zurück

the best of

BAHAMAS Nr. 24

Gemeinschaft und Konkurrenz

Deutsche Optionen für die Region und Nation in Europa

Das Modell Deutschland ist unter Veränderungsdruck geraten. Neben dem "Umbau des Sozialstaates" wird zunehmend auch über eine Neuverteilung der Staatskompetenzen nachgedacht. In einschlägigen Zeitschriften wird im Zusammenhang mit der zukünftigen Struktur der EU bereits seit längerem über eine solche Änderung des strukturellen staatlichen Aufbaus debattiert. Hier hingegen soll es weniger um die übliche Gegenüberstellung von europäischer Suprastruktur und verbleibenden Staatstätigkeiten sowie die Auswirkungen auf die Souveränität der jeweiligen Nationalstaaten gehen, sondern um das Verhältnis von Staat und Region, wie es von deutscher Seite für ein zukünftiges Europa angestrebt wird.

Der Regionalismus ist nicht nur Gegenstand politikwissenschaftlicher Erwägungen, sondern er ist auch populär. Die Furcht vor einem "Moloch Europa" und der "Brüsseler Bürokratie" hat Ingredienzen, die an die bekannte Angst vor dem "Reich des Bösen" erinnern. Seitdem dieses seinen Schrecken durch Parzellierung verlor und nur noch als Heimat von Mafia und Arbeitsmigranten firmiert, ist der Schutz, den das gewünschte mächtige Europa gewähren sollte, heute eher als Abschottung und effektives Grenzregime gefragt. Eine neue Suprastruktur wird darüberhinaus zur Abwehr des "globalen" Kapitalismus, der oft mit den USA identifiziert wird, als notwendig erachtet - Europa als eine auf Stärke und Konfrontationspotential angelegte Schutzgemeinschaft im militärischen, wirtschaftlichen und währungspolitischen Bereich. Europa soll insofern das Terrain abstecken, innerhalb dessen die Konkurrenz ohne Waffen ausgetragen wird. Als Subjekte der Konkurrenz treten dabei immer mehr die Regionen (Stahlrevier gegen Stahlrevier) auf, deren Stärkung als handlungsfähige Einheiten betrieben wird und deren Verflechtung ins Zentrum politischer und wirtschaftlicher Strategien (Seat und Wolfsburg) rückt. Parallel dazu findet eine stärkere Selbstkonstitution von Region als produktiver und kultureller Heimat statt. Daß der Bezug zu Heimat/Region im höchsten Maße den gegebenen Anforderungen der Weltmarktkonkurrenz entspricht, wird dabei kaum bewußt.

Wenn nun die deutsche Regierung für die Stärkung der Regionen in der EU und den Föderalismus als Form der Union streitet, so will dies natürlich erklärt sein: "Weil nun einmal jede Föderation vom stärksten ihrer Glieder gelenkt wird, versteht man mit einem Mal, daß Bonn sich die Einheit eines föderalen Europas zum Ziel gesetzt hat." (1) In dieser Vermutung des französischen Generals a.D. Pierre Gallois, steckt allerdings höchstenfalls die halbe Wahrheit. Die deutsche Politik macht sich nicht einfach zum Verstärker einer von ihr unabhängigen Tendenz zur Regionalisierung, sondern setzt sich für deren deutsche Version davon ein. Dieser von Deutschland betriebenen Stärkung des Regionalismus innerhalb der EU entspricht nach außen das Konzept einer gegen die USA gerichteten "antihegemonialen" Zusammenarbeit (2 ).

Standort und Heimat

Die zukünftigen "Regionen" sollen in einer Mischung aus Selbstverwaltung, ethnisch und kulturell aufgefaßtem Partikularismus und wirtschaftlichem und ökologischem Regionalismus die Basisintegration als Bestandteil der Staaten und der EU gewährleisten. Die Regionen werden als flexible und - was produktive Struktur und soziale Zusammensetzung angeht - integrierende Einheiten angesehen. Als Marktakteure sollen sie eine Stärkung informeller Kooperationsbeziehungen, eine Aktionseinheit von Betrieb, Belegschaft, Bevölkerung und Verwaltung herstellen. Beflügelnd für diese Diskussion wirkt dabei, daß derzeit sowieso zur Anpassung an die Verwertungsbedingungen, die als eine Krise der Reproduktion der universalen Gesellschaft im nationalen Rahmen oder als Krise des Staates selbst bewußt wird, regionale Antworten gegeben werden. Erste Weichen dazu, diesen Prozeß zu verstetigen, sind längst gestellt, wenn z.B. die vom Bund finanzierte Arbeitslosenhilfe zur "Aussteuerung" der Langzeitarbeitslosen weggekürzt wird, dafür aber die Kommunen mit Sozialhilfe einspringen müssen. Der Regionalismus als Konzept soll den Staat von toten, nichtproduktiven Kosten befreien. Indem die simple Inanspruchnahme staatlicher Transfers in Kampfbegriffen wie "Versorgungsmentalität" oder "Sozialbetrug"skandalisiert wird, soll nicht nur das Niveau von Sozialgarantien gesenkt, sondern auch generell die Frage nach deren Daseinsberechtigung und ihrer Funktion für bestimmte Bevölkerungsteile gestellt werden.

