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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822

2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

4. November 1989

Offiziell beantragt und genehmigt, findet in Berlin mit Hunderttausenden Teilnehmern die, wie Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi, einer der 27 Sprecher, feststellt, größte Demonstration und Kundgebung in der Geschichte der DDR statt, die als erste nicht von oben, sondern von unten organisiert worden ist.

Der Aufruf zu dieser Willenskundgebung war von Künstlern der Berliner Theater ausgegangen, denen sich später der Verband der Bilden­den Künstler, der Verband der Film- und Fernsehschaffenden und das Komitee für Unterhaltungskunst anschlossen. In einem Presseinter­view äußern die Mitinitiatoren Wolfgang Holz (Berliner Ensemble), Johanna Schall und Thomas Neumann (Deutsches Theater) über Inhalt und Anlaß der Demonstration und mit ihr verbundener Forderungen u. a.:

"Veränderung hat begonnen, aber unser Mißtrauen ist noch nicht beseitigt. Bisher vollzogene personelle Veränderungen sind unbefriedigend. Die Analyse der Lage unseres Landes, die ehrliche Selbstkritik der politisch Verantwortlichen steht weiterhin aus. Wir sind dafür, daß es weitergeht. Die Menschen in unsrem Land sind wach geworden. jetzt geht es darum, daß sie wach bleiben.

Verfassungsgrundsätze müssen eingehalten, Diskrepanzen zur Gesetzgebung verändert werden. Das Recht muß durchschaubar und für die Menschen anwendbar sein. Rechtssicherheit ist eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung der sozialistischen Demokratie. Uns geht es auch um grundsätzliche Veränderungen in der Medienpolitik, die künftig Machtmißbrauch einzelner ausschließt. Sorgen machen uns die Probleme in der Volksbildung, in der Erziehung junger Menschen überhaupt. (...)" (T, 2. 11. 1989)

Auch das Neue Forum ruft seine Anhänger auf, an dieser Manifestation der Forderung nach Durchsetzung der Paragraphen 27 und 28 der DDR-Verfassung "phantasievoll und gewaltfrei" teilzunehmen. In einem Flugblatt erklärt die BürgerInnenbewegung u. a.:

"(...) Das Neue Forum solidarisiert sich mit dieser Demonstration. Darüber hinaus halten wir folgende Forderungen in diesen Tagen für wesentlich:

- Zulassung des Neuen Forum und eine Zeitung für das Neue Forum,

- Wiederholung der Kommunalwahlen,

- Grundlegende Reform der Volksbildung,

- Rehabilitierung aller politischen Gefangenen, Amnestie als Gnaden­akt reicht nicht aus.

Für eine Erneuerung in unserem Land. (...) Für eine wirkungsvolle und friedliche Umgestaltung in unserem Land! (...)”

Die Sprecher der als Demonstration beginnenden und mit einer Kundgebung von rund 500 000 endenden Veranstaltung auf dem Berliner Alexanderplatz sind: Marion van de Kamp (Schauspielerin), Johanna Schall (Schauspielerin), Ulrich Mühe (Schauspieler), Jan Josef Liefers (Schauspieler), Dr. Gregor Gysi (Rechtsanwalt), Marianne Birthler (Jugendmitarbeiterin der Evangelischen Kirche), Kurt Demmler (Liedermacher), Markus Wolf (Schriftsteller und ehemaliger stellvertretender Staatssicherheitsminister), Prof. Dr. Jens Reich (Neues Forum), Prof. Dr. Manfred Gerlach (Vorsitzender der LDPD), Ekkehard Schall (Schauspieler), Günter Schabowski (SED-Politbüromitglied, ZK-Sekretär, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin), Stefan Heym (Schriftsteller), Friedrich Schorlemmer (Pfarrer), Christa Wolf (Schriftstellerin), Tobias Langhoff (Schauspieler), Annekathrin Bürger (Schauspielerin), Joachim Tschirner (Dokumentarfilmer), Klaus Baschleben (Journalist), Heiner Müller (Dramatiker), Prof. Lothar Bisky (Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen), Roland Freitag (Student), Christoph Hein (Schriftsteller), Robert Juhoras (Student, Ungarn), Konrad Elmer (Theologe), Steffie Spira (Schauspielerin), Henning Schaller (Bühnenbildner).

