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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822

2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

9. November 1989

Der amtierende Ministerrat der DDR beschließt mit sofortiger Wirkung neue Regelungen für Privatreisen und ständige Ausreisen von BürgerInnen der DDR ins Ausland. Damit wird zahlreichen Anträgen, Kritiken und Vorschlägen aus der Bevölkerung entsprochen, die in der öffentlichen Diskussion des Reisegesetzentwurfes unterbreitet wurden.

Die neuen Regelungen sehen vor, daß ab sofort alle Volkspolizeikreisämter Anträge auf Privatreisen in das Ausland, besonders in die BRD und Westberlin, entgegennehmen und kurzfristig entscheiden, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse müssen nicht mehr vorgelegt werden. Gleiches gilt für Anträge zur ständigen Ausreise aus der DDR. Das Visum für Privatreisen wird in den Paß oder, sofern die BürgerInnen noch nicht über einen solchen verfügen, aber die Reise sofort antreten wollen, in den Personalausweis eingetragen.

Die Nachricht über diese Reiseregelung gelangt auf außergewöhnliche Weise an die Öffentlichkeit: Auf der Pressekonferenz über den Verlauf der 10. SED-ZK-Tagung, die live von Rundfunk und Fernsehen übertragen wird, gibt Politbüromitglied Günter Schabowski auf die Frage nach der zukünftigen Reiseregelung bekannt, daß sich ab morgigem Freitag, 8 Uhr, jeder sein Visum bei den zuständigen Behörden abholen kann. Das DDR-Volk verkürzt diesen Termin eigenmächtig: Bereits in der Nacht zum 10. November überqueren Zehntausende visalose DDR-BürgerInnen die Grenzübergangsstellen zur BRD bzw. zu Berlin (West). Nach mehr als 28 Jahren ist die Berliner Mauer wieder für alle DDR-BewohnerInnen durchlässig.

Die 10. SED-ZK-Tagung setzt ihre Beratung fort. Sie beschließt, für den 15. bis 17. Dezember 1989 die 4. Parteikonferenz der SED nach Berlin einzuberufen. Wie es in dem Beschluß heißt, entspricht sie "damit der Forderung in den Grundorganisationen, von Kreis- und Bezirksleitungen, sehr vielen Genossen, Arbeitern, Genossenschaftsbauern und Angehörigen der Intelligenz". Aufgabe der Konferenz sei es, die aktuelle Lage im Land einzuschätzen und Veränderungen im Zentralkomitee zu beschließen.

In einer "Stellungnahme des Neuen Forum zur Bestätigung der Anmeldung" charakterisiert sich die Vereinigung als "Bewegung, die die Erkenntnisse aus dem ehrlichen Dialog als 'programmatische Forderung, Vorschlag oder Konzept in politisches Handeln" umsetzen will. Auf einer Pressekonferenz erklären Bärbel Bohley, Eberhard und Jutta Seidel sowie Michael Göbel zum Charakter des Neuen Forum, es verstehe sich als Bewegung und nicht als politische Partei,

Nach langem Zögern tagt endlich das Präsidium der Volkskammer und beruft zu Montag, 13. November, eine Plenartagung der obersten Volksvertretung der DDR ein.

Nach Angaben von BRD-Innenminister Wolfgang Schäuble haben sich seit Beginn des Jahres 1989 mehr als 225 000 DDR-Übersiedler bei Behörden der Bundesrepublik gemeldet.

Zum ersten Mal werden in der Presse Angaben über die Sehbeteiligung an Sendungen des DDR-Fernsehens veröffentlicht. Die Sehbeteiligung für die "Aktuelle Kamera", die früher kaum eingeschaltet wurde, stieg auf etwa 47 Prozent der Zuschauer.

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