Die derzeitige Entwicklung steigert die Notwendigkeit von staatlicher Integration, schnürt aber auch die materiellen Mittel dafür ein. So feiert die Entdeckung der nachfordistischen Arbeitswelt - die Verlagerung von Verantwortlichkeit auf untere Ebenen - ihren politischen Triumph im Regionalismus. Die bisherige Selbstbestimmung der Bundesländer soll um weitere Elemente der Eigenverantwortung erweitert werden. Die Realisierung von überschaubaren Lebensräumen, diese gemeinsame Ideal von klassischen Konservativen und den Sprößlingen der ehemaligen Alternativbewegung, erscheint in der Wirtschaftsdiskussion als Flexibilität im Bezug auf Weltmarktanforderungen, in der Diskussion um Gesundheits- und Sozialstandards als Einbindung in Selbsthilfestrukturen und in der Kriminalitätsdiskussion als Vorortsozialhygiene mit Hilfe ansässiger Bürgerwehren.

Seitdem unter den Alliierten wieder der Föderalismus eingeführt wurde, gilt dieser als antifaschistisch, weil er die Absage an einen zentralistischen homogenen Staat dastellt. Die Sympathie für den Regionalismus scheint also ein Erfolg für die alliierte Deutschlandpolitik zu sein. Hinter dieser honorigen Fassade aber wirkt heute ein Gemeinschaftsempfinden, jenseits von Klassen und einem Bewußtsein von Klassenzugehörigkeit, in der regionalen Interessengemeinschaft am Standort für einen Erfolg auf dem Weltmarkt. Der Erfolg eines nach diesem Bild gemodelten Subsidiarismus wird - neben der ungesicherten EU-weiten Durchsetzbarkeit - davon abhängen, ob der regionale Standort genügend Haltekräfte für die Bewohner bereithält, um jene wirtschaftliche und soziale Unsicherheiten auszuhalten zu lassen. Während allgegenwärtige Arbeitslosigkeit und gesetzliche Bestimmungen die Arbeitsmigration innerhalb der EU begrenzen, soll verschlechterter Lebensstandard durch ethnisch-kulturellen Regionalbezug sich versüßen. Und so wächst in der Heimat zusammen mit der Ausländerfeindlichkeit die Bereitschaft, sich für den Standort zu engagieren, denn nicht nur der Bürgermeister von Erlangen weiß davon zu erzählen, daß "in dem härteren und inzwischen oft internationalen Wettbewerb der Standorte allein die ökonomischen Folgen ein Desaster wären, wenn eine Stadt ihre Anziehungskraft verlöre." (FAZ 15.8.97) Die sozialpartnerschaftliche Friedfertigkeit konnte so in Deutschland, teils zum Erstaunen der politischen Beobachter, trotz erheblich eingeschränkter Sozialtransfers und der absoluten Verlängerung des Arbeitstages erhalten werden. Unter der Maßgabe einer Wirtschafts- und Währungsunion wächst die Neigung die EU zu einer Neuauflage der Erfolgsgeschichte deutscher, korporatistischer Produktionskultur zu nutzen.

Zentral- und Teilgewalten

In der BRD wird derzeit die Forderung nach einer "Beschleunigung der Politik" (NZZ 9./10.8.97) erhoben, sei es durch den von BDI-Präsident Henkels im Juli unternommenen Vorstoß für den "Umbau des politischen Systems" oder durch Graf Lambsdorffs Forderung nach einem "echten" Föderalismus. Die Nörgeleien über eine "politische Blockade" der Staatsführung durch die wiederentdeckte Dualität von "Parteienstaat" und Regierung, in dem die Parteien den Föderalismus für ihre Zwecke ausnutzten und damit diskreditierten, stehen für eine autoritäre Stimmung wider die "Verhinderungsmacht der Teilgewalten" (FAZ 12.8.97). Doch zielt dies nicht etwa auf die Abschaffung des Föderalismus in Deutschland sondern im Gegenteil auf seine eine Effektivierung durch eine Veränderung der Kompetenzverteilung von Ländern und Bund bzw. die Neugliederung der Länder in Richtung schlagkräftigererer ("lebensfähigerer") politischer Einheiten im Hinblick auf eine zukünftige EU. Deshalb wird auch (in derselben Ausgabe der FAZ vom 12.8.97) die Forderung nach größerer Selbstständigkeit der Länder - z.B in Form begrenzter Steuerautonomie - erhoben. Ebenfalls wird die währungspolitische Alleinzuständigkeit der Bundesbank, also die Annullierung der Mitsprache der Landeszentralbanken gefordert (FAZ 9.8.97), während gleichzeitig die Chefs der Staatskanzleien und Senatsverwaltungen an Möglichkeiten zur Rückübertragung von Bereichen des Bundesrechts in das Landesrecht auf mehreren Gebieten arbeiten: Hochschulrahmenrecht (Abschied von den Einheitsmodellen), Sozialrecht (Abschaffung bundeseinheitlicher Sozialhilferegelsätze), Bauplanungsrecht, Versammlungsrecht, Gentechnikrecht. (3 ) Gegenüber dem Pochen von Stoiber, Biedenkopf und Vorscherau auf eine Mitentscheidung der Ministerpräsidenten bei der Aufnahme weiterer Länder in die EU, soll die Bundesregierung für eine effektive Europa- und Weltpolitik gestärkt werden; wenn es aber um Sozialstandards und Standortpolitik geht, sollen die regionalen Entscheidungsebenen gelten.

