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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822

2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

10. November 1989

Das SED-Zentralkomitee beendet seine 10. Tagung. Zu den neugewählten Politbüromitgliedern und -kandidaten wurden, wie es im Kommuniqué der Tagung heißt, "Entscheidungen von Bezirksleitungen der SED und Einwände" bekannt, "die zu dem Vorschlag führten, die Genossen Hans-Joachim Böhme, Johannes Chemnitzer, Werner Walde und die Genossin Inge Lange von ihren Funktionen zu entbinden". Dem Politbüro gehören nunmehr nur noch zehn Mitglieder und drei Kandidaten an.

Der SED-Fraktion der Volkskammer wird empfohlen, das neu ins Politbüro gewählte Mitglied Hans Modrow bei der Neubildung der Regierung für die Wahl zum Vorsitzenden des Ministerrates vorzuschlagen.

Die ehemaligen Politbüromitglieder Günter Mittag und Joachim Herrmann werden aus dem ZK ausgeschlossen.

Es soll eine Kommission gebildet werden, die die Ursachen und die persönlichen Verantwortlichkeiten für die gegenwärtige ökonomische Situation in der DDR untersucht.

Das ZK beschließt das "Aktionsprogramm der SED". Darin spricht sich die SED-Führung im Rahmen der Erneuerung des Sozialismus für eine Reform des politischen Systems, für den sozialistischen Rechtsstaat, für den Schutz der DDR, für umfassende Information und Medienfreiheit, für eine umfassende Wirtschaftsreform, für einen realen Plan 1990, der auf hohe Leistungen orientiert, für die uneingeschränkte Entwicklung der LPG und VEG, für eine großzügige Förderung des Handwerks, für Freiheit und Verantwortung in Kultur und Kunst, für Förderung und Achtung der Wissenschaft, für eine Reform des Bildungswesens, für die erneuerte SED, für eine selbstbewußte Jugend, für die freie Entwicklung der Frauen, für freie und unabhängige Gewerkschaften und für eine Konzeption des modernen Sozialismus aus.

Wenige Stunden nach Abschluß der 10. ZK-Tagung findet im Berliner Lustgarten eine von der Berliner SED-Organisation organisierte Großkundgebung statt, an der nach offiziellen Angaben 150 000 Menschen teilnehmen. Neben allgemeiner Zustimmung zum "Aktionsprogramm der SED" kommt es unter den verschiedenen Sprechern zu Differenzen in der Frage, ob statt der vom ZK beschlossenen Parteikonferenz besser ein außerordentlicher Parteitag stattfinden sollte, damit, wie es der Prorektor der Humboldt-Universität, Prof. Dr. Dieter Klein, formulierte, sich die Partei "von den Füßen bis zum Kopf erneuern kann". Namens der SED-Organisation der Akademie der Künste erklärt Parteisekretär Dr. Rolf Harder, seine Grundorganisation halte die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages für nötig, weil das gegenwärtige Zentralkomitee die bisherige Politik der Parteiführung, die das Land in eine Krise stürzte, getragen habe und daher seine politische und moralische Legitimation in Frage gestellt ist. Der Versuch von Generalsekretär Krenz, die Forderung nach einem außerordentlichen Parteitag zurückzuweisen, stieß auf unüberhörbare Mißfallenskundgebung.

Der Hauptvorstand der CDU wählt mit 92 von 118 abgegebenen Stimmen den 1940 geborenen Berliner Rechtsanwalt Lothar de Maizière zum neuen Vorsitzenden der Partei.

Die Berliner Bischofskonferenz veröffentlicht eine Erklärung, in der die katholischen Bischöfe die Bemühungen all derer begrüßen und rechtsstaatliche Verhältnisse ehrlich bemühen" und rufen "alle katholischen Christen auf, sich am gesellschaftlichen Prozeß der Veränderung aus christlicher Verantwortung zu beteiligen". Weiter heißt es in der Erklärung u. a:

"(...) Wer angesichts der verfahrenen Situation zu einem ernstge­meinten Umbau der Verhältnisse in Staat und Gesellschaft beitragen will, wird sich und seinen Mitmenschen, der SED und den Blockparteien Fragen stellen müssen:

Läßt sich tatsächlich eine Wende zum Besseren verwirklichen, wenn die SED ihren Führungsanspruch aus ihrer Ideologie und nicht aus dem Willen des Volkes, aus freien und geheimen und nicht manipulierten Wahlen ableitet?

