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Texte zur Kritik  

Vorarbeiten zu "Ästhetisierung des Politischen", erschienen in: Spezial 103, 1996, Hannover

Theoriefragmente für eine Zustandsbeschreibung
[1995]

Staat, strukturelle Gewalt und Legitimation von Herrschaft

Die Teilung der Arbeit und die Spaltung der Gesellschaft in Klassen brachte den Staat als Instrument der herrschenden Klasse hervor. Die kapitalistische Produktionsweise findet den Staat - und zwar (in der Regel) in einer feudal-obrigkeitsstaatlichen Ausprägung - bereits vor. Im Zuge der Entfaltung der kapitalistisch warenproduzierenden Gesellschaft übernimmt dieser Staat die Funktion des ideellen Gesamtkapitalisten. Seine konkreten historisch Stukturen, seine Machtmechnismen und die Art und Weise, wie diese die politische Kultur eines Landes prägen, verschwinden dabei nicht, sondern transformieren sich für die Zwecke der modernen bürgerlichen Gesellschaft, wo das Verhältnis der Indivuen als ein freies und gleiches bestimmt wird. Dabei abstrahiert sich der Staat im Bewußtsein der Bürger von seinen empirischen Klassenbezügen, weil sich das Verhältnis von personaler und struktureller Gewalt umkehrt.

Daß in der Verdoppelung der Gesellschaft in Staat und Gesellschaft weitere Strukturen entstehen, die sich zwischen Staat und Gesellschaft schieben und sowohl eine faktische als auch eine ideologische Brückenfunktion übernehmen, wurde schlüssig von dem italienischen Kommunisten Gramsci aufgezeigt. Diese "Kasematten" (Gramsci) sichern die bürgerliche Hegenomie auf doppelte Weise. Zum einen stiften sie einen gesellschaftlichen Konsens und zum anderen überformen sie kulturell den Gewaltapparat in einer Weise, daß die von ihm ausgehende Gewalt als depersonalisierter Sachzwang erscheint. Dies begünstigt die Vorstellung im Bewußtsein der sozialen Subjekte, daß die Formulierung ihrer Interessen entlang dieser Strukturen zu erfolgen habe, wodurch die Machtmatrix, die diesen Strukturen zugrunde liegt, legitimiert wird. Das bürgerlichen Individuen werden so in den Stand gesetzt, ihre sozialen Anprüche abzugeben, umzuleiten und zudem noch Pseudoerklärungen dafür zu finden. Gerade in der Gewerkschaftsbewegung finden wir zahllose Beispiel der Perpetuierung dieses Bewußtseins. Wird irgendwo ein Arbeitsplatz gekillt, dann tragen der Staat und seine korporativen Verbände mit ihrer "falschen" Wirtschaftspolitik die Verantwortung. Und es bleibt verdeckt, daß die gesellschaftliche Organisation der Arbeit diese Krisen selber hervorrufen muß.

Die Ausweitung staatlicher Herrschaftsfunktionen auf Institutionen und Verbände, die mit ihm korporiert sind, ist kein historischer Selbstläufer, sondern resultiert aus den Kompromissen, mit denen bisher Siege und Niederlagen in Klassenauseinandersetzungen, beregelt wurden. Diese historischen Kompromisse führten bisher immer zur Stabilisierung von Herrschaftsstrukturen, wenngleich im politischen Marxismus des öfteren das Gegenteil behauptet wurde. Ähnlich erging es der Frauenbewegung in ihren Partizipationskämpfen, so sie denn auf gesetzliche Regelung durch männerdominierte Gremien orientierten. Direkte Aktion gegen Herrschaftsstrukturen riefen dagegen immer den Gewaltapparat Staat in Gestalt von Polizei, Militär und geheimdienstlicher Überwachung auf den Plan. Dann zeigte sich, daß in der bürgerlichen Gesellschaft Klassenherrschaft nicht nur auf Zustimmung beruht, sondern wenn der Konsens zu brechen droht, offene Gewalt herrscht.