Chancengleichheit wird nicht mehr für Individuen sondern für Regionen angestrebt, denen sich die Individuen zuordnen. Es soll zukünftig weniger allgemeine sozialpolitische Garantien durch den Staat geben: Diese sollen in der Zukunft eher die Regionen organisieren und damit Regionalloyalitäten mit wirtschafts- und sozialpolitischer Eigenverantwortlichkeit entstehen lassen. Region ist das Zauberwort für recourcengestützte Heimatidentitäten und kulturelle Wirtschaftseinheiten. Viel gemeinwohlzuträglicher als die Konkurrenz der Vielen um die Reproduktionsgarantien des einen Staates scheint dabei eine begrenzte regionale Konkurrenz unter den Wirtschaftsregionen: "Ungleichheiten in den Lebensbedingungen ließen sich in einer vielzahl kleinerer Regionen eher ertragen als innerhalb größerer Einheiten."(4 )

Der überkommene Föderalismus der BRD war durch die verfassungsmäßige Verpflichtung auf die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" geprägt. Mit diesem Auftrag rechtfertigte der Bund den Ausbau seiner Gesetzgebungskompetenz und relativierte die Selbstständigkeit der Länder. Eine solche Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse soll aber für ein zukünftiges Europa nicht mehr gelten.Politikberater grübeln deshalb darüber nach, wie "mehr Vielfalt und Konkurrenz mit der Solidarität der Bundesländer untereinander vereinbar" zu machen sei. Wenn dies gelänge, "besteht die durchaus begründete Hoffnung, daß die Bundesrepublik ihre regionalpolitische Trumpfkarte ausspielen kann." (5 )

Im deutschen Korporatismus tritt der Staat als Architekt paritätischer Regelungsinstitutionen auf, denen er die Spielregeln und die Ziele vorgibt. Diese Form des Korporatismus bedarf eines starken Staates und im Sinne des Staatszwecks selbstständig agierender Teile. Die aktuellen Veränderungen im Gesundheitswesen beispielsweise beruhen nicht einfach auf Mittelkürzungen und Umwidmungen, sondern auf einer "Korporatisierung als gesundheitspolitischer Strategie" (6 ), die seit den siebziger Jahren immer ausgeprägter als Alternative zu direkter staatlicher Steuerungbegriffen wurde. Die Resourcen der Verbände - insbesondere ihre 'Verpflichtungsfähigkeit' - werden dabei in den Dienst staatlicher Politikziele gestellt. Die Internalisierung staatlicher Steuerungsvorgaben durch die "Selbstverwaltung" wird in ihrem Ausmaß wohl nur in Österreich übertroffen.

Deutsche Kultur für Europa

Auch wenn allenthalben und teils schadenfroh von einer Krise des deutschen Modells gesprochen wird, so darf doch nicht übersehen werden, daß dessen Konsensualität nie ernsthaft in Frage gestellt wurde. Die Verknüpfung von sozialer Befriedung und höchster Arbeitsproduktivität hat ebenso wie die hohen Löhne und der Wohlfahrtsstaat seine Fans nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt: Bei französischen Staatslenkern und Gewerkschaften genauso wie im weitläufigen US-Einflußbereich bei Laurent Kabila in der Demokratischen Republik Kongo (Tagesspiegel 21.5.97); selbst der Putsch-General von 1971, Hugo Banzer, bemüht die Soziale Marktwirtschaft nach deutschem Vorbild, um 1997 erneut bolivianischer Präsident zu werden - diesmal aber gewähltermaßen (FAZ 6.6.97).

Mit Deutschland im Zentrum der Betrachtung beschrieb der französische Versicherungsfachmann Michel Albert ein "rheinisches Modell des Kapitalismus" als Zusammenfassung von Kapitalismus und Sozialdemokratie, das besonders seit dem Zusammenbruch des Real-Sozialismus gegen das "neo-amerikanische Modell des Kapitalismus" um die Weltgeltung kämpfe (7). Statt einer am deutschen Modell geschärften Einsicht in die Notwendigkeit der Befreiung vom Kapitalismus, schildert Albert ein Deutschland, das zum Vorbild eines Kapitalismus mit humanem Gesicht geworden sei, gegen den "Neo-Liberalismus" us-amerikanischer Prägung. Für eine sozialreformerische Linke strahlt Deutschland Attraktivität aus. "Diese ehemaligen Guerrillas in Kolumbien, Venezuela, Guatemala und El Salvador haben längst die Verstecke in den Bergen und Hochländern verlassen und in den Städten reformistische politische Parteien gegründet. Alle diese früheren Guerrillas kämpfen heute für den rheinischen Kapitalismus", schreibt die New York Times, für "einen Wohlfahrtsstaat mit starken Gewerkschaften und hohen Steuerbelastungen, wie es ihn nur noch in Deutschland gibt." (zit. nach FAZ 15.8.97) Aus Sicht des US-Magazins Newsweek vom März 96 trägt das deutsche Modell allerdings die "deutsche Krankheit", eine "tödliche Kombination von überbezahlten und unterbeschäftigten Arbeitern, rigidem Arbeitsrecht, risikofeindlichem Management und einem überaktiven Staat". Eine Veränderung des deutschen Modells steht auf der Tagesordnung, aber nicht als Annulierung des vorherigen durch Übernahme der US-Gepflogenheiten, sondern als Vorhaben, in der EU ein neues Modell von Konsens, Konkurrenz und Produktivität zu etablieren.