Können die Wirtschaft, die Wissenschaft, das Bildungswesen und auch die Verwaltungen effektiv arbeiten, wenn Parteizugehörigkeit und nicht das Wissen und Können für die Übernahme leitender Verantwortung maßgebend sind?

Können die Kinder und jugendlichen wirklich zu freien und mündigen Bürgern heranwachsen, wenn die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus sich einen absoluten Wahrheitsanspruch anmaßt und diesen in den Lehr- und Ausbildungsplänen durchzusetzen sucht?

Kann es wirklich einen Frieden im Innern des Landes geben, wenn er sich vor allem auf die Organe der Staatssicherheit und der Kampfgruppen in den Betrieben stützt und nicht auf eine Ordnung, 'die sich die Bürger in Freiheit selbst gegeben haben?

Wird die Ausreiseflut tatsächlich zu stoppen sein, wenn die neue Reiseregelung die Menschen zum Objekt administrativer Entscheidun­gen durch die Deutsche Volkspolizei macht?

Diese und viele Fragen lösen sich nicht von selbst. Alle müssen sich um Lösungen bemühen. Die Zukunft allein wird zeigen, wie ernst es den Verantwortlichen in Staat und Partei mit der Wende wirklich ist und ob der Wille des Volkes stark genug sein wird, seine in aller Öffentlichkeit und auf den Straßen proklamierten Ziele durchzusetzen.

Ein erstes und glaubwürdiges Zeugnis der Verantwortlichen wäre die volle und öffentliche Rehabilitierung aller, die in den vergangenen Wochen Unrecht erfahren haben.

(BZ, 11./12. 11. 1989)

DDR-Generalstaatsanwalt Günter Wendland schlägt vor, einen zeitweiligen Ausschuß der Volkskammer der DDR zur Untersuchung von Fällen der Korruption und des Funktionsmißbrauchs einzusetzen. Er begründet dies mit zunehmender Zahl von Bürgereingaben, in denen gegen Funktionäre aller Ebenen schwerwiegende Vorwürfe wegen oben genannter Vergehen erhoben werden. Der Vorschlag liege weiter auch darin begründet, daß es voraussichtlich notwendig werde, Entscheidungen über die Rechte der Immunität von einigen Volkskammerabgeordneten treffen zu müssen.

Einige tausend Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR nehmen an einer Willenskundgebung auf dem Berliner Platz der Akademie teil. Zahlreiche Redner fordern, die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre in der Praxis durchzusetzen sowie den Rücktritt von Akademiepräsident Prof. Dr. Scheler.

Das BRD-Innenministerium nennt am Abend die Zahl von rund 55 500 DDR-BürgerInnen die seit Öffnung der Grenze in die Bundesrepublik (ohne Westberlin) eingereist sind.

Aus der CSSR sind innerhalb von 24 Stunden bis Freitag früh 7 000 Übersiedler aus der DDR in die BRD gekommen.

Die Zahl der Westberlin-Besucher aus der DDR kann nicht genau festgestellt werden. Presseberichte sprechen von Hunderttausenden.

Ludwig Mehlhorn schreibt in der illegalen Zeitung der Bürgerbewegung Demokratie jetzt in einem Kommentar u. a.:

Die Mauer ist weg, jedenfalls was den wichtigsten Teil ihrer Funktionen nach innen betrifft. Grund zur Freude für alle, die in den letzten Jahren für das Menschenrecht auf Freizügigkeit mit ihrer Person einstanden. (...) Aber aufgepaßt! Die neue Situation wird die gewaltigen wirtschaftlichen Probleme der DDR weiter verschärfen und soziale Konflikte hervorbringen. Es gibt warnende Stimmen, die ein weiteres Ausbluten der DDR und eine Kolonialisierung in Glanz und Glimmer befürchten, ohne daß wir in diesen Prozessen eine Möglichkeit der Mitsprache haben werden. Andere sehen die Gefahr, wir könnten uns die Demokratisierung des Staates durch Reisen abkaufen lassen. ich möchte diese Kassandrarufe nicht bagatellisieren, meine aber, daß die Chancen größer sind. (...)"

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