Der moderne bürgerliche Staat verfügt über ein breites Arsenal an Zustimmung produzierender Einrichtungen. Mit ihnen wird täglich exekutiert, daß diese Struktur nur funktioniert, weil sie Ausgrenzungs-, Ausschließungs- und Bestrafungspraktiken anwendet. Foucault hat diese Dispositive der Macht hinsichtlich ihres Mechanismus untersucht und festgestellt, daß es sich dabei um Institutionen handelt, wo Macht eine Technik ist, mittels derer die Individuen sowohl als Objekte als auch als Instrumente fungieren. Dieses Ensemble von Machttechniken strukturiert Werkstatt, Kaserne, Schule und Spital gleichermaßen. Macht herrscht sich hier nicht mehr gegenüber den Insassen von außen auf, sondern wirkt strukturell, indem Herrschaft in das Subordinationsverhältnis als eigenständige Aufgabenstellung integriert ist. Solch eine strikte raumzeitliche Durchorganisation von Sozialbeziehungen organisiert Bestrafung nicht mehr zum Zwecke von Sühne und Unterdrückung eines Vergehens, sondern sie braucht das Vergehen, um sich beständig daraus zu legitimieren und produziert es daher. Gesellschaftlich entstehen Systeme, die "vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend und ausschließend" und dadurch "normend, normierend und normalisierend" sind.

Wenngleich Foucaults Einschätzung von gesellschaftlich relevanten Institutionen als Disziplinarinstitution für ihr Verstehen hilfreich ist, so erscheint seine Theorie als eine in sich ahistorisch abgeschlossene, mit der das Erodieren solcher Einrichtungen aus inneren Widersprüchen oder durch von außen herangetragener Widersprüche nicht mehr erklärt werden kann. Solche Erosionsprozesse rufen gemeinhin Legitimationskrisen von staatlicher Herrschaft hervor, deren Überwindung analag zu den Verwertungskrisen des Kapitals auf den eigenen Grundlagen möglich ist. Wie Herrschaftsverhältnisse abstützende staatliche und Marktzwecken dienende Institution durch für sie äußere Entwicklungen in eine Legitimationskrise geraten können, läßt sich an der aktuellen Krise der bundesdeutschen Staatsschule exemplarisch aufzeigen.

Trotz demokratischer Überformung mittels sogenannter Lehrer-, Eltern- und Schülermitspracherechte, handelt es sich bei der bundesdeutschen Staatsschule um eine feudale Pflichtbeziehung, weil sie auf der unbedingten personalen Unterordnung jedes einzelnen ohne Ansehen der Person unter dieses Pflichtverhältnis beruht, zu dessen Voraussetzung eben nicht der freie Vertrag gehört - wie beim Lohnarbeitsverhältnis, wo in der Fabrik die pflichtgemäße Unterordnung unter das Kommando des "Fabrikherrn" erst als Folge davon erscheint, sondern dieses Pflichtverhältnis durch Geburt gesetzt ist (bzw. durch "dauerhaften" Aufenthalt einer Person im schulpflichtigen Alter auf dem deutschen Staatsgebiet entsteht). In der einschlägigen juristischen Fachliteratur wird dies als besonderes Gewaltverhältnis bestimmt, und es erfolgt die formaljuristische Gleichsetzung zum Recht auf elterliche Sorge, sowie zum Knastaufenthalt und zur Zwangseinweisung in die Psychatrie. Ein besonderes Gewaltverhältnis schließt in der Rechtslogik unserer schönen bürgerlichen BRD-Demokratie den Verlust/die Einschränkung von Grundrechten ein bzw. setzt dieses voraus.

Das in der spätkapitalistischen Gesellschaft entfremdete Zusichkommen des Einzelnen als Marktindividuum und Staatsbürger, womit jeder Verweis auf eine Klassenzugehörigkeit ausgelöscht erscheint, untergräbt gewachsene soziale Milieus und dementsprechend verändern sich die Bedingungen von Kindheit: Kinder erleben zunehmend ihre Familie nicht mehr als Befehls- sondern als Verhandlungshaushalt. Und ihr Sozialisationsprozeß wird davon geprägt, daß sich die Machtbalance zwischen Geschlechtern und Generationen verschiebt. Mit dem Aufkommen einer innerfamilialen Verhandlungskultur wachsen die Kommunikationszusammenhänge. Eltern müssen explizieren und legitimieren. Andererseits müssen Kinder bereits im frühen Alter mitdenken, Verantwortung übernehmen und dabei ihr Handeln selber kommunizierbar machen. Frühe Selbständigkeit wird gesamtgesellschaftlich zum vorherrschenden Erziehungsideal. Kinder begreifen sich zunehmend als "autonome" Individuen. Bei Kindern, deren Sozialisationsprozeß in dieser Weise verläuft, stoßen die tradierten Auslese- und Disziplinarstrukturen der Staatsschule immer häufiger auf Widerstand. Zu früher Selbständigkeit erzogen, wollen Kinder durch Schule weder zum Objekt degradiert noch als Instrument abgerichtet werden.