Von einem rheinischen Kapitalismus in Europa zu sprechenist stichhaltig, denn mit der zunehmenden Kooperation innerhalb der EU hat Deutschland wesentliche Elemente seines Systems auf die EU-Staaten übertragen: So beispielsweise mit Hilfe der zukünftigen Europäischen Zentralbank die Verpflichtung zur Währungsstabilität. Mit der Stabilität des Geldes ist nicht nur die Einsetzbarkeit des Euro gegen den Dollar im Visier der Politik, sondern auch das Bestreben eine insbesonders aus Deutschland bekannte politische Kultur in Europa weiter auszudehnen. Die Stärke der DM drückt das Vertrauen aus, das das Anlagekapital in Deutschland setzt; in das Deutschland der wenigen Streiks und der Gewerkschaften, die sich ihrer Verantwortung für die Rentabilität des Standortes Deutschland voll bewußt sind. Die Verbindlicherklärung der Stabilitätskriterien für die Teilnahme am zukünftigen Euro beinhaltet eine Verpflichtung von Kapital und Arbeit auf einen als Gemeinwohl verstandenen reibungslosen Gesamtablauf.

Ein starkes Europa für Deutschland

Ehemals wurde mit einem starken Europa auf die Einheit der Nation spekuliert. Das Motiv für deutsche Europapolitik vor 1989 war durch die Deutschlandpolitik im Sinne einer Aufweichung und Löcherung des "Eisernen Vorhangs" vorgegeben. "In der Einsicht, daß der Nationalstaat ein an sich überlebtes Element darstellt, das den europäischen Völkern nicht mehr als Hort der Selbstbestimmung, ihrer Prosperität und ihrer geistigen Fortentwicklung zu dienen vermag, sollte den Deutschen die Entscheidung leicht werden, den Schwerpunkt ihrer nationalen Interessen in der Schaffung eines Großraumsystems zu sehen, in dem auf natürlichem Wege auch das Zusammenleben ihrer Nation wieder möglich wird. (...) Um Deutsche bleiben zu können, also um die Grundlagen unserer nationalen Eigenständigkeit in die Ära des Raumfahrtalters hinüberzuretten und die Gemeinschaft unseres Volkes wiederherzustellen, müssen wir Europäer werden." Nur ein "ausgeprägter Föderalismus" gebe den Völkern die Möglichkeit sich der "Pflege ihrer durch Mentalität und Überlieferung bestimmten schöpferischen Eigenschaften" zu widmen. (8 ) Aus der als Not empfundenen deutschen Teilung und dem Anspruch auf Weltgeltung, wurde in diesen Sätzen, die Franz-Josef Strauß 1967 als Finanzminister von sich gab, die völkerkooperierende Tugend. Noch 1989 schloß sich der damalige Ministerpräsident von Baden-Würtemberg, Lothar Späth, dem Straußschen Kredo an: "Wir müssen durch europäische Initiativen unsere Bereitschaft glaubhaft machen, auch jene außen- und sicherheitspolitischen Souveränitätsrechte auf die Gemeinschaft zu übertragen, die es uns - theoretisch - erlauben würden, territoriale Veränderungen als Ziel nationaler Politik anzustreben." (9 )

Nachdem aber die Ossis zur D-Mark statt nach Europa überliefen, fanden Positionsverschiebungen in der deutschen Politik zwischen Nationalstaat und politischer Union statt. Zwar waren die Konzepte für einen vollgültigen Erhalt des Nationalstaates längst vorhanden, doch wurden sie erst nach dem Beitritt der DDR zur Position der offiziellen deutschen Politik, wie sich z.B. anhand der Veränderung von CDU-Rhetorik nachvollziehen läßt. Dabei wurde der Föderalismus, der geradezu als Bedingung deutscher Stärke angesehen wurde und sich beim Anschluß der DDR bewährt hatte, stark herausgestrichen, und mit ihm das Plädoyer für eine Stärkung regionaler Identitäten. Im Vereinigungsmanifest des CDU-Parteitages 1990 hieß es: "Wir wollen durch eine politische Union den Weg für die Vereinigten Staaten von Europa eröffnen." 1992 wird im Dokument des Düsseldorfer Parteitages der Vertrag von Maastricht behandelt: "Entprechend dem neuartigen Charakter des Einigungsprozesses wird sein Ergebnis historisch neuartig sein. Das Ziel der Europäischen Verfassung läßt sich nicht mit herkömmlichen Begriffen fassen. Die CDU Deutschlands strebt jedoch insgesamt eine bundesstaatliche Lösung an." Im Grundsatzprogramm von 1994 ist niedergelegt: "Wir wollen ein starkes Europa, das die Zukunft der Nationen sichert. (...) Die Europäische Union muß freiheitlich, demokratisch, föderal, subsidiär und bundesstaatlich gestaltet werden. Der Nationalstaat wird sich im Zuge dieser Entwicklung wandeln, aber nicht auflösen. (...) Heimatliche Verwurzelung, nationale Identität und europäische Gemeinsamkeit ergänzen und bedingen sich." (10 )

Während früher der europäische Bundesstaat die Nation wiederherstellen sollte, sollen heute heimatliche Verwurzelung und nationale Identität europäische Verschiedenheiten bewahren.