Rede von Stefan Heym:

"Liebe Freunde, Mitbürger, es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung! Vor noch nicht vier Wochen: Die schön gezimmerte Tribüne, hier um die Ecke, mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten, vor den Erhabenen. Und heute ihr, die Ihr Euch aus eigenem freien Willen versammelt habt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist.

In der Zeit, die hoffentlich jetzt zu Ende ist, wie oft kamen da die Menschen zu mir, mit ihren Klagen. Dem war Unrecht geschehen, und der war unterdrückt und geschurigelt worden, und allesamt waren sie frustriert. Und ich sagte, so tut doch etwas. Und sie sagten resigniert, wir können doch nichts tun. Und das ging so in dieser Republik, bis es nicht mehr ging, bis es soviel Unbilligkeit angehäuft hatte im Staate und soviel Unmut im Leben der Menschen, daß ein Teil von ihnen weglief. Die anderen aber, die Mehrheit, erklärte, und zwar auf der Straße, öffentlich: Schluß, ändern, wir sind das Volk!

Einer schrieb mir - und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen, und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis und später auch.

Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrechtgehen, das ist nicht genug. Laßt uns auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Macht eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparats oder einer Partei. Alle, alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muß unterworfen sein der Kontrolle der Bürger. Denn Macht korrumpiert, und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut. Der Sozialismus - nicht der Stalinsche, der richtige -, den wir endlich erbauen wollen, zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes. Freunde, Mitbürger, üben wir sie aus, diese Herrschaft."

(taz, 9. 11. 1989)

Aus der Rede von Christa Wolf:

"(...) Mit dem Wort ‚Wende' habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot. Der Kapitän ruft, ‚Klar zur Wende?', weil der Wind sich gedreht hat oder ihm ins Gesicht bläst. Und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Aber stimmt dieses Bild noch? Stimmt es noch in dieser täglichen vorwärtstreibenden Lage?

Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen. (...)

Verblüfft beobachten wir die Wendigen. Im Volksmund ‚Wendehälse' genannt, die laut Lexikon sich rasch und leicht einer gegebenen neuen Situation anpassen, sich in ihr geschickt bewegen, sie zu nutzen verstehen. Sie am meisten, glaube ich, blockieren die Glaubwürdigkeit der neuen Politik. Soweit sind wir wohl noch nicht, daß wir auch sie mit Humor nehmen können, was uns doch in anderen Fällen schon gelingt. Trittbrettfahrer zurücktreten!' lese ich auf Transparenten und an die Polizei gerichtet von Demonstranten der Ruf: ‚Zieht euch um, schließt euch an!' Ich muß sagen, ein großzügiges Angebot. Ökonomisch denken wir auch: ‚Rechtssicherheit spart Staatssicherheit'. Und heute habe ich auf einem Transparent eine schier unglaubliche Losung gesehen: Keine Privilegien mehr für uns Berliner.' ja, die Sprache springt aus dem Ämter- ­und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist Traum. Also träumen wir, mit hellwacher Vernunft: Stell' dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg.' Wir sehen aber die Bilder der noch immer Weggehenden und fragen uns: ‚Was tun?' und hören als Echo die Antwort: ‚Was tun?'. Das fängt jetzt an, wenn aus den Forderungen Rechte, also Pflichten werden: Untersuchungskommission, Verfassungsgericht, Verwaltungsreform. (...)"

(taz, 9. 11. 1989)

Aus der Rede von Christoph Hein:

"(...) Hüten wir uns davor, die Euphorie dieser Tage mit den noch zu leistenden Veränderungen zu verwechseln. Die Begeisterung und die Demonstrationen sind hilfreich und erforderlich, aber sie ersetzen nicht die Arbeit. Lassen wir uns nicht von unserer eigenen Begeisterung täuschen' Wir haben es noch nicht geschafft: Die Kuh ist noch nicht vom Eis. Und es gibt noch genügend Kräfte, die keine Veränderungen wünschen, die eine neue Gesellschaft fürchten und auch zu fürchten haben. (...)

Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist! Einen. Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht. Eine Gesellschaft, die dem Menschen angemessen ist und ihn nicht der Struktur unterordnet. Es wird für uns alle viel Arbeit geben, auch viel Kleinarbeit, schlimmer als Stricken. Und noch ein Wort: Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Offenbar glauben viele, die Veränderungen in der DDR sind schon erfolgreich, denn es melden sich jetzt viele Väter des Erfolgs, merkwürdige Väter, bis hoch in die Spitze des Staates. Aber ich denke, unser Gedächtnis ist nicht so schlecht, daß wir nicht wissen, wer damit begann, die übermächtigen Strukturen aufzubrechen, wer den Schlaf der Vernunft beendete. Es war die Vernunft der Straße, die Demonstrationen des Volkes. Ohne diese Demonstrationen wäre die Regierung nicht verändert worden, könnte die Arbeit, die gerade erst beginnt, nicht erfolgen. Und da ist an erster Stelle Leipzig zu nennen. (...) Wir haben uns an den langen Titel ,Berlin - Hauptstadt der DDR' gewöhnt, ich denke, es wird leichter sein, uns an ein Straßenschild Leipzig - Heldenstadt der DDR' zu gewöhnen. Der Titel wird unseren Dank bekunden, er wird uns helfen, die Reformen unumkehrbar zu machen, er wird uns an unsere Versäumnisse und Fehler in der Vergangenheit erinnern, und er wird die Regierung an die Vernunft der Straße mahnen, die stets wach bleibt und sich wieder zu Wort meldet."

(taz, 9. 11. 1989)

Aus der Rede von Markus Wolf:

"(.. ) Es war nicht meine Partei, die Sozialistische Einheitspartei, die mit der Macht der Medien zu dieser Demonstration aufgerufen hätte, es war die fast leise Stimme Berliner Künstler, mit der Forderung nach Freiheit des Worts und der Versammlung. Trotz zunehmend mahnender Stimmen in unseren eigenen Reihen konnten wir nicht verhindern, daß unsere Führung bis zum 7. Oktober in einer Scheinwelt lebte und selbst dann noch versagte, als die Menschen anfingen, mit den Füßen abzustimmen. Das war bitter für uns Kommunisten. Der Fackelzug am Abend des 6. Oktober und die Militärparade am Morgen des 7. wirken heute schon wie ein Abschied von einer längst vergangenen Zeit, und doch liegt diese Zeit erst vier Wochen zurück. Wir dürfen ihre Rückkehr nie wieder zulassen. (...) Hunderttausende Kommunisten, die ehrlich gearbeitet haben, erwarten einen klaren Kurs. Viele haben schon lange um Lösungen gekämpft, haben auch weitreichende konzeptionelle Vorschläge für grundlegende Reformen eines erneuerten Sozialismus gemacht. (...) Nicht durch Pochen auf festgeschriebene Artikel, nur durch Überzeugung und harte, sehr harte Arbeit, kann die ganze Partei ihre Rolle in der neuen Etappe unserer gesellschaftlichen Entwicklung spielen. (...)"

(taz, 9. 11. 7989)

Losungen auf Transparenten der Demonstranten (Auswahl):

