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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822

2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

17. November 1989

Die Volkskammer tritt zu ihrer 12. Tagung zusammen. Wichtigster Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung des zu Wochenbeginn gewählten Vorsitzenden des Ministerrates, Dr. Hans Modrow (SED). Die Regierungserklärung erhält nach offener Debatte im Plenum die Zustimmung aller Abgeordneten.

In der Regierungserklärung heißt es u. a.:

"(...) Diese Regierung, die ich Ihnen nach vorangegangenen Konsultationen mit den sie tragenden politischen Parteien - SED, CDU, LDPD, NDPD - vorschlagen werde, ist eine Regierung der Koalition, eines neuverstandenen kreativen politischen Bündnisses,- das zeigen auch die Positionspapiere dieser Parteien. (...)"

Modrow wendet sich an alle Bürger, diese Regierung zu unterstützen. "Wir brauchen von denjenigen, die sich dazu bereitfinden, einen Vertrauensvorschuß, und ich weiß, daß ich damit schon viel verlange. Deshalb will ich hier erklären: Diese Regierung wird nur das versprechen, was sie wirklich halten kann. (...)

Wir bekennen uns zu den Leistungen der Werktätigen in all den vergangenen Jahrzehnten. Immer wieder kommt in diesen Tagen der Wille zum Ausdruck, das in harter Arbeit Geschaffene zu erhalten, nichts aufzugeben, die Mühe all der schweren Jahre nicht in den Rauch zu schreiben. (...) Die Wirtschaft der DDR aus der Krise zu führen, ihr Stabilität zu verleihen und Wachstumsimpulse zu geben, ist jetzt die wichtigste Aufgabe der Regierung, und diese Aufgabe werden wir in eigener Kompetenz anpacken.

Verantwortlich sind wir der Volkskammer, und ihr haben wir Rechenschaft zu legen. Wir verstehen das als Rechenschaft vor dem Volk. jeder, der bei uns in dieser Arbeit helfen will, ist willkommen. (...)

Auch und gerade eingedenk all dieser Tatsachen sollen für diese Regierung andere Maxime gelten, nämlich jene, die vom Volk als Tugenden geschätzt werden: Offenheit und Ehrlichkeit, Ordnung und gesetztreues Verhalten, Bescheidenheit und Sparsamkeit, Fachkompetenz statt Losungen oder flotter Redensarten. Was im Betrieb von jedem Werktätigen gefordert wird, muß auch für die Regierung, für die Staatsorgane insgesamt gelten: Qualitätsarbeit. Wo sie nicht geleistet wird, kann und muß sie durch die Bürger eingefordert werden, auch nachdrücklich und öffentlich. (...)

Unsere Wirtschaft hat Probleme, ihre materiellen Ressourcen sind derzeit begrenzt, ihre Proportionen müssen deutlich verbessert, ihre Grundmittel müssen in vielen Bereichen modernisiert werden. Aber die volkswirtschaftliche Substanz unseres sozialistischen Staates ist kräftig genug und tragfähig für eine Stabilisierung in absehbarer Zeit, um dann aus besseren Positionen in den nötigen Aufwind zu kommen. (...)

Zum Regierungsprogramm gehören Reformen, wie sie auch von den Parteien und anderen gesellschaftlichen Kräften, von vielen Bürgern vorgeschlagen, gefordert, in Umrissen skizziert worden sind. (...) Ich nenne als Wichtiges:

Erstens Reformen des politischen Systems, verbunden mit gesetzgeberischen Schritten, um Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit zu stärken. Dazu gehören insbesondere ein Wahlgesetz ebenso ein Gesetz über den Ministerrat sowie ein Mediengesetz. Änderungsvorschläge für das Strafrecht können relativ bald erfolgen. Das Reisegesetz, eventuell auch Paßgesetz genannt, ist nach geführter Diskussion vorzulegen.

Zweitens geht es um eine Wirtschaftsreform, die zum Ziel haben muß, die Eigenverantwortung der wirtschaftenden Einheiten zu erhöhen, um die Effektivität ihrer Arbeit bedeutend zu vergrößern, die zentrale Leitung und Planung auf das erforderliche vernünftige Maß zu reduzieren sowie -vielleicht ist das die komplizierteste Aufgabe - das Leistungsprinzip mehr und mehr durchzusetzen. Ich schlage vor, die Wirtschaftsreform, ihre Inhalte und Etappen durch spezielle Beratung der Volkskammer und ihrer Ausschüsse unter Anhörung von Sachverständigen zu profilieren. Die sorgfältige, unvoreingenommene Prüfung der Subventions- und Preispolitik ist in diesem Rahmen eine besondere Aufgabe.

Drittens ist eine Bildungsreform erforderlich. (...)

Viertens brauchen wir ein langfristig angelegtes, von Jahr zu Jahr realisierendes -und neu zu prüfendes Programm, das zum Ziel haben sollte, Ökonomie und Ökologie mehr als bisher, in Übereinstimmung zu bringen, wobei ich hinzufügen möchte, daß die DDR auf diesem Gebiet so schlecht nicht ist, wie es - durch unnötige Geheimhaltung den Anschein hatte. Niemandem darf es künftig gestattet sein, geplante Umweltschutzmaßnahmen zu streichen oder zu verschleppen. Dringend notwendig ist ein neues Energiekonzept, das zur Senkung der fossilen Energieträger und des Energieeinsatzes führt.

Fünftens eine Verwaltungsreform mit dem Ziel, die staatliche Leitung und Verwaltung zu demokratisieren, ihre Arbeit überschaubarer zu machen sowie nicht zuletzt den Verwaltungsaufwand finanziell und personell erheblich zu verringern. (...)"

Modrow benennt weitere Details künftiger Regierungstätigkeit und kommt dann auf das deutsch-deutsche Verhältnis zu sprechen:

"(...) Mit der angestrebten, ja bereits begonnenen Reform unseres politischen Systems wird auch der Weg zur Wahrung und Durchsetzung des Selbstbestimmungsprozesses des Volkes der DDR auf neuer Grundlage gegangen. Damit wird die Legitimation der DDR als sozialistischer -Staat, als souveräner deutscher Staat erneuert. Nicht durch Beteuerungen, sondern durch eine neue Realität des Lebens in der DDR wird dem ebenso unrealistischen wie gefährlichen Spekulationen über eine Wiedervereinigung eine klare Absage erteilt.

Die beiden deutschen Staaten haben bei aller Verschiedenheit ihrer Gesellschaftsordnungen eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte. Beide Seiten sollten die hierin liegende Chance begreifen, ihrem Verhältnis den Charakter einer qualifiziert guten Nachbarschaft zu geben.

Indem sich beide deutsche Staaten uneingeschränkt respektieren, können sie zugleich wertvolles Beispiel kooperativer Koexistenz schaffen. Die Regierung der DDR ist bereit, die Zusammenarbeit mit der BRD umfassend auszubauen und auf eine neue Stufe zu heben. Dies gilt für alle Fragen: Sicherung des Friedens, Abrüstung, für Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Umweltschutz, Verkehr, Post- und Fernmeldewesen, für die Kultur, den Tourismus und den umfangreichen humanitären Bereich.

Wir sind dafür, die Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten durch eine Vertragsgemeinschaft zu untersetzen, die weit über den Grundlagenvertrag und die bislang geschlossenen Verträge und Abkommen zwischen beiden Staaten hinausgeht. Dafür ist diese Regierung gesprächsbereit. (...) (ND, 18./19. 11. 1989)

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