So wird auch keinerlei EU-Einheitlichkeit angestrebt, die eine soziale Gemeinschaftsverpflichtung bedeuten würde. Zweck der EU-Reform läge in der Ermöglichung einer "variablen Geometrie" oder "mehrerer Geschwindigkeiten". Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legte sich auf die "institutionelle Weiterentwicklung der EU" durch Reform "aller vorhandener Institutionen" fest. Diese "muß sich am Modell eines föderativen Staatsaufbaus und am Subsidiaritätsprinzip orientieren" (FAZ 8.9.94) und damit nach deutschem Vorbild gestaltet werden. In diesem Sinne forderte Bundesbankpräsident Tietmeyer im Handelsblatt (6.2.96), es werde mehr Flexibilität und Wettbewerb und nicht noch mehr Integration und Harmonisierung gebraucht. "Nicht alle Fragen müssen auf die europäische Ebene gehievt werden. Es ist der Grundgedanke der Subsidiarität, daß dort, wo dies möglich ist, auf der Ebene der Regionen und des Nationalstaates entschieden wird", heißt es in einem neuen Papier zur "Deutschen Außenpolitik nach dem Gezeitenwechsel 1989/90" von Wolfgang Schäuble. (FAZ 2.7.97)

Subsidiarität und Selbstbehauptung

Der aus der katholischen Soziallehre stammende und ständischen Ideen verpflichtete Begriff der Subsidiarität bedeutet, daß die übergeordnete gesellschaftliche/politische Einheit nur die Aufgaben ausführt, deren Wahrnehmung von untergeordneten Einheiten (Familie, Kommune, Gliedstaat, Kirche) nicht gewährleistet werden kann bzw. nicht das gewünschte Ergebnis erbringen würde. Das "Recht der kleinen Lebenskreise" soll den Ablauf des Solidarhandelns zwischen Selbsthilfe und obrigkeitlich-paternalistischem Eingreifen ordnen. Subsidiarität legt dem Staat die Pflicht auf, seinen anerkannten Gliedern hilfreich zu sein. Der Staat als Verkörperung des Allgemeinen jenseits der gesellschaftlichen Gegensätze führt eine unangefochtene Aufsicht über die Solidarität innerhalb der Gesellschaft, die er selbst als Gemeinschaft garantiert, gegebenenfalls durchsetzt. Diejenige Korporation, die sich die staatliche Anerkennung verdient hat, handelt daraufhin quasi im staatlichen Auftrag. Auch die Kirche mußte sich erst als staatstragend erweisen, bevor sie subsidiär tätig werden konnte (deswegen gibt es in Deutschland keine Anerkennung von Scientology). Auf dem Subsidiaritätsprinzip gründete in der Weimarer Republik das staatliche Zwangsschlichtungswesen bei Arbeitskämpfen als Ausdruck des volksgemeinschaftlichen Ausgleichs von Lohnarbeit und Kapital (11); ebenso beruht die Sozialpolitik der BRD darauf (Bundessozialhilfegesetz). Subsidiarität stiftete einen Zusammenhang vom Sozialstaatspostulat übers Vaterländische Hilfsdienstgesetz bis zum Stinnes-Legien-Abkommen von 1918.

Das Subsidiaritätsprinzip kann als Individual- oder Gruppenprinzip, aber auch als ein Territorialprinzip verstanden werden. Beim Territorialprinzip ist vom Staat, Land oder Bezirk die Rede, beim Gruppenprinzip wird auf Minderheiten, Volksgruppen oder soziale Gruppen Bezug genommen. Es dient nicht dem Zwecke größerer Bürgernähe, wie es oft heißt, sondern der Stärkung der Verantwortung des Einzelnen für das Ganze und der direkten ökonomischen und ideologischen Nutzung dieser Verantwortung.

Die deutsche Expansion in Europa darf als gesichert gelten, weil die hinsichtlich ihrer Produktionskultur und Wirtschaftskraft starken Regionen in Europa von einem föderalen und regionalen EU-Konzept auch am meisten profitieren. Der von Strauß beschworene "kollektive Selbstbehauptungswille" setzt heute auf die Flexibilität der Regionen. Die meisten der in Deutschland diskutierten Europakonzepte streben solcher Tradition getreu einen Konkurrenzregionalismus an: Regionen werden so zu Einheiten der Integration, zusammengehalten von einer regionalen Standortidentität, in der corporate identity und Bandenbildung verschmelzen.

Institutionelle Regionalisierung in Europa

Von einer systemgestaltenden Macht der BRD, dem ehemals "einzigen EG-Staat mit föderalistischer Struktur und Erfahrung", in einem zukünftigen Europa träumte Lothar Späth schon 1989. Die BRD sollte den Föderalismus in Europa durchsetzen, indem sie zwischen der englischen Position eines nur "symbolischen Zusammenschlusses" und der französischen Position der "umfassenden Zentralgewalt" vermitteln würde (12 ). Damals entwickelte Späth ein Szenario, in dem neben den einheitlichen Makrostrukturen, "Regionen, Länder und Provinzen (...) gestärkt aus dem europäischen Einigungsprozeß hervorgehen" und in einen "Wettbewerb der Standorte im Binnenmarkt" und "von Kommunal- und Regionalpolitiken" treten (13 ). Diese eigentümliche Einheit von Vielfalt und Homogenität soll nicht nur dafür gut sein "die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technologischen Kapazitäten den internationalen Wettbewerbserfordernissen anzupassen", sondern auch "landsmannschaftliche Identitäten zu bewahren und die kulturelle Vielfalt auszubauen" (14 ). Neben die Angleichungen bei technischen Entwicklungen und rechtlichen Rahmen treten regional gestylte Produktionsregimes zur Mehrwertabschöpfung.