Eure Politik ist zum Davonlaufen - Freiheit kann man nicht stimulieren - Macht die Volkskammer zum Krenz-Kontrollpunkt - Wer sich nicht bewegt, fühlt seine Fesseln nicht - Reformen, aber unbekrenzt Mein Vorschlag für den 1. Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei - Volksentscheid zum Führungsanspruch der SED - Wandlitz zeig dein Antlitz - Mindestrente für abgesetzte Funktionäre - Erst Taten, Egon, dann lächeln - Sägt die Bonzen ab, schützt die Bäume - Das Volk sind wir, gehen solltet ihr - 360-Grad-Wende? - Die Demokratie in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf - Kein Artenschutz für Wendehälse - Privilegien für alle - ZK der SED abtreten - Neues Forum zulassen - Rücktritt ist Fortschritt - Es lebe die 1989er Oktoberrevolution - Pässe für alle, Laufpaß für die SED - Mißtrauen ist die erste Bürgerpflicht - Lieber eine Wanze im Bett als eine in der Steckdose Volksauge sei wachsam - Bleibe im Land und wehre dich täglich - Gehen ist Silber, Bleiben ist Gold - Demokratie ja, Chaos nein - Wir sind keine Fans von Egon Krenz.

Präsidium und Beiräte des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR begrüßen in einer Erklärung die eingeleiteten Wandlungen im Land und unterstreichen, daß sie darauf bestehen, "bei der Um- und Neugestaltung des öffentlichen Lebens keine Abstriche an der die DDR von Anfang an bestimmenden antifaschistischen Grundhaltung zuzulassen". Weiter heißt es in der Erklärung u. a.­:

"(...) Die Aufarbeitung von deutscher Geschichte in der bisherigen Form war unzureichend und darf nicht allein eine Angelegenheit von Historikern bleiben. Nazismus und Antisemitismus sind ein Erbe beider deutscher Staaten. Jede deutsche Gesellschaft muß sich stets neu damit auseinandersetzen. (...)

Wir erklären nochmals unsere Unzufriedenheit mit den Bildungskonzeptionen unserer Schulen im Fach Geschichte. Der Stoffplan der 9. Klassen genügt nicht, zwölf Jahre deutsche Geschichte und die in sie eingebettete Judenverfolgung darzulegen. Aber auch Ereignisse aus der DDR-Geschichte müssen angesprochen werden, Diskreditierungen uni Verfemungen von Rückkehrern aus der Westemigration ebenso wie die meist unkritischen Formulierungen über 'zionistische Weltverschwörung' und ‚kosmopolitisches Denken' in den frühen 50er Jahren. Es ist notwendig, so rasch wie möglich die Geschichtsbücher neuzuschreiben.

Eine weitere uns bewegende Frage stellt sich im Zusammenhang mit einer Neuorientierung der Rolle der Medien unseres Landes. Öffentlichkeit und Transparenz können nur verwirklicht werden, wenn nicht länger gesellschaftspolitische Probleme als Staatsgeheimnisse behandelt werden. Antisemitische Ausfälle werden nicht dadurch ungeschehen, daß man ihre Spuren möglichst schnell beseitigt beziehungsweise Verhandlungen gegen gefaßte Täter unter Ausschluß der Öffentlichkeit führt. Wir erwarten, daß über solche Vorfälle - wie schmerzhaft sie auch immer für unser Land sein mögen - offen berichtet und der Gang der Ermittlungen dargelegt wird. (...)"

An die Regierung der DDR wird weiter appelliert, "eine Herstellung und damit Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu Israel trotz der noch vorhandenen konflikthaften Spannungen sofort anzustreben".

(BZ, 6. 11. 1989)

Wie der stellvertretende Innenminister Dieter Winderlich in einem Interview der "Aktuellen Kamera" des DDR-Fernsehens mitteilt, haben in diesem Jahre bereits 91 375 DDR-BürgerInnen ihre ständige Ausreise in die BRD bzw. nach Berlin (West) angetreten.

Alle DDR-Bürger, die sich auf dem Gelände der BRD-Botschaft aufhalten, erhalten die Möglichkeit, sofort mit Sonderzügen oder eigenem Pkw in die BRD auszureisen. 6 000 DDR-BürgerInnen machen von die­sem Angebot Gebrauch. Da Ausreisewillige nach vorübergehender Re­gelung unter Vorlage des Personalausweises die CSSR direkt in Rich­tung BRD verlassen können, nimmt die Prager BRD-Vertretung DDR-­Ausreisewillige nicht mehr auf.

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