Solange der kapitalistisch organisierte Arbeits- und Verwertungsprozeß fordistisch daherkam und nach Taylors betriebswirtschaftlichen Vernutzungskonzept Hand- und Kopfarbeit trennte und in entsprechende Unterordnungsverhältnisse preßte, war die Arbeitskraft durch eine Schule darauf prima vorbereitet, in der Erziehung und Bildung nach dem Muster einer Kadettenanstalt verabreicht wurden. Heute dagegen - an der Schwelle zu einem die bisherigen Produktionskonzepte fundamental umwälzenden Konzept der Mehrwertabpressung (lean production) - zeichnet sich ab, daß die Mentalität eines katzbuckelnden Werktätigen für das moderne Kapital künftig keine Vernutzungsqualität mehr besitzt. Auf der Kapitalseite entsteht das Verlangen nach Aufhebung des öffentlichen Schulsystems in seiner bisherigen Gestalt, d.h. die Disziplinar-, Zurichtungs- und Auslesestrukturen der Staatsschule werden gegenüber den neuen Produktionskonzepten kontraproduktiv.

Die Explosion der Staatsverschuldung der BRD in den letzten Jahren veranlaßte bürgerliche Volkswirtschaftler und Finanzpolitiker, dem kapitalistischen lean-production-Konzept entlehnte Jobkillmodelle für den öffentlichen Dienst zu entwickeln. Es handelt sich bei diesem anstehenden Umbau nicht um ein punktuelles Rationalisierungsvorhaben, sondern um ein umfassendes und vor allem um ein antiemanzipatorisches Modernisierungsprogramm, wodurch das staatliche Verwaltungshandeln auf eine völlig neue strukturelle Grundlage gestellt werden soll. Mittels dieser Modernisierung sollen die BürgerInnen dazu gebracht werden, das Verwaltungshandeln aus der Sicht eines Kunden zu akzeptieren und auf bisherige rechtlich gesicherte Einflußmöglichkeiten zu verzichten. Die Beschäftigten sollen sich in und mit ihrer Arbeit ebenfalls wie Anbieter und Kunden zueinander verhalten und sich mittels einer Kosten-/Leistungsrechnung an privatkapitalistischen Dienstleistungsunternehmen messen lassen.

Entsprechend dieser Marktorientierung hat der Umbau der Staatsschule begonnen. Wird dieses Bewirtschaftungs- und Budgetierungsmodell - und alle Anzeichen sprechen dafür - flächendeckend auf die Staatsschule übertragen, dann werden die bisher den Herrschaftscharakter von Staatsschule bestimmenden Strukturen zerstört und die damit verbundenen Legitimationszwänge beseitigt. An ihre Stelle treten die Sachzwänge der kapitalistischen Marktkonkurrenz und die dazu kompatiblen Verkehrsformen. Nach der formellen Subsumtion der Staatsschule unter das Kapitalverhältnis folgt nun die reelle. Dies erscheint nicht nur als historische Notwendigkeit sondern sogar als Fortschritt, weil Herrschaftsstrukturen, die ihre Wurzeln im preußischen Absolutismus haben, dabei geschleift werden.

Heute, in der spätbürgerlichen Gesellschaft, besteht in solchen Legitimationskrisen die aus der umfassenden Wertvergesellschaftung resultierende Chance auf Freisetzung sozialemanzipatorischer Prozesse, denn solche Krisen können nur im Wege einer weiteren Vergesellschaftung von Individualität aufgelöst werden. Selbst wenn dies unter den Verkehrungen der Warenlogik geschieht, ist nicht mehr ausgeschlossen, daß sich das bürgerliche (Geschlechts-)Indivuum seiner Vergesellschaftung bewußt wird. Der Staat als Sache jenseits und über diesen Sozialbeziehungen erschiene überflüssig.