Deutschland hat sich zum Wortführer regionengestützter Politikkonzepte gemacht. Die Übertragung von föderalistischen und regionalen Prinzipien auf die "politische, institutionelle, sprachliche und ethnisch-kulturelle Heterogenität der Mitgliedsländer der Europäischen Union" (15 ), führte zu einer Neuorganisation politischer Räume, besonders dort wo der Föderalismus bisher keinen staatskonstituierenden Charakter hatte: Nicht nur in Osteuropa, wo im Zuge der Heranführung an die EU Dezentralisierung als demokratische Reform verstanden wurde, sondern auch in Wallonien, Schottland und Padanien. So hat z.B. die Labour-Regierung einen Beirat für die Veränderung des Staatssystems ins Leben gerufen (Tagesspiegel 23.7.97) und ließ gerade über Regionalparlamente für Schottland und demnächst für Wales abstimmen. Die deutschen Bundesländer verfügen in Europa bereits über den Status von Regionen. Sie unterhalten eigene Büros in Brüssel und können es, gemessen an ihrer Einwohnerzahl und Wirtschaftsleistung, mit einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufnehmen.

Bei der EU stellen Regionen zunächst die verwaltungsmäßigen Bezugspunkte für die Förderung aus den Zuschuß-Töpfen. Unter anderem, weil die Praxis der europäischen Fondvergabe ausschließlich regional ausgerichtet ist, setzte Mitte der 80er Jahre in der EG ein Schub an Dezentralisierung und Regionalisierung ein. (16) Die Kriterien für eine Region sind nicht einheitlich, es können wie in Deutschland die Bundesländer sein, es können aber auch ethnische, traditionsbezogene und produktionsbezogene Kriterien (wobei meist das eine ohne das andere nicht auskommt) eine Rolle spielen. In Belgien wurden 1980 drei Regionen mit wirtschaftspolitischen Kompetenzen eingerichtet, und in Frankreich wurden 1982 22 Regionen etabliert (mit weiteren vier außerhalb des geographischen Europa). Mit Spanien schließlich trat 1986 ein Staat der EG bei, dessen nach-francistische Verfassung von 1978 die Regionalisierung der politischen Strukturen festschrieb. Die zentralstaatliche Ausrichtung der EU, die der Beitritt von Dänemark, Großbritannien und Irland 1973 noch verstärkt hatte, gehört einer vergehenden Epoche an: Bisher gibt es außer in der BRD noch in Österreich, Belgien, Italien und Spanien Regionen mit Gesetzgebungsbefugnisssen; mit Ausnahme Griechenlands existieren in allen Mitgliedstaaten direkt gewählte regionale Versammlungen.

Dem Rückzug des Staates als Leistungserbringer entspricht ein gleichzeitiges Anwachsen seiner Regelungskompetenzen (17 ) für Rahmenbedingungen von Markt und Recht. Die Legitimation der supranationalen EU entspränge aus der Notwendigkeit der globalen Präsenz. Die Legitimation des Mitgliedsstaates käme aus seiner konstituierenden Rolle für die EU und den verbleibenden nicht an europäischen Institutionen übertragenen Regelungskompetenzen. Mit dem von Deutschland im EU-Vertrag etablierten Subsidiaritätsprinzip werden aus Regionen mehr und mehr politische Einheiten. Staat und EU wachten darüber, daß die Standortkonkurrenz unterhalb der jugoslawischen Schwelle abläuft.

Die auf deutschen Druck in den Maastrichtvertrag aufgenommene Subsidiarität wurde in Amsterdam präzisiert: Nach Punkt 5 des 13 Punkte umfassenden Protokolls soll die Gemeinschaft nur tätig werden können, wenn die "Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen (...) nicht ausreichend durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Verfassungsordnung erreicht werden" und "daher besser durch Maßnahmen der Gemeinschaft erreicht werden" können. (FAZ 18.7.97) Damit ist neben der nationalen Ebene, gemäß der deutschen Verfassungsordnung, die Regions- bzw. Länderebene festgeschrieben. "Was dies in der Praxis bedeutet, ist noch nicht abzusehen", heißt es weiter in der FAZ "und dürfte gegebenenfalls genau durch den Europäischen Gerichtshof geklärt werden müssen. Dann könnten die vorherrschende Gleichgültigkeit und Verwunderung, die die deutschen Wünsche nach mehr Subsidiarität während der Regierungsverhandlungen begleiteten, der Vergangenheit angehören."

Die Politik der Bundesregierung in Amsterdam lief darauf hinaus, die Gemeinschaftsaufgaben nicht dorthin auszudehnen wo Länderinteressen und deutsche (als "kulturelle"bezeichnete) Besonderheiten beeinträchtigt worden wären. So verhinderte Kohl die, sonst immer besonders gegen die Briten geforderte Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen bei der Industriepolitik, der Berufsordnung (deutsche Handwerksordnung), dem Niederlassungrecht, der Freizügigkeit und dem Asylrecht. (Tagesspiegel 19.6.97)

Ebenso teilte das Gesundheitsministerium mit, daß eine "von der Kommission vorgeschlagene Vertragsänderung zu einer Harmonisierung und Rechtsangleichung der Gesundheitssysteme" nicht kommen werde. "Es gehe darum, die europäischen Kernzuständigkeiten zu intensivieren, aber nicht auszuweiten." (Handelsblatt 17.6.97) An anderer Stelle wollten Frankreich und Deutschland mit einer gemeinsamen Initiative Mehrheitsentscheidungen für "flexible Integrationen" ermöglichen. Danach sollten sich dazu jeweils bereite EU-Staaten auf bestimmten Gebieten enger zusammenschließen können, um die Kerneuropakonzepte und das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten leichter umzusetzen. Dies wurde allerdings durch die Briten mit dem Vorbehalt versehen, daß ein einzelner Staat dagegen sein Veto einlegen könne. Ein Beispiel für eine flexible Integration ist dennoch die in Amsterdam getroffene Regelung, nach der das Schengener Abkommen zu Gemeinschaftsrecht wird, Großbritannien, Irland und Dänemark aber ihre Grenzkontrollen beibehalten dürfen. (Handelsblatt 19.6.97)

Bisher nicht durchsetzten konnte sich die deutsche Seite damit, den Ausschuß der Regionen neben Ministerrat und Parlament zu einer dritten Kammer auf der Brüsseler Bühne zu etablieren. Lediglich die Mitspracherechte des Ausschusses gegenüber Rat und Parlament wurden z.B. im Bezug auf die Beschäftigungs-, Sozial-, Umwelt- und Verkehrspolitik ausgeweitet. (FAZ 18.7.97) Den französischen und englischen Versuchen, föderalistische Strukturen als Angleichung an den deutschen Staatsaufbau in den europäischen Verträgen zurückzudrängen, steht die von der Bundesregierung betriebene Stärkung der Bundesländer gegenüber. Das verspricht für die Zukunft noch reichlich Konfliktpotential.

Außenpolitik der Regionen

Ein weiteres Element der deutschen Regionalisierungsbestrebeungen besteht in der Forcierung einer grenzüberschreitenden regionalen Zusammenarbeit in der EU. Dies wird Interessen und Loyalitäten quer zu den bestehenden Staaten zur Geltung bringen und nicht nur ein weiteres Destabilisierungselement für die Staaten in Osteuropa bedeuten, sondern auch innerhalb westeuropäischer Staaten bestehende Divergenzen - wie z.B. in Italien und Belgien - zum Motor des sozialen Umbaus machen.

Die Regionen innerhalb der EU sollen auch die Möglichkeit bekommen mit (durchaus selbsternannten) Regionen außerhalb der EU eine regionale Zusammenarbeit aufzunehmen, was mit der EU kooperierende Staaten vor das Problem stellt, verstärkt über regionale Sonderinteressen wachen zu müssen. Diese Praxis schafft Loyalitäten quer zu den bestehenden Staaten und stärkt denjenigen Staat innerhalb der EU, der sich zum Wortführer und Interessenwalter vieler Regionen macht.

Wie eine grenzüberschreitende regionale Mobilmachung aussehen kann, demonstrierte der damalige Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm: "Der Süden Gewinnt - der Norden Europas läuft Gefahr, in eine neue Randlage zu geraten. Das betrifft den Norden Deutschlands genauso wie den Norden Polens, die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, den baltischen Teil Rußlands, Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen. Es gibt nur eine Strategie, die uns hilft: im Norden unsere Kräfte zu bündeln, schon jetzt länderübergreifend kooperieren. Wir müssen unsere Anstrengungen auf den Standort Nordeuropa konzentrieren (...) so viel Wertschöpfung wie möglich im Norden." (18 )

Regionalisierungsbestrebungen wie die im Ostseeraum, an der alle Ostseeanrainer beteiligt sind, führen zu wirtschaftlichen und politischen Strukturen neben den bestehenden Ländern. Deutschland zieht im Ostseeraum die vier größten Handeslströme (mit Schweden, Dänemark, Polen und Rußland) auf sich. Schleswig-Holstein wickelt dort 25% seines Außenhandels ab. "Mit dem aufgebauten Netz an Partnerschaften im Ostseeraum (...) hat Schleswig-Holstein seit 1992 ein Netzwerk von Partnerschaften aufgebaut: Gemeinsame Erklärungen über regionale Zusammenarbeit hat die Landesregierung unterzeichnet mit der Wojewodschaft Danzig/Gdansk (Polen), dem Oblast Kaliningrad/Königberg (Rußland), der Republik Estland und Lettland, der Provinz Vaasa (Finnland), mit SYDSAM (Zusammenschluß südschwedischer Gebietskörperschaften) sowie der Region Oslo/Akershus (Norwegen)." (19 )

Partikularistische Wende

Im Regionalismus verbinden sich konservativ-traditionsgeschwängerter Überschaubarkeitsbezug und "linkes" Streben nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Unter Bedingungen der Marktintegration ist Selbstbestimmung ihre eigene bösartige Karikatur, und der Glaube an die Harmlosigkeit des regionalen Produktivismus gleicht der Beschwöhrung von Dämonen. Die Chancen für Deutschlands Vorhaben einer Regionalisierung unterhalb der Ebene bestehender Staaten steigen weniger deshalb, weil sie ein deutsches Projekt sind, denn eine solche Identifizierung wäre eher hinderlich. Sie steigen nicht zuletzt deswegen, weil sich das deutsche Agieren in einen Kontext einordnet, der schon seit langem Regionalisierung und Dezentralisierung als Demokratisierung mißversteht.

