriert wird.

Die Abgrenzung des Eigeninteresses gegen das fremde Interesse verlief vor allem in Deutschland in den Bahnen rassistischer Erklärungsmuster. Der Rassismus des Nationalsozialismus nahm die Gestalt einer Rassenlehre an, d.h. eine gesellschaftliche Ausschließungpraxis wurde mit biologischen Kriterien begründet. Das dadurch definierte Anderssein erschien bei einer in dieser Weise bestimmten Menschengruppe unveränderlich. Dieser Gruppe schienen demgemäß kulturelle Merkmale anzuhängen, die sich im Augenschein durch die Ausschließungspraxis quasi bestätigten.

In der in den letzten Jahren durch die Metropolen rasenden Welle der "Ausländerfeindlichkeit" zeigte sich jedoch ganz praktisch, daß eine rassistische Deutung gesellschaftlicher Zustände, die nicht nur Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und LePen hervorbringt sondern zum öffentlichen Diskurs der politischen Parteien gehört, ganz ohne "Rasse" im biologistischen Sinne auskommt. Hier wird vom kulturellen Andersein der Betroffenen ausgegangen, das nicht aus einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit abgeleitet wird, sondern aus dem unfertigen Kulturzustand. Es handelt sich jedoch um einen Rassismus ohne Rasse. In dieser Spielart des Rassismus konstituieren sich soziale Gruppen durch ihren kulturellen Zusammenhang. Ökonomische Grundlagen werden nur insoweit konstatiert, als sie die Folie für soziologische Zuweisungen abgeben, die tautologisch illustrieren, was kulturbegrifflich bereits festgestellt wurde. Ist das Konstrukt vollbracht, dann können die signifikanten Kulturdefizite aus der Perspektive der höherstehenden Kultur definiert werden.

Diese Ideologie des "differentiellen Rassismus" (Balibar) erscheint gerade als eine jenseits des Rassismus stehende. In diesem Sinne vertritt der französische Strukturalist Levi-Strauss die Auffassung, daß "alle Kulturen gleichermaßen komplex und für das Fortschreiten des menschlichen Denkens erforderlich sind". Deswegen können, so die Schlußfolgerung des "differenziellen Rassismus", "Kulturvermischungen" oder die Beseitigung "kultureller Distanzen" den "geistigen Tod der Menschheit" bedeuten. Eine mildere Variante stellt die Behauptung dar, daß eine kulturelle Durchmischung kulturellen Abstieg produziere. Von einem bornierten proletarischen Klassenbewußtsein aus, das verselbständigt vom realen Verlauf der Wertvergesellschaftung vom Standpunkt der Lohnarbeit ökonomisch verkürzt argumentiert, hat solch ein Vorgang Bedrohliches an sich, denn kulturelle Durchmischung kann als rassistische Warnung gelesen werden, daß deutsche ArbeiterInnen heute nicht mehr in der Lage wären, MigrantInnen zu assimilieren, ohne damit den Preis des eigenen Kulturverlustes zu zahlen.

Gerade mit dem Begriff der multikulturelle Gesellschaft, wie er im neurechten Diskurs benutzt wird, transportiert sich die anthropologische Vermutung, daß es zum Menschsein gehöre, sich in Gruppen gegeneinander abzugrenzen, um die kulturelle Identität der Gruppe zu bewahren. Solch eine Beweisführung erscheint gleichsam als Umkehrung des von den Nazis aus dem Kulturbegriff des Bürgertums deduzierten Rassismus. Die eine Richtung des Rassismus grenzt Kultur gegen Natur ab, die andere naturalisiert mithilfe dieses Menschenbildes den Kulturbegriff.

Ganz gleich wie die Argumentationsfigur aufgebaut ist, speziell in Deutschland ist sie überformt und verwoben mit einem Nationalbewußtsein, wie es sich im 19. Jahrhundert als volksgemeinschaftliches Denken ausbildete. Dieses Denken, welches sich Staat und Nation als Ausdruck von Blut und Abstammung halluzinierte, bildet heute noch das vorherrschende Erklärungsmuster im postfaschistischen common sens der bundesdeutschen Demokraten zur Legitimierung von Ausgrenzung und Ausschließung auf allen Ebenen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens.

Multikulturelle Gesellschaft kann als deskriptiver Begriff aber auch dazu dienen, Erscheinungen in der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft in der Weise normativ zu verarbeiten, daß Offenheit für andere Traditionslinien entsteht, daß der innere Zusammenhang differierender Lebensweisen erschlossen wird, daß kulturelles Anderssein nicht mit Isolation und Solidaritätsentzug bedroht wird und daß durch das Vorhandensein verschiedener Kulturen die Chance einer selbständigen transnationalen Kultur aufwächst, die die von den Verwertungsinteressen der Kultur- und Konsumgüterindustrie erzeugte transnationale Kultur überwindet.

Gerade der letzte Anspruch weist eindringlich die Grenzen dieser deskriptiven Kategorie auf. Für MarxistInnen, die sich auf die Fortführung der Kritik der politischen Ökonomie besinnen, fällt daher die Aufgabe zu, ausgehend von der Analyse der Wertvergesellschaftung in ihrer jetzigen Gestalt eines weltumspannenden Kapitalismus, solch eine Kategorie materialistisch zu wenden. Eine derartige Beschäftigung könnte allerdings nicht mehr mit den ausgetretenen ideologischen Latschen des sogenannten proletarischen Internationalismus erfolgen, denn dieser "klassenkampftheoretische" Marxismus löste sich weder von den bürgerlichen Kulturvorstellungen, noch schuf er historisch tragfähige Modelle, um aus der kapitalistischen Warenproduktion vermittelte Abgrenzungen zwischen eigenem Interesse und fremden Interesse zu überwinden.