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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822  
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

27. Oktober 1989

Der Staatsrat der DDR faßt den Beschluß, daß Personen amnestiert werden, die vor dem 27. Oktober 1989 Straftaten des ungesetzlichen Grenzübertritts sowie der widerrechtlichen Durchsetzung der Ausreise aus der DDR begangen haben. Das gilt auch für Personen, die vor dem 27. Oktober 1989 Straftaten gegen die öffentliche Ordnung im Zusammenhang mit demonstrativen Ansammlungen begangen haben. Von der Amnestie sind Personen ausgenommen, die bei der Tat Gewalt angewandt oder zu Gewalttätigkeiten aufgefordert, Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet, Waffen mitgeführt oder gefährliche Mittel oder Methoden angewandt haben.

Der Ministerrat der DDR beschließt, die zeitweilige Aussetzung des paß- und visafreien Reiseverkehrs für BürgerInnen der DDR nach der CSSR ab 1. November 1989 aufzuheben. Der Grenzübertritt kann wie vor dem 3. Oktober 1989 wieder mit einem gültigen Personalausweis der BürgerInnen der DDR erfolgen.

Eine unverzügliche Stellungnahme der Volkskammer der DDR zur Lage im Land, wozu das Gremium einberufen werden soll, verlangt die FDJ-Fraktion der obersten Volksvertretung. In einem Gespräch mit Volkskammerpräsident Horst Sindermann äußern Fraktionsvertreter die Ansicht, dies könne ein erster Schritt sein, Glaubwürdigkeit und Autorität der 500 Abgeordneten gegenüber den BürgerInnen wiederzuerlangen. Die Fraktion stellt sich gegen die Auffassung Sindermanns, das Plenum solle erst tagen, wenn Maßnahmen zu Veränderungen verabschiedet werden können. Als Ursache für Vertrauensverlust nennt Sindermann in dieser Begegnung Fehle., in der Wirtschaft und im Umgang mit BürgerInnen. Man müsse überlegen, wie das Neue Forum und die SDP in den Dialog einbezogen werden, soweit sie sozialistische Positionen stärken können.

Die Bürgerbewegung Demokratie jetzt fordert einen Volksentscheid: "Die Zeit drängt. Das Volk soll entscheiden. Wir brauchen Demokratie für unser Land jetzt.

Wir fragen: Gibt es für den Führungsanspruch der SED, auf den Egon Krenz schon wenige Minuten nach seiner Wahl zum Staatsratsvorsitzenden der DDR verwies, einen klaren Auftrag der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes?

Wir meinen: Sozialismus sollte auf dem Mehrheitswillen der Bürgerinnen und Bürger und nicht auf der festgeschriebenen Führungsrolle der SED beruhen. Sozialismus hört mit dem Ende solcher Vorherrschaft nicht auf. Er fängt mit lebendiger Demokratie an.

Wir fordern: Demokratische Willensbildung ohne festgeschriebene Führungsrolle der SED.

Darüber rufen wir zu einem Volksentscheid 1990 auf."

In einem Entwurf zur Diskussion formuliert das Präsidium des Hauptvorstandes der CDU unter dem Titel "Was wir wollen und brauchen: Reformen und Erneuerung -- Vertrauen und neue Kraft' Positionen der Partei zu Gegenwart und Zukunft. Die CDU bezeichnet sich darin als eine Partei der DDR, von Christen unterschiedlicher Konfession, des Sozialismus, des Friedens, des Humanismus und geistiger Weite. Sie fordert u. a. ein öffentliches Leben mündiger Bürger ohne Gängelei und Bevormundung; eine lebendige Demokratie, "deren Wahlsystem dem Grundsatz allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Wahlen entspricht, im Sinne der Durchschaubarkeit und Entscheidungsmöglichkeit für die Bürger weiterentwickelt wird und in der die Amtszeit bei Wahl in Führungsfunktionen begrenzt wird"; Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit; keine, Einmischung in die Angelegenheiten der Kirche; eine von Vielfalt der Meinungen und Wahrhaftigkeit gekennzeichnete Medienpolitik; eine effektive Wirtschaft, die nach Leistungen bewertet und am Markt orientiert ist ' - ein Bauwesen, das ein Programm für die Erhaltung und Sanierung der Städte entwickelt und zügig verwirklicht; eine Land- und Nahrungsgüterwirtschaft, in der Pflanzen- und Tierproduktion wieder zusammengehören,- mehr Möglichkeiten für kundenfreundliche Händler und Handwerker; volle Offenheit für die Daten im Umweltschutz; ein vorbildliches Gesundheitswesen und hohe soziale Sicherheit für alle Bürger, eine Bildungswesen, das in Zielen und Methoden christliche Auffassungen respektiert; eine geistig freie und weite Kultur und Kunst, in der alle humanistischen Positionen Platz haben.

(NZ, 28. 10. 1989)

Auf der Xl. Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs fordert Landesbischof Christoph Stier, "die Politiker beim Wort" zu nehmen und den Prozeß der demokratischen Entwicklung in der DDR unumkehrbar zu machen. Das Mißtrauen im Volk sitze tief, betont er.

In einem Presseinterview äußert der DDR-Reformer Wolfgang Berghofer Gedanken, die über die offiziellen Parteierklärungen weit hinausgehen. Unter anderem erklärt er:

"( ... ) Wenn wir Vertrauensverluste erlitten haben, müssen wir als erstes den anderen Vertrauen entgegenbringen. ( ... ) Dialog, das heißt zuhören. ( ... ) Das heißt In-sich-Gehen, über sich nachdenken, auch innerlich die Wende vollziehen, die notwendig ist, sonst machen wir nur im neuen Etikett das Alte weiter. Wenn wir sagen, wir haben nicht das Monopol auf Wahrheit, dann müssen wir auch danach handeln. ( ... ) Die Menschen, die kein Gehör gefunden haben, sind auf die Straße gegangen, um sich zu artikulieren. Und das machen wir nicht von heute auf morgen rückgängig. Das passiert erst dann, wenn gravierende Änderungen im Leben der Menschen spürbar werden. ( ... ) Wir können doch nicht so tun, als gäbe es hier nicht Gruppen, die mit den bestehenden Strukturen nicht einverstanden sind, Wir reden doch auch mit der ‚Gruppe der 20' im Rathaus.

(BZ 28./29. 10. 1989)

Von den rund 2 400 Anträgen auf ständige Ausreise aus der DDR, die BürgerInnen der DDR aus der Warschauer BRD-Botschaft stellten, sind derzeit 1 470 mit entsprechenden Dokumenten beantwortet worden, teilt der Leiter der Konsularabteilung der Warschauer DDR-Botschaft mit. Auch die anderen Anträge werden zügig bearbeitet.

In folgenden Städten demonstrieren Bürger für Veränderungen im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes: Karl-Marx-Stadt - 10 000, auf ihren Transparenten steht u. a.' "Wir wollen Taten sehen"; Dresden - 12 000,- Lauchhammer - 3 500, Großräschen über 1 000- Saalfeld - 8 000, Güstrow - 20 000, sie fordern die Zulassung des Neuen Forum.

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