Als Gerd-Klaus Kaltenbrunner 1977 in der Herderbücherei Initiative, einer Abonnement-Reihe für konservative Eliten, das Bändchen Lob des Kleinstaates, Vom Sinn überschaubarer Lebensräume herausgab und hoffnungsgebend von "einer partikularistischen Wende" zur "Tradition europäischen Kleinraumdenkens" schrieb, daß sich "schon heute gegenüber den zentralistischen Tendenzen der Moderne (...) in Ost und West, eine gegenläufige Tendenz abzeichne, die man als pluralistisch, regionalistisch, provinzialistisch und 'primitivistisch' bezeichnen kann" (S.14f), bezog er sich explizit auch auf national-soziale Befreiungsbewegungen und bezog damit in diese "Wende" auch die Linke mit ein.

Diese Hoffnung sollte nicht enttäuscht werden. Autoren wie H. M. Enzensberger oder J. Schmierer träumen von regionaler Unübersichtlichkeit oder regional gestütztem Multikulturalismus. Neben Unterstützrn nationalistischer und regionalistischer Bewegungen haben sich die Kommunitaristen als aufgepeppte Statthalter einer "partikularen Gemeinschaft", etabliert. Da deren "Begriff der 'community' im amerikanischen Denken von Anfang an und unablösbar den Gedanken einer Identität von 'Gemeinschaft' und 'Demokratie'" verbunden sei, weise diese Tradition "der deutschen Debatte einen Weg aus dem Tabu, sich mit 'Gemeinschaft' auseinanderzusetzen" - frohlocken die deutschen Freunde des Gemeinwohls. (20 )

Karl Nele

Anmerkungen

1) Zitiert nach: S. Eggerdinger, Maastricht II und die Europastrategien des deutschen Kapitals, in: Streitbarer Materialismus 21 2/1997, S. 53

 2) Ein Beispiel für so eine Politik der Etablierung allgemeiner Spielregeln gegen die "Odrnungsmächte" findet sich als Konzept für eine EU-Politik am besonders durch ÖL- und Erdgasvorkommen interessanten Kaspischen Meer in: FAZ 21.8.97.

 3) U. Männle, Grundlagen und Gestaltungsmöglichkeiten des Föderalismus in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B24/1997

 4) W. Möschel, Europapolitik zwischen deutscher Romantik und gallischer Klarheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B3-4/1995

 5) D. Braun, Der bundesdeutsche Föderalismus an der Wegscheide. Interessenkonstellationen, Akteurskonflikte und institutionelle Lösungen, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis, 2/1996

 6) vgl. dazu G. Lehmbruch, Der Beitrag der Korporatismusforschung zur Entwicklung der Steuerungstheorie, in: Politische Vierteljahresschrift 4/1996

 7) M. Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt/New York 1992

 8) F. J. Strauß, Nation mit neuem Auftrag in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 6/1994, S. 504 ff

 9) Lothar Späth, 1992. Der Traum von Europa, Stuttgart 1989, S. 327

 10) Zitate aus: Bruno Schoch, Adenauerallee und Wilhelmstraße, Die CDU zwischen Europa und Nation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Oktober 1996

 11) Johannes Bähr, Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik, Berlin 1989, S. 82

 12) L. Späth a.a.O. S. 17

 13) L. Späth a.a.O. S. 264/265

 14) L. Späth a.a.O. S. 285

 15) W. Luthardt, Europäischer Integrationsprozeß, deutscher Föderalismus und Verhandlungsprozesse in einem Mehrebenensystem: Beteiligungsföderalismus als Zukunftsmodell, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 3/1996

 16) I. Trömmel, Europäischer Binnenmarkt und mediterrane Peripherie, in: PROKLA 75/1989

 17) vgl. Christoph Knill,Staatlichkeit im Wandel: Großbritannien im Spannungsfeld nationaler Reformen und europäischer Integration, in: Politische Vierteljahresschrift 4/1995

 18) B. Engholm, Im Norden des neuen Europa: eine neue Hanse, in: Nord-Handwerk, Informationen der Handwerkskammer Hamburg, Oktober 1992. Zitiert nach: AG "Kommunistische Politik von unten" in und bei der PDS Schleswig-Holstein, Die "neue Hanse" - Friedliche Kooperation oder aggressive Großraumwirtschaft? Materialienband zum Seminar am 31.8.96

 19) Bericht über die Ostsseeaktivitäten der Landesregierung 1996, Kiel 18.6.1996, S. 16. Zitiert nach: AG "Kommunistische Politik von unten" in und bei der PDS Schleswig-Holstein, Die "neue Hanse" - Friedliche Kooperation oder aggressive Großraumwirtschaft? Materialienband zum Seminar am 31.8.96

 20) Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst im Vorwort zu dem von ihnen 1993 herausgegebenen Buch Gemeinschaft und Gerechtigkeit, S. 11

zum